Jürgen Kuhlmann

MIRJAM ODER SOPHIA?

Skizzen zu einer Stereo-Mariologie

1) DIE KRISE DER MARIENVEREHRUNG

Wie Jesus, steht auch seine Mutter in einem Stereo-Doppellicht. Zahlreichen heutigen Christen, auch katholischen, ist die überlieferte Marienverehrung fremd geworden. Nur mit geistlichem Bauchweh sprechen sie im Glaubensbekenntnis das »geboren von der Jungfrau Maria« mit. Daß Jesu Y-Chromosom extra aus dem Nichts geschaffen worden sei - ein derart massives Eingreifen des Schöpfers gegen seine Naturgesetze wollen sie nicht glauben und sind überzeugt, Ihn mit solcher Weigerung besser zu ehren als die naiven Altgläubigen. Maria ist für sie eine Jüdin mit schwerem Schicksal, das sie bewundernswert tapfer getragen hat, ein echter Mensch. Die süßlichen Lieder der Maiandachten ihrer Kindheit wollen viele bejahrte Katholiken nicht mehr singen; erst recht würden sie sich schämen, wenn ihre protestantischen oder unkirchlichen Freunde wüßten, was alles da und dort selbst heute noch in marienfrommen Kreisen gebetet und gesungen wird.

2) MARIA IKONE DER GÖTTIN

a) Ende des himmlischen Patriarchats

Derzeit geht das Patriarchat zu Ende, nicht alleinerziehend will der himmlische Vater sein. Die Mutter gehört dazu. Denn Gott ist Familie. Warum haben wir das so deutlich nicht im Religionsunterricht gelernt? Ich meine die Frage nicht geschichtlich; da wäre sie mehr für Spezialisten interessant. Sondern: Wie können wir verstehen, daß diese wichtige Glaubenswahrheit in der offiziellen Kirchensprache nur indirekt, sozusagen versteckt vorkommt? Familien-Erfahrenen leuchtet die Antwort ein: Nicht jede Wahrheit einer Teilbeziehung paßt ins öffentliche, gemeinsame Gespräch. Manches, was zwei Schwestern zu besprechen haben, ist nicht für die Ohren der Eltern bestimmt, und umgekehrt.

Vor demselben Problem steht, innerhalb der Menschheitsfamilie, die Christenheit. Daß Gott Familie ist, wurde bisher kaum gesagt; klingt es doch allzu mißverständlich nach Vielgötterei, und das müßte die Ohren unserer jüdischen oder muslimischen Glaubensgeschwister noch schlimmer kränken, als die geheimnisvolle Rede von der Dreifaltigkeit es seit jeher tut.

Eine Wahrheit aus Liebe zu verschweigen ist jedoch nicht immer möglich, schon gar nicht in der einen Welt von heute. Wie vor Juden und Muslimen, müssen wir Christen unsere Worte auch vor den Indiovölkern in Mittel- und Südamerika verantworten. Sie aber verehren immer schon das Göttliche Paar. Ein Franziskaner, der lange Jahre mit dem Indio-Bischof Proaño zusammengearbeitet hat, berichtet: »Beim Volk der Kuna (in Panama) ist Gott Mann und Frau zugleich, Paba und Nana, Vater und Mutter ... Paba allein ist noch nicht Gott, und Nana allein ist nicht Göttin, beide zusammen erst sind Gott. Ihre Beziehung zueinander ereignet sich von gleich zu gleich. In der Zweiheit der Person Gottes erscheint sein väterliches und mütterliches Antlitz zugleich« [E. Rosner, Der Traum von einer indianischen Kirche (S. 20). Nr. 60 (1995) der Schriften der Missionszentrale der Franziskaner (Postfach 200953, D-53139 Bonn)].

Nicht selbst Mensch geworden ist in unserer Heilsgeschichte die Göttin, wohl aber hat Sie Maria zu ihrer lebenden Ikone auserwählt, damals in Nazaret und auch später oft, z.B. 1531 in Guadalupe, als »die indianische Himmelskönigin in der Nähe der Stadt Mexiko einem armen Indio namens Juan Diego erschien ... Vom Tepeyac-Hügel aus (wo das alte Heiligtum des mütterlichen Aspekts Gottes unter dem Namen Tonantzin stand) künden Musik und Gesang (was den Nahuatl zufolge auf eine göttliche Offenbarung hinweist) den Beginn einer neuen Zeit an. Juan Diego erklimmt den Hügel ... und erblickt eine wundervolle Frau, deren Kleid wie die Sonne strahlt (bei den Nahuatl ein Hinweis auf Gott) ... Zum Gott der Christen tritt der weibliche Aspekt hinzu, während dem Gott der Indios der personale Aspekt hinzugefügt wird in einer tiefen Bereicherung beider ... So wie der Osten und der Westen ihre theologischen Traditionen haben, so wird auch die neue Welt ihre eigene haben. Die Armen Gottes werden uns zu unverhofften faszinierenden Einsichten in das Mysterium Gottes zu führen vermögen« [Virgil Elizondo, Maria und die Armen, CONCILIUM 19/1983, 642. 645].

Wenn wir unsere Verantwortung vor dem Glauben auch dieser Völker bedenken, die nicht minder als wir von Gott geschaffen und erleuchtet sind, dann erscheint die Rede von der »Heiligen Geistin« (beim Hamburger Kirchentag 1995) in der Sache gar nicht so lächerlich, wie sie für Sprachbewußte allerdings bleibt. Ich ziehe (privat) »die Heilige Gischt« vor. Daß für Jesus - kraft der Grammatik seiner Muttersprache - der Heilige Geist kein ER (und auch nicht, wie das griechische »Pneuma«, ein ES), sondern eine SIE war, ist kein Beweis, aber doch ein hilfreicher Hinweis auf die Wahrheit des Glaubens an die Göttin-Mutter.

b) Gott ist Familie

Läßt sich verstehen, wie die Rede von der göttlichen Familie nicht gegen den jüdischen und islamischen Glauben verstößt, und wie zugleich unser Bekenntnis zum einen Gott sich mit der Verehrung jener Indios für Göttin und Gott verträgt? Das Mißverständnis nach außen können wir vermutlich nie ganz vermeiden; doch sollen Christen miteinander, und jeder für sich, wenigstens ahnen, wie wir der Herzenswahrheit sowohl unserer nahöstlichen wie unserer mittelamerikanischen Mitmenschen gerecht werden können. So ausgeschlossen das scheint: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich.«

Wir lesen im katholischen Weltkatechismus (Nr. 2205): »Die christliche Familie ist eine Gemeinschaft von Personen, ein Zeichen und Abbild der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist.« Innige Gemeinschaft von Personen, das ist auf irdisch-alltägliche Weise die Familie, auf unendlich-ewige Weise ist es die Heiligste Dreifaltigkeit. Bei ihr ist die Gemeinschaft der Personen so unfaßbar vollkommen, daß ihr Zueinander von keinerlei Auseinander gestört wird. Deshalb bedeuten die Beziehungen der Personen trotzdem keine Vielheit in Gott, erst recht keine Vielgötterei, vielmehr bekennen wir Christen des einzigen Gottes lautere Einheit ebenso fest wie Juden und Muslime auch, und können trotzdem, anders als diese, zugleich die Beziehungen der göttlichen Personen zueinander preisen und uns deshalb dankbar freuen: Auch als Familie sind wir Menschen Gottes Bild, denn Gott ist Familie.

Natürlich behauptet niemand, daß wir begreifen können, wie so etwas möglich sei. Im Gegenteil ist Gottes Unbegreiflichkeit in allen Kirchen ein unbezweifeltes Dogma. Auf der Erde stehen gewissermaßen die beiden Pfeiler der Glaubensbrücke. Auf der einen Seite erhebt sich die Einheit des geistigen Bewußtseins, wie sie jeder Mensch in sich erlebt. Ich bin ich und weiß mich als ein Selbstbewußtsein, ob ich den Schnee vor dem Fenster rieseln sehe, die Uhr ticken höre oder mit dem Fuß den festen Boden spüre. Die Gegensätzlichkeit, wechselseitige Versperrtheit der drei Erfahrungen (dem Auge tickt nichts, unhörbar ist der Boden) spaltet nicht die reine Einheit meines Selbstgefühls: MICH weiß ich in allen als ganz denselben. Ähnlich lebt tief in uns allen, egal wie fremd wir einander sind, das eine unendlich einfache Selbstbewußtsein, das wir Gott nennen. Solche Gewißheit verbindet jüdische und islamische Mystiker mit den christlichen; sie ist der eine Pfeiler der Glaubensbrücke.

Auf der anderen Seite ragt das Zueinander gegensätzlicher Personen auf, wie wir es in der Familie erfahren. Beide Pfeiler sind uns vertraut. Die geistige Brücke freilich, die beide verbindet, sie führt, uns unsichtbar, durch die Wolken des Himmels. Wie derselbe Gott ein einziges Bewußtsein ohne Vielheit und zugleich das Zueinander unendlicher Beziehungspole ohne Verschmelzung sein kann, das begreift kein Verstand.

Aber die glaubende Vernunft kann es ahnen. Denn an beiden Pfeilern ist, zu unserer Belehrung, je ein Bild der ganzen Brücke angebracht. Jedes Einzelbewußtsein enthält auch in sich selbst schon Spuren personhafter Gegensätze. Sagt die Frau vor dem Spiegel: ich finde mich schön, so enthält das mich schon einen Gegensatz zum ich, fast so etwas wie ein du; das wird vielleicht, wenn sie morgen einen Kater hat, auch ausgesprochen: meine Liebe, wie schaust du denn aus! - Umgekehrt erlebt eine Familie, wenn am Wohnküchentisch mitsammen gelacht wird, zuweilen Momente solcher Einheit, daß jeder Person Bewußtsein vom gleichen Inhalt erfüllt ist. - Wenn wir nun das eine Bewußtsein, das sich vor dem Spiegel duzt, mit der Beziehung vergleichen, die sich in dir, mir und uns desselben Inhalts bewußt ist: dann begreifen wir zwar immer noch nicht, wie Gott zugleich ein Bewußtsein und die Beziehung gegensätzlicher Personen sein kann; wir können aber ahnen, warum die unendliche Vollkommenheit gerade im Zusammenstimmen dieses scheinbaren Widerspruchs besteht. Und wir sehen eines ein: wie dumm jemand daherredet, der den Dreieinigkeitsglauben für Unsinn erklärt, weil eins doch nicht zugleich drei sein könne. Kurz: Daß Gott drei-einig ist, glauben wir; wie Gott das ist, begreifen wir nicht, können es aber - dank geistiger Erfahrungen - dunkel ahnen und deshalb wissen, daß dieser Glaube nichts Vernünftigem widerspricht.

c) Glaube an göttliche Beziehungen stützt die menschlichen

Die Familie ist ein Bild des göttlichen Lebens, weil Gott selbst Familie ist. Was folgt daraus für unsere Familien, Tag um Tag? Schmecken die Spaghetti anders, wird der Englisch-Fünfer besser verkraftet, der Ehestreit vernünftiger bewältigt, wenn Mutter, Vater und Kind von der Würde ihrer Familie wissen? Das klingt unwahrscheinlich, und doch ist es so. Denn mit dem Sinn des Lebens ist es wie bei der Bildergalerie in einem Schloß. Im Treppenhaus hängen die weniger wertvollen Bilder, das kostbarste aber, ein weltberühmtes Meisterwerk, findet sich in einem eigenen Raum mit Panzerglasfenstern, Klimaanlage und Alarmsystem. Macht der Ort einen Unterschied? Normalerweise nicht. Wohl aber bei einem Einbruch. Und wenn ein Orkan das Schloß überfällt, dann werden die minder geschützten Bilder vielleicht durchnäßt, gar fortgewirbelt, während die Familie sich vor dem besonderen Bild versammelt, weil sie sich da in Sicherheit fühlt.

So ähnlich merkt eine Familie meistens nichts davon, daß sie ein Bild Gottes sein darf. Stürmt aber eine Krise auf sie ein, dann brauchen die Menschen einen Halt. Der fehlt solchen, für die ihre Familie nichts als ein biologischer Zufall ist, der von aktuelleren Zufällen verdrängt wird. Wozu ein neues Glück opfern, wenn doch alle Beziehungen sowieso bloß flüchtige Gefühlsreaktionen sind? Und schon entführt und zerfetzt der Sturm das ungeschützte Bild.

Anders, wenn eine Familie sich als unschätzbar wertvolles Bild der allerwirklichsten göttlichen Familie weiß. In solcher Gewißheit finden ihre Mitglieder Halt gegen den Sturm. Sie verlassen sich auf Gott, weil sie glauben: »ER hat uns der Macht der Finsternis entrissen und ins Reich des Sohnes Seiner LIEBE versetzt« (Kol 1,13). So heißt dieser wunderbare Satz wörtlich; die Einheizübersetzung »seines geliebten Sohnes« zerstört eine Feinheit, auf die es gerade beim Thema Familie ankommt. Denn Gottes Liebe zu seinem Kind und zugleich dessen Gegenliebe zum Vater ist das göttliche WIR=EINS in Person, der Heilige Geist, die sich schenkende Zartheit. Vater, Liebe und Kind, diese drei sind eins im Himmel. Und auch auf Erden, solange eine Familie sich in allen Stürmen an ihrem ewigen Grund festhält.

Das kann sie, selbstverständlich, auch dann tun, wenn sie ihn nicht ausdrücklich kennt: keineswegs nur Christen leben in gelingenden Familien. Weil wir Menschen uns aber nach Klarheit sehnen, deshalb ist es für Christen ein Grund sowohl zur Dankbarkeit als auch zu bewußterer Verantwortung, daß sie im Glauben einen Blick ins Herz der Wirklichkeit tun dürfen und dort den Urquell des Beziehungsreichtums finden, der unser Familienleben erfüllt: Bejahung und aus ihr erblühendes Selbstvertrauen, Rechtleitung und Gehorsam, Hingabe und Liebesglück. Was wir füreinander empfinden, wird von Hormonen und Nervenreizen zwar mitbestimmt, stammt jedoch nicht aus dem Staub der Erde der wir auch sind, vielmehr aus dem Schöpferhauch, der uns beseelt. Göttliche Komplementaritäten vollziehen sich in uns, von ewiger Energie knistert unser alltägliches Zueinander. Und das nicht nur an sonnigen Tagen. Denken wir an Jesu Gebet am Ölberg. »Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe« - wo ein Familienleben gerettet wird, weil ein Mensch in leerer Treue solchen Verzicht übers Herz bringt, da lebt in ihm der Gehorsam des göttlichen DU.

Es kann aber auch der Moment kommen, wo Jesu selbstbewußtes ICH sich gegen die Ansprüche verdorbener Abhängigkeit durchsetzt, weil es sich vom wahren Gott tief innerlich bejaht weiß: »Den Alten ist gesagt worden, ICH aber sage euch ...« Wenn es z.B. um die Wahl seines Berufes geht, darf ein erwachsenes Kind nicht mehr gehorchen, sonst verliert der Mensch wertvolle Jahre, bis er schließlich doch den eigenen Weg gehen muß. Schuld sind daran aber weniger die Eltern (sie meinen es gut, können nicht anders als aus ihrer Sicht urteilen), vielmehr die dumme, unreife Fügsamkeit des jungen Menschen, der nicht begreifen will, was die Stunde ihm geschlagen hat. Wann Gehorsam vor DIR, wann Protest des ICH und wann EINS-Harmonie dran sei, kann durch noch so gescheites Denken nicht ausgerechnet werden, das finden wir nur im Gebet.

3) DAS GEHEIMNIS DER SOPHIA

a) Die Person der geschaffenen Weisheit

Ikone der wahren Göttin Mutter zu sein ist Marias Höchstes – nicht aber ihr Eigenstes. Jede Mutter ist eine solche Ikone. Marias Eigenname »Begnadete« (Lk 1,28) weist auf ein anderes Geheimnis hin. Es ist noch in keiner Konfession offiziell dogmatisiert. Doch ist der Glaube an Maria als persönliche Erscheinung der geschaffenen Gnade seit Jahrhunderten in inneren Kreisen der Kirche lebendig. Nur wer diesen Glauben kennt und versteht, kann den wahren Sinn katholischer oder orthodoxer Marienfrömmigkeit erfassen und wird einsehen, daß sie das Gegenteil von Kreaturvergötzung ist.

»Sophia« ist das griechische Wort für Weisheit. Während sie den alten Griechen und allen »Philosophen« als menschlicher Charakterzug gilt, tritt die Weisheit in den sogenannten Weisheitsbüchern am Ende des Alten Testaments als freundlich handelnde Person auf. Meinen diese Texte eine wirkliche Person oder verwenden sie das Stilmittel literarischer Personifizierung? Um diese Frage geht es. In einer ebenso alten wie lebendigen Tradition mitlebend, bezeuge ich meinen Glauben an SOPHIA als himmlisch wirkliche und in Maria echt menschliche Person. Folgendermaßen kommentiert der katholische Ostkirchenkundler Albert Rauch ihr Auftreten schon in den biblischen Weisheitsbüchern:

Da ist die Rede davon, daß von Gott »am Anfang vor aller Zeit« eine Schöpfung geschaffen wurde, die ganz rein und heilig vor Gott steht, als Geliebte Jahwes und als Baumeisterin des Alls. Daß diese reine und ganz Gott hingegebene Schöpfung alles durchdringt und belebt, daß sie das All durchwaltet und Wohnung nimmt in allen und allem. Daß sie besonders den Menschen geschenkt wird und im heiligen Volk Gottes und auf Sion eine Wohnstätte gefunden hat, und von Generation zu Generation übergeht in heilige Seelen. Diese reine und gute Schöpfung ist nie gefallen, ist nie zur »massa damnata« und zur »natura totaliter corrupta« (Augustinus) geworden. Ja derselbe Augustinus sieht sie als die »Geschaffene Weisheit«, über die er u. a. im 12. Buch seiner »Bekenntnisse« nachdenkt: »sie ist vernunftbegabtes Geschöpf, und obwohl Dir, dem Dreifaltigen Gott nicht gleich-ewig, so hat sie doch an Deiner Ewigkeit Anteil bekommen, ihre Vergänglichkeit ist durch die stete Kontemplation Deiner Herrlichkeit aufgehoben« … und Augustinus spricht mit ihr: »O lichtes, schönes Haus, ich liebe Deine Zierde, den Ort der Wohnung meines Herrn, Deines Schöpfers und Besitzers. Auf Dich hin walle ich in meiner irdischen Wallfahrt: und ich sage Ihm, der Dich gemacht hat, daß Er auch mich in Dir besitze, der auch mich geschaffen hat« (Conf. lib. XII c. 15).

Die großen Mystiker des Westens (Hildegard von Bingen, Jakob Böhme, Anna Katharina Emmerich) und des Ostens (Solowjew, Florenskij, Bulgakow) sehen diese Weltseele gleichsam in menschlicher Erscheinung im Bild der Sophia ? Mutter Gottes ? Kirche.

b) Wie ich von Ihr erfuhr

Die hier zitierten Sätze von Augustinus vernahm ich voller Staunen zuerst an einem Sommernachmittag der späten Fünfziger Jahre im Park der Germanikervilla San Pastore, aus dem Mund unseres verehrten Spirituals P. Wilhelm Klein SJ. Sein Glaube an Sophia begeisterte die einen Studenten, läßt andere bis heute kalt. Ziemlich entsetzt waren die zum Beispiel, als beim Besuch eines protestantischen Theologen nach dem (damals noch gar nicht selbstverständlichen) gemeinsamen Vater Unser mitten ins ökumenisch-weihevolle Schweigen hinein die tiefe Stimme des alten Spirituals mit der vertrauten - jetzt aber scheinbar höchst unpassenden - Fortsetzung erklang: Gegrüüüßet seist du, Maria - Vom ersten Buch der Bibel (Ihr Sproß wird dir - der Schlange - den Kopf zertreten) bis zum letzten (die Frau, mit der Sonne umkleidet) sprach die ganze Heilige Schrift ihm von Maria: gegen den zerspaltenden Dia-bolos ist sie Gottes sym-bolische Energie, an der Anteil hat, wer in der Gnade lebt.

Am Vorabend des 8. Dezember 1959 stimmte P. Klein uns auf das Fest der Unbefleckten Empfängnis Marias ein: ... Im Anfang, wo aus des Elends tiefstem Grund erst die Möglichkeit der Sünde ist, da kommt das Wort der Liebe des Vaters: Es werde Licht. Und es ward Licht, und Gott sah, daß das Licht gut war, die anfängliche Schöpfung, die Urschöpfung, das Geschöpf Seiner Liebe, ohne Makel. Licht geschaffen, licht bewahrt gegen die sich erhebende Finsternis. Es schied Gott das Licht gegen die Finsternis. Das Urgericht. Die Unbefleckte liebt, der Widersacher haßt ...Am Anfang Seiner Wege, am Anfang und vor den Zeiten, in jenem erschaffenen Anfang war und ist das ewige Wort, das Wort zu Gott dem Vater, pros ton Theon im unaussprechlichen Hauch des ewigen Liebesgeistes ... Dieses ewige Wort war im Anfang in der unbefleckten Schöpfung. Alles ist durch das Schöpfer-Wort des Schöpfer-Vaters durch den Schöpfer-Geist geschaffen. Allem voran dieses erste Geschöpf Seiner Liebe. Kein Zweifel, die Immaculata ist Geschöpf, ganz Geschöpf, bis in ihr innnerstes Herz unbeflecktes Geschöpf, unbefleckte Tochter des Vaters im Sohn durch den Heiligen Geist ...

Wir stecken tief im Sumpf der Sünde und des Todes. Aber die Immaculata haben wir nicht vernichten können. Der Teufel nicht und wir erst recht nicht. Wir können auch mit dem Aufgebot der ganzen Hölle nicht zunichte machen, daß wir vom unendlich liebenden Vater geschaffen sind und daß die Liebe bleibt. Er kann gar nicht anders, als uns Maria zu lassen, da Er sie geschaffen hat. Er kann sie nicht aus der Schöpfung brechen ...

Was hat Lukas gewußt vom Immaculata-Geheimnis, als er schrieb, Lukas, der »liebe Arzt« (Kol 4,14) und treue Freund des Paulus? Der Hl. Geist hat alles gewußt; Lukas war ein armer, versuchter Mensch, wie wir alle sind, und wie Paulus und Augustinus und Bernhard und Thomas, und viele vor 1854. Vielleicht hat Lukas nie im Leben Jesus von Nazareth gesehen, vielleicht auch Maria von Nazareth nie gesehen, genauso wenig wie wir, und er hat im ersten christlichen Jahrhundert in seinem Wissen vom Geheimnis Jesu und Mariens, menschlich gesprochen, längst nicht das gehabt, was das zweite, dritte, zwölfte, zwanzigste Jahrhundert [haben wird], was da der Hl.Geist ausdrücken wird in der Kirche für jedes katholische Kind ... Im Fleisch lesen wir, was Lukas im Fleisch geschrieben hat, und wenn wir das nach dem Buchstaben, im Fleisch lesen, dann steht da vom Geheimnis der Unbefleckten Empfängnis kein Wort, kein Sterbenswort, wie wir sehr bezeichnend richtig sagen. Wenn wir es aber nach dem Geist, d.h. in der Kirche lesen, dann steht das Wunder aller Wundergeschöpfe des ewigen Schöpfers vor uns, richtiger gesagt in uns, die Immaculata. Ihre Erschaffung, ihre Erhebung, ihre Vorerlösung, Ersterlösung, Ganzerlösung. Gottes Wort sprach: es werde Licht. Und es ward Licht.«

c) Versuch einer theologischen Erklärung

Wie paßt dieser esoterische Glaube ins überkommene christliche Denken? Der folgende Vorschlag ist ein tastender Versuch.

Kraft und in seiner Phantasie etwas schaffen, was es ohne sie und außer ihr nicht gibt: auch das ist eine - Gottes würdige - reine Vollkommenheit, auch wenn das Geschaffene notwendigerweise endlich, vielfach und unvollkommen ist. Aus der Wirklichkeit folgt die Möglichkeit. Es gibt uns Geschöpfe, also kann Gott schaffen, also ist Schaffen göttlich, also kann der eine Gott sich auf die Vielheit der Geschöpfe beziehen. Sind diese nur Vielheit? Hat wirklich jede Kreatur ähnliche Kreaturen neben sich? Ist jede bloß ein Geschöpf, das auch weggedacht werden kann? So ist es nicht. Eine gibt es, die steht dem Schöpfergott mit ewiger Notwendigkeit gegenüber. Wer? Sie: die Möglichkeit, geschaffen zu werden. Ohne sie kann Gott nicht sein; schaffen können, das muß er. Und sie hat keine ähnliche Kreatur neben sich, denn sie umfaßt alles Schaffbare. Weil der Schöpfer uns, in ihr, tatsächlich erschaffen hat, deshalb können wir fragen: wie heißt sie?

Sie ist zwar nicht göttlich, besteht eben in ihrer Beziehung zum einen Gott, ist aber auch nicht bloß eines der vielen Geschöpfe, sondern die Schaffbarkeit sowie - dank dem göttlichen Schöpfungs- und Heilsratschluß - auch die reine Schöpfung und Vergottetheit in Person, als solche nie gefallen, vor jeglicher Sünde bewahrt, sonst wäre Gottes Schöpfung gescheitert, das war sie nie. »Maria ist ganz auf Gott bezogen und ich möchte sie treffend die Beziehung Gottes nennen, die nur durch Bezug auf Gott ist, oder Gottes Echo, das nur Gott sagt und wiedergibt. Wenn Sie Maria sagen, sagt sie Gott« [In so philosophischer Sprache wird Maria von dem armen bretonischen Leutpriester Louis-Marie Grignion de Montfort (1673-1716) gerühmt. Sein lange verschollenes Manuskript »Traité de la vraie dévotion à la sainte Vierge« tauchte erst 1842 wieder auf, 1942 wurde in Rom eine Fotokopie veröffentlicht. Auf S. 132 (Nr. 225) findet sich dieser Text: »Marie est toute relative à Dieu et je l’appelerois fort bien la relation de Dieu, ou l’écho de Dieu qui ne dit et ne repete que Dieu. Si vous dites Marie elle dit Dieu«]. Innerhalb dieser reinen Relation, dem von Augustinus angesprochenen »lichten Haus« mit Gottes vielen Wohnungen, sind wir, die Vielen, geschaffen und zur Vergottung bestimmt. Als Mittlerin aller Gnaden ist sie mit den göttlichen Beziehungen erfüllt und lebt sie auch in uns.

Schön ist, was eine Vielheit (von Farben, Klängen, Rhythmen usw.) zur Einheit versammelt. Der all-einfache Gott in sich ist eins, wahr und gut. Schön ist aber erst die bunte Schöpfung. Deshalb muß sie aber nicht nur vielfach, sondern auch eins sein. Ist sie ihrem Schöpfer so sehr gelungen, daß sie im höchsten Sinn eins ist, nämlich sogar eine Person, die folglich auch einen Namen hat?

Daß der Schöpfer Person ist, können wir als Geschöpfe nicht wissen (so wenig Aida ihren Schöpfer Verdi kennt), der Christ glaubt es aber dank der Selbstoffenbarung des Schöpfers in Jesus. Ist auch die Schöpfung eine Person? Ist sie zuinnerst vom Duft eines Namens durchhaucht, ähnlich wie etwa eine Klaviersonate, die Robert Schumann für seine geliebte Clara schrieb? Mit vielen Christen bin ich überzeugt: ja. Ein prachtvolles Buch stellt sie vor, in einer Fülle von Bildern und Texten [Thomas Schipflinger, Sophia - Maria. Eine ganzheitliche Vision der Schöpfung, München-Zürich 1988, mit einem Foto von P. Klein im 100. Lebensjahr. Ihm ist das Werk gewidmet. Auf S. 11 finden sich die oben zitierten Sätze des Herausgebers Albert Rauch]. Als Mirjam von Nazaret ist Sie eine Frau geworden und hat dem ungeschaffenen Kind seinen Schöpfungsleib bereitet, am 15.August feiert die katholische Kirche den krönenden Abschluß ihrer Vergottung.

Dreißig Jahre nach Pater Kleins Sophien-Predigt unternahm ich es in der Pfingstwoche 1989, seine Gedanken in einer ökumenischen Ansprache weiterzugeben:

d) Die erlöste Erde

... für heute haben wir uns ein heikles Thema gewählt. Läßt die katholische Botschaft von Mariens Unbefleckter Empfängnis sich so erklären, daß Andersgläubige diese Überzeugung nicht nur aus Toleranz respektieren, sondern - ohne sie selbst zu teilen - doch irgendwie sogar für ihren eigenen Glauben fruchtbar machen können? Ich will es versuchen.

»Unbefleckte Empfängnis«, diese Worte werden von den meisten mißverstanden. Die Mehrheit der Zeitgenossen denkt dabei an die kirchliche Lehre von der jungfräulichen Empfängnis: daß Maria, vom Heiligen Geist überschattet, ohne Zutun eines Mannes ihren Sohn empfing. Dieses Geheimnis feiert die Kirche jedoch am 25. März, neun Monate vor Weihnachten [Wer mit der physischen Jungfräulichkeit Marias Probleme hat, bekenne mit den Worten des Credo die geistliche Jungfräulichkeit Sophias. Das Göttliche ihres Kindes stammt von keinem Mann, auch unser Göttliches nicht. Alle Glaubenden sind »nicht aus Mannes Wollen sondern aus Gott gezeugt« (Joh 1,13). Als ich meinem Vater das klar machte: daß auch er und ich Jungfrauenkinder sind, war er sehr überrascht]. Das Fest des 8. Dezember hat einen anderen Inhalt, nämlich Marias eigene unbefleckte Empfängnis: daß sie vom ersten Augenblick ihres Lebens an ohne jede Verderbnis der Erbsünde rein und unbefleckt vor Gottes Augen steht. Wenn ich mich nicht täusche, wächst der Menschheit jetzt, da sie aufs dritte Jahrtausend nach Christus zugeht, für dieses Geheimnis langsam die Antenne. Während auch innerhalb der katholischen Kirche flachmoderne Geister das Immaculata-Dogma für den Ausdruck eines überholten Katholizismus halten und am liebsten vergessen, rührt sich in der Tiefe der Wacheren die Hoffnung, es möchte vielleicht doch stimmen: daß die Schöpfung dem Schöpfer nicht ganz mißlungen ist, daß es mitten in ihr die Eine gibt, die in reinem Dank, ohne Reue und Schande, zu Ihm aufblicken darf. Eine Kreatur hat bei uns gelebt, deren wir uns überhaupt nicht schämen müssen. Das hat Folgen. Denn eine Erde, die diese strahlende Blüte hervorbringen konnte, ist eben nicht durch und durch verdorben, ist im allertiefsten Grunde so heil geblieben, wie der gute Gott sie ersonnen hat - und wird sich auch gegen das totale Unheil zu wehren wissen, das die so unermeßlich angeschwollene Zerstörungskraft des Bösen ihr anzutun droht. Im Wurzelgeflecht unserer Wälder wütet der saure Regen; Maria aber ist wirklich die, als die wir sie im »Salve Regina« grüßen: unser Leben, unsere Süßigkeit und Hoffnung. Weil die Wurzel des Lebensbaumes unbesiegbar gesund ist, darum müssen wir, seine späten Zweige, trotz aller Gefahren, für uns und unsere Enkel doch nicht verzweifeln.

Das Böse hat eine schauerliche Macht. Das brauche ich hier nicht auszuführen, ein Blick in die Nachrichten genügt. Wohin wir schauen, macht Lieblosigkeit sich breit. Was die Erfahrung zeigt, wird vom Glauben bestätigt: Alle sind und waren wir vom bösen Trieb befallen, alle Menschen - außer zweien. Jesus und Maria waren von der Erbsünde frei. Von Jesus glauben es alle Christen; ist er doch keine geschaffene Person, sondern Gott selbst als Mensch. Von Maria glaubt die katholische Kirche es offiziell seit dem 8. Dezember 1854, vorher hatte diese Glaubenswahrheit sich zwar schon Einzelnen gezeigt, andere Katholiken hingegen, darunter hochberühmte Kirchenlehrer, haben sie geleugnet. Sie waren von der anderen Wahrheit durchdrungen: daß alle Menschen von Christus erlöst sind. Also - schlossen sie - auch Maria, also muß sie, zwar von persönlicher Sünde frei, doch wenigstens von der Erbsünde erfaßt gewesen sein. Wovon hätte Christus sie sonst erlöst?

Beide Wahrheiten ineinander zu glauben hat die Kirche erst durch langes betendes Nachdenken gelernt: So radikal, d.h. wurzelhaft tief ist Maria erlöst, daß sie von vornherein dem Bösen entzogen war. Ohne Christi Erlösungswerk hätte die Schöpfung auch in dieser ihrer Mitte verderben müssen, um seinetwillen blieb die Mitte heil. Unbesiegbar heilig ist das Reis entsprungen aus seiner Wurzel zart und hat auch die Wurzel von aller Fäulnis rein erhalten. Solches Zurück- oder Vorauswirken braucht uns bei Gott, der keiner Zeit unterworfen ist, nicht zu wundern.

»Der Herr hat mich geschaffen als Anfang seiner Wege, vor seinen Werken in der Urzeit ... Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern ... Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor Ihm allezeit. Ich spielte auf seinem Erdenrund, und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein« (Spr 8,22-31). Geheimnisvolle Worte - wer spricht so? Geschrieben wurden sie in den letzten Jahrhunderten vor Christus, genauer weiß man es nicht. Bis 1969 sind sie am Fest der Unbefleckten Empfängnis vorgelesen worden. Wird hier aber nicht allzu Ungeheures über Maria gesagt? Wie kann sie vor aller Zeit sein?

Ich erinnere mich an eine Stunde, da ich ahnen durfte, wie dieses Mysterium sich vielleicht doch irgendwie verstehen läßt. Natürlich ist eine Ahnung kein Beweis. Wüßten wir nur, was wir beweisen können, wären wir aber arm dran. Das Folgende sage ich nicht wie ein Lehrer, der eine allgemeine Wahrheit weitergibt. Daß zweimal zwei vier ist, solches Wissen läßt unsere Seele leer. Vielmehr sage ich meine Ahnung so, wie wenn Dschungelwanderer sich gegenseitig ihre Erlebnisse erzählen. Man hört einander gern zu; vielleicht kommt man ja einmal in eine ähnliche Situation.

Ich sitze am sonnigen Pfingstdienstag auf blühender Wiese. Ringsum zwitschern und flöten die Vöglein, über uns strahlt der blaue Himmel, jetzt brummt eine Hummel, dann gaukelt ein Falter vorbei. Da kommt mir jene wahnwitzige Idee, die ich neulich las, auf einmal überzeugend vor: das ganze System Erde mit all seinen Lebensformen von den Viren bis zu den Walen verhalte sich offensichtlich wie ein einziger Organismus, lasse sich als ein Lebewesen betrachten, das fähig sei, die Atmosphäre lebenstauglich zu halten. Eine Lebensgestalt, die uns Menschen, also Personen, als ihre Zellen enthält, kann freilich selbst nicht unterpersonal, muß überpersönlich sein. Ihre Wesensnamen sind Erde, Terra, Gaia, Vita, Zoé, Natur. Welches ist ihr Vorname? Mit nicht wenigen anderen Christen glaube ich: Sophia-Maria.

Denn das sind die beiden Erscheinungsweisen der nie gefallenen Schöpfung in Person, die wir Erdlinge kennen: unsere blaugewandete Mutter Erde als auch selbst lebendige Gesamtheit aller Lebewesen, und unsere Schwester Maria, in der die reine Schöpfung ein Mensch, Jesu Mutter und schließlich die Himmelskönigin geworden ist. Beide sind auf unbegreifliche Weise dieselbe Person, ähnlich wie dein schönstes Lächeln und dein Leben überhaupt beide du sind. In Terra-Maria, der kosmisch-menschlichen geschaffenen Gnade, ahnen wir das nochmals unendlich tiefere Geheimnis der ungeschaffenen Gnade, die Huld der Göttin, der Heiligen innergöttlichen Liebe. Aus IHR ist die unbefleckt Empfangene nie herausgefallen, dank IHRER innersten Gegenwart ist unsere Erde, trotz allem Bösen, heil.

Wer solches Vertrauen in sich spürt, stimme ein in den großen Gesang! Erde singe, daß es klinge, laut und stark dein Jubellied. Auch dies ist ein Marienlied. Wie umgekehrt all die herrlichen Lieder der Maiandachten meiner Kindheit Huldigungen an unsere liebe Mutter Erde sind. Sagt an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht. Die Schönste von allen. Meerstern, ich dich grüße. Nun, Brüder, sind wir frohgemut. Wunderschön Prächtige Hohe und Mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau. Jener mutterscheue Zeitgeist, der solche Lieder für eine Weile verdorren ließ, er ist jetzt selbst am Verdorren, wird das alte Jahrtausend hoffentlich nicht lange überleben.

Einer der Christen, denen die reine Schöpfung sich als Person geoffenbart hat, ist Wladimir Solowjow. Eines seiner schönen Gebete an sie (vom Mai 1886) findet sich im Buch »Sophia - Maria« eines deutschen Priesters, der als Soldat in Rußland auf Sophias Spur stieß:

O Erde, Herrin mein! Schon seit der Jugend Tagen
Hab deinen süßen Atem ich gespürt,
Hab durch dein Blütenkleid dein Herz ich hören schlagen
Und habe des All-Lebens Puls berührt.

Im Mittag stieg zu mir herab des Himmels Gnade
Mit gleicher Zärtlichkeit in schimmernder Gestalt,
Ihr sandte frohen Gruß des blauen Meers Gestade,
Der Wellenklang des Stroms, der windbewegte Wald.

Von neuem will sich jetzt geheimnisvoll verbinden
Die Erdenseele mit dem Quell des Lichts.
Ein ungemeßnes Glück läßt dieser Bund mich finden
Und alles Leid der Welt zerfließt zu Nichts.

Als »die Unbefleckte Empfängnis« hat Maria sich in Lourdes dem armen Mädchen Bernadette vorgestellt. Die Heilungen dort haben sogar abgebrühte Ärzte nachdenklich gemacht. Nur dies, Sie nachdenklich zu machen, war das Ziel meiner heutigen Worte. Maria ist die Menschwerdung der reinen, nie gefallenen Schöpfung in Person, der Braut Gottes, die Er sich aus dem Nichts geholt hat, damit sie Ihm seinen geschaffenen Leib bereite, so daß Er in ihr und für sie alles in allem werde. Selig, wer diese Botschaft glaubt und im Leben verwirklicht, indem er als gesunde Zelle des Schöpfungsleibes Anteil gewinnt an Marias Glaube, Hoffnung und Liebe!

Was sage ich aber unseren evangelischen Gästen, denen all das seltsam vorkommt, weil sie es in ihrem Glauben nicht finden? Ihnen sage ich: Dafür können Sie nicht sein, dagegen brauchen Sie nicht zu sein. Lassen Sie sich deshalb von dieser Frage nicht bekümmern. Nehmen Sie Ihren Glauben ernst, das genügt. In Gottes vielbunter Weisheit (Eph 3,10) ist nicht jede Farbe für jeden Blick. Haben nicht auch Sie, hat nicht auch Ihre Gemeinde schon Erfahrungen mit Gott gemacht, die unmitteilbar sind? Je echter wir im gemeinsamen Glauben eins sind, um so weniger muß es uns stören, daß wir in bestimmten Fragen verschieden denken. Natürlich gibt es zwischen Glauben und Glauben keinen Widerspruch, nur läßt sich oft schwer klären, wo der Glaube aufhört und das Meinen beginnt. (Zum Beispiel meinen viele Christen, Buddha und Mohammed seien nicht von Gott gesandt worden; im strengen Sinn christlich glauben können sie das nicht; denn über Buddha und Mohammed hat Jesus uns nichts offenbart.)

Ebenso rate ich auch Katholiken, denen das Gehörte unglaublich vorkommt: Bekümmere dich nicht. Warte ab, ob das Samenkorn in dir aufgeht. Wenn ja, bist du reicher, wenn nein, nicht ärmer als zuvor. Gott allein genügt.

e) Heilsames Stereo

Es ist gut, daß die Christenheit von der Spannung beider Marienbilder belebt wird. Herrschte in ihr nur das goldene Portrait der Himmelskönigin, dann würde den Frauen ihr wichtigstes Vorbild fehlen - wer möchte einem überzeitlichen Mythos nacheifern? Spräche man nur mehr von der schlichten Jüdin, wie ihre Nachbarn in Nazareth und Jesu erste Jünger sie erlebten, so würde die Große Mutter, eines der stärksten seelischen Urbilder, nicht aus ihrer Zweideutigkeit erlöst. Daß sie sich uns nicht grausam-verschlingend sondern liebevoll heilend zuwendet, davon tief überzeugt zu sein hilft Christen die Madonna. Der Psychotherapeut C.G. Jung hielt deshalb das Dogma von 1950, als Marias Aufnahme in den Himmel feierlich definiert wurde, für das bedeutsamste religiöse Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts. Theologisch nicht korrekt aber nachdenkenswert ist die Antwort eines italienischen Bauern auf die Frage »... und wenn es Gott nicht gibt?« - »C’è sempre la Madonna«, meinte er verschmitzt.

Ob jemand lieber mit Gabriel »Freu dich, Begnadete!« sagt oder lieber, wie Jesus, »Was habe ich mit dir zu tun, Frau?« (Joh 2,4) - wichtig ist, daß beide Seiten im friedlichen Gespräch bleiben, ohne einander zu verketzern. So übervoll ist der Reichtum der Offenbarung, daß es ohne Auswahl kein Glaubensleben gibt. Salzhering und Milchreis passen im Magen zusammen, auf der Zunge nicht; ähnlich kann die gefühlte Beziehung eines Christen zur Mutter seines Herrn jeweils nur entweder Mirjam von Nazareth oder die himmlisch strahlende Sophia meinen. Begnadetes Urbild jeden Glaubens ist Maria freilich nur deshalb, weil sie beiden Bildern wahrhaft entspricht. Weder ein erhabenes Himmelswesen noch ein weiteres neben Milliarden anderen vergänglichen Erdenkindern könnte als Ersterlöste unseren Glauben stärken.


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