Jürgen Kuhlmann

Weine nicht, Monika!

Anläßlich früher hier angestellter Überlegungen "Heil nur durch Jesus?" (in CiG Nr. 44/1981) schrieb eine Leserin: "Dasselbe muß ich immer wieder im Leben mit meinen beiden Söhnen erfahren; daß sie mit großer Gewalttätigkeit darauf bestehen, daß niemand gerettet wird, der nicht an Jesus glaubt, besonders aber, der nicht bei ihrer Sekte mittut. Ja, sie behaupten sogar mit einer undurchdringlichen Festigkeit, die katholischen und evangelischen Christen sowie Moslems und viele Andersgläubige kämen nicht zum Heil. Für sie gilt, nur wer den Herrn Jesus als persönlichen Retter annimmt, ist gerettet ... Tun wir dies als katholische Christen nicht schon lange oder von eh und je? Ist es nicht ein Verrat und eine schwere Sünde, wenn man so einfach von der Kirche weggeht, zu einer anderen Gemeinschaft? Können diese Leute die Forderung Jesu, wer Vater und Mutter mehr gehorcht und liebt als mich, ist meiner nicht wert, auf sich beziehen? Man hat oft den Eindruck, wenn sie ,Jesus' sagen, meinen sie sich selber."

Sektengeist überall?

Dieser letzte Hinweis läßt aufhorchen. Blitzartig zeigt er die ungeheure Zweischneidigkeit der Situation. Angenommen, jene jungen Leute meinen tatsächlich sich selbst, wenn sie "Jesus" sagen: ist dies krasser Egoismus und Überheblichkeitswahn? Oder ist es ein lebendiges Echo jener Selbigkeitserfahrung, von der die ersten Christen berichten (Wer euch hört, hört mich)? Jeder, der mit Sektenleuten debattiert, verliert irgendwann die Fassung und denkt bei sich: Warum sind sie so stur und bestehen darauf, daß nur sie der Heilige Geist erleuchtet hat? Aber so hat bestimmt auch der Landpfleger Festus gedacht (wie gut verstehen wir ihn), als er seinerzeit sprach: "Du rasest, Paulus. Das viele Studieren hat dich um den Verstand gebracht" (Apg 26,24). Zu wem sprach er so? Zu jenem Überzeugten, der niemand außer Jesus gelten ließ und schon zu des Festus Vorgänger Felix einmal gesagt hatte: "Entsprechend der Sekte, die man Irrlehre heißt, diene ich meinem Gott und Vater"(Apg 24,14). Das ist zwar eine ungewöhnliche Übersetzung nach der lateinischen Fassung ("... quod secundum sectam, quam dicunt haeresim"), aber die Vulgata hat das griechische Original - Weg - mit "Sekte" übersetzt. Das ist den meisten Christen, auch Theologen, unbekannt, Raimund Panikkar hat einmal darauf aufmerksam gemacht.

Die Kirche hat tatsächlich als "glühende Sekte" begonnen und ist bis zum heutigen Tag auch von einem gewissen Sektengeist geprägt. Lassen wir dessen entsetzliche Folgen, etwa die Inquisition, einmal beiseite: mißbraucht kann nur etwas werden, was in seinem Ursprung gut und sinnvoll ist ...

Das zweite Vatikanische Konzil hat nach mancherlei Kämpfen im Dezember 1965 eine "Erklärung über die Religionsfreiheit" erlassen, in der uns die Hochachtung vor allen Religionen trotz ihrer Irrtümer auferlegt wird. Wie können wir im Horizont dieser Haltung mit der Anmaßung jugendlicher Sektierer verständnisvoll fertig werden?

Und letzte Frage: wie steht es mit uns selbst? Bin ich etwa nicht fest überzeugt, mich gerade in der gesunden Mitte zwischen Fanatismus hier und Überzeugungslosigkeit dort zu befinden? Und das Erstaunlichste: fast niemand läßt sich finden, der nicht genau in dieser Mitte zu leben glaubt! Es sieht ganz so aus, als wäre die offenkundige Sektiererei nichts als die Spitze eines Eisbergs an fanatischer Rechthaberei. Nicht um ein paar Inselchen der Sturheit scheint es sich zu handeln, vielmehr um einen riesigen Kontinent, der meistens nur leicht von den Oberflächenwassern zivilisierter Höflichkeit überspült wird.

Der unumgreifbare Elefant

Kennzeichnend für die östliche Bewältigung des religiösen Fanatismus-Problems ist Buddhas berühmte Geschichte vom Elefanten.

Einmal wandte sich eine Anzahl Jünger an den Erhabenen; sie sagten: "Herr, hier bei Sawatthi wohnen Viele Asketen und Brahmanen, Wanderasketen verschiedener Richtungen, die ständig miteinander hadern und streiten ... Was denkt der Erhabene über sie?" Buddha antwortete: "Ihr Mönche, diese zänkischen Männer gleichen den Blinden ... Ehedem lebte in eben diesem Sawatthi ein gewisser König. Und dieser König, ihr Mönche, richtete eines Tages das Wort an einen seiner Leute: ,Geh, Mann, und bring alle Blindgeborenen in Sawatthi an einem Ort zusammen ... und zeige ihnen einen Elefanten.' Der Mann tat, wie ihm geheißen, zeigte den Blindgeborenen den Elefanten und sagte: ,So ist ein Elefant, ihr Blindgeborenen.' Einem wies er den Kopf des Elefanten, dem zweiten die Ohren, dem dritten einen Stoßzahn, anderen den Rüssel, den Rumpf, einen Fuß, das Hinterteil, den Schwanz, das behaarte Schwanzende. Und allen erklärte er, daß das ein Elefant sei.

Dann aber, ihr Mönche, begab sich der König zu den Blindgeborenen und sprach zu ihnen: ,Blindgeborene, habt ihr auch den Elefanten angesehen?' - Ja, Majestät, wir haben uns den Elefanten angesehen.' - ,Sagt, ihr Blindgeborenen, wie ist denn ein Elefant?' Die unter den Blindgeborenen, ihr Mönche, die sich den Kopf des Elefanten angesehen hatten, sagten: ,Majestät, wie ein Kessel ist ein Elefant.' Die, welche sich das Ohr des Elefanten angesehen hatten, sagten: ,Wie eine Worfel ist ein Elefant.' Die, die sich den Stoßzahn des Elefanten angesehen hatten, sagten: ,Wie eine Pflugschar ist ein Elefant.' Die unter den Blindgeborenen, ihr Mönche, die sich den Rüssel des Elefanten angesehen hatten, sagten: ,Wie die Stange am Pfluge ist ein Elefant.' Und so ging es auch bei den anderen. Je nachdem, ob sie Rumpf, Fuß, Hinterteil, Schwanz oder behaartes Schwanzende kannten, verglichen sie den Elefanten mit einem Kornspeicher, einem Pfeiler oder Mörser, einer Keule oder einem Besen. Und unter dem Geschrei: ,So ist ein Elefant, ein Elefant ist nicht so; nicht so ist ein Elefant, ein Elefant ist so!' wurden sie mit den Fäusten gegenseitig handgemein. Der König aber, ihr Mönche, war darüber höchlichst ergötzt.

Genauso, ihr Mönche, verhält es sich mit den Wanderasketen verschiedener Richtungen. Blind und augenlos erkennen sie nicht, worauf es ankommt; sie erkennen nicht die Wahrheit und was nicht die Wahrheit ist. In Unkenntnis dessen, was nicht die Wahrheit ist, schlagen und verletzen sich diese zänkischen Leute gegenseitig mit scharfen Worten: ,So ist die Wahrheit, die Wahrheit ist nicht so ...!" Da tat der Erhabene folgenden feierlichen Ausspruch: "So hört man es: Es klammern sich manche Asketen und Brahmanen an diese Dinge; es streiten sich und geraten in Widerrede die Menschen, die nur einen Teil sehen" (Pali-Kanon. Udana VI, 4).

Die Wahrheit und das Denken

Lassen wir das schwierige religionsgeschichtliche Problem, wie Buddha selbst diese Geschichte verstanden habe, auf sich beruhen. Wir haben durchaus das Recht, sie - als Besitz der ganzen Menschheit - mit unseren christlichen Ohren zu vernehmen und auszulegen. Dann hilft der massige Elefant uns zu einem wichtigen Aspekt der gesuchten Lösung: die ganze Wahrheit ist ein Organismus und ein Organismus mannigfacher Einzelwahrheiten; wo immer ein Mensch ihn packt, da hat er es - letztlich - mit derselben einen Wahrheit zu tun. Die uralte Legende ist also schon weit hinaus über den bei uns so verbreiteten Glauben, daß Wahrheit in Sätzen erfaßt werde - und daß deshalb von zwei Gegen-Sätzen immer nur einer wahr sein könne.

Aber Ort der Wahrheit sind nie die Sätze, die "Denkzeuge", durch die wir Wahres denken, sondern unser lebendiger Geist. Allerdings heißen dann, auf abgeleitete Weise, auch die Sätze "wahr". Das ist gemäß einer deftigen Formel des Thomas von Aquin so zu verstehen, "wie ein Urin gesund heißt, nicht wegen der Gesundheit, die in ihm wäre, sondern wegen der Gesundheit des Lebewesens, die er bedeutet" (Summa Theologica I, q 16 a 7). Thomas ist hier glasklar: "ein ausgesprochener Satz wird deshalb wahr genannt, weil er eine Wahrheit des Bewußtseins bedeutet, "nicht wegen einer Wahrheit, die in dem Satz wäre", ihm selber zukäme.

Der angesehene Pariser Professor des Mittelalters muß grimmig geschmunzelt haben, als er diese Wahrheit mit dem derben Beispiel des Urins vortrug. Da saßen sie vor ihm, alle diese eifrigen Studenten, die selbst Professor werden wollten und jetzt schon stolz waren auf ihre gescheiten "Sätze". Ihnen allen reibt Thomas es hin: verehrte Denker, Redner und Schreiber, alle die großartigen Sätze, die unser Geist hervorsprudelt, in denen er sich ausdrückt, sind eigentlich nichts weiter als Abfallprodukte des wahren Lebens!

"Jesus ist Gottes Sohn", sagen wir Christen, und haben recht, denn dieser Satz ist wahr. Sind Juden und Muslim, die diesen Satz bestreiten, im Irrtum?

Seien wir vorsichtig! Um im Bild zu bleiben: niemand darf es einem Prinzen verwehren, bestimmten Menschen gegenüber gerade nicht als Königsohn auftreten zu wollen, sondern nur als Gleicher unter Gleichen, der er ja auch ist. Solange wir es für unmöglich erklären, daß ein Prinz zugleich ein restlos solidarischer Mitmensch ist, so lange hat, wer dieses blaue Blut leugnet, nicht minder recht. Jede Wahrheit hat mehrere "Seiten". Und gibt es nicht viele "rechtgläubige" Christen, die nicht "wahr" haben wollen, daß Jesus auch voller Mensch ist?

Nicht nur, was die Lebenspraxis betrifft, will Gott Verschiedenes von uns Menschen. Auch Denken und Sprechen gehören dazu. Welchen Raster unsere Wörter über die Wirklichkeit legen, hängt nicht bloß von deren vorgegebener Struktur ab, sondern auch davon, zu welcher Wahrheit der Schöpfer uns jeweils beruft. All unser "Begreifen" ist Stückwerk, und es braucht uns nicht zu wundern, daß die ganze Wirklichkeit stets unbegreiflich bleibt und folglich verschiedene "Begriffe" zuläßt.

Darf, soll, kann ich ernsthaft damit rechnen, daß hinter dem Gewissen meines theologischen Gegners, obwohl ich ihm in Gottes Namen widersprechen muß, trotzdem ebenfalls Gott steht, mit einem anderen seiner Gesichter, so daß auch der andere die Pflicht und das Recht zu seiner gegensätzlichen Wahrheit hat? Ich glaube, daß dies möglich ist.

Vom Sinn des Dialogs

Halten wir fest: zwar ist jede eingesehene Wahrheit grundsätzlich allgemein-verbindlich. Da sich aber nicht jede Wahrheit jedem einsichtig machen läßt, folgt aus der Gültigkeit meiner Wahrheit nicht die Pflicht des anderen, meinem Ausdruck zuzustimmen. Mag sein, er braucht die von mir benutzten knappen Wörter notwendig selbst, um seine (andere) Wahrheit anders, ja gegensätzlich auszudrücken. Damit sind wir auf ein allgemeinstes ökumenisches Grundprinzip gestoßen. Mit ihm läßt jeder Dialog sich zugleich spannen und entspannen: spannen, weil ich auch dem anderen gegenüber nicht auf den Ausdruck meiner Wahrheit verzichte - wozu sonst Dialog? Und entspannen, weil wir dank der gemeinsam anerkannten Unzulänglichkeit unserer Sprachen eine tiefere Eintracht über unsere ausdrückliche Getrenntheit stellen dürfen. Jeder ist auf dem Weg.

Im Lauf der Zeit wird die Eintracht gewiß sich immer weitere Sprachfelder erobern. Dadurch wird jeder Dialogpartner sozusagen mehr Mensch, weil ausdrücklicher in die umfassende Wahrheit eingefügt. Als mir aufging, inwiefern einer meiner Freunde, der Zeuge Jehovas ist, ja "recht" hat mit manchem Widerspruch gegen meine gutbürgerliche Frömmigkeit, an jenem Tag ist unsere Freundschaft fester geworden. Darum weine nicht, Monika, wenn dein irregeleiteter Sohn dir auf einmal Überzeugungen an den Kopf wirft, die du nicht mitvollziehen kannst, ja die dir Unsinn scheinen! Wer weiß, vielleicht ahnt er die Wahrheit, die er jetzt schon nicht mehr verleugnen darf und nur noch nicht recht fassen kann? Laß ihm Zeit. Sagt er dir ins Gesicht (wie es mir neulich von einem lieben jungen Mann geschah, zu dessen "Vätern im Glauben" ich mich zählen darf), daß er bei dir das Feuer der rechten Liebe zu Jesus nicht findet, dann nimm das nicht ihm übel, sondern zum Anlaß einer Gewissenserforschung. Wenn unser allsonntägliches Sündenbekenntnis stimmt, hat er ja recht!

Schaut auf die Früchte

Vor allem aber bedenk: so wie seine Sonderform der Begeisterung für dich nicht verbindlich ist, so wäre wohl auch deine abgeklärtere, "normalere" Glaubensweise für ihn, so wie er jetzt vom Herrn ergriffen ist, das Falsche. Verfalle nicht unvermerkt in denselben Fehler, den du ihm vorwirfst: den blinden Eifer, der allen Mitmenschen ihr geistliches Kleid gewaltsam nach der eigenen Figur mißschneidern muß. Gottes "vielbunte Weisheit" (so die wörtliche Übersetzung von Eph 3,10) enthält zwar dein tolerantes Weiß, sie umfaßt aber auch das lodernde Rot der einen, das schimmernde Grün der anderen und hoffentlich eben auch jene besondere Geistesfarbe, die dein Kind derzeit ausstrahlt.

Natürlich ist nicht alles gleich-gültig. Die Wahrheit selbst widerspricht sich nicht. Von Christus ist uns aber ein guter Maßstab gegeben: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Sollte es also geschehen, daß man bei sich oder anderen Hochfahrenheit feststellen muß, Unfrieden, Rücksichtslosigkeit, dann kann man nur den Rat geben, den im vierten Jahrhundert ein Bischof der heiligen Monika gab, als ihr Sohn Augustinus der Sekte der Manichäer verfallen war: "Laß ihn dort und bete nur zum Herrn für ihn; er wird weiter lesen und selber daraufkommen, was das für ein gottloser Irrtum ist" (Bekenntnisse III, 12). Jener Bischof fügte hinzu: "Es kann nicht sein, daß ein Kind solcher Tränen verloren geht."

Ist es aber anders, findet man als Frucht auch des anderen Geistes Friede, Gerechtigkeit, Freude, Dienst an den Mitmenschen und Freiheit - dann weine nicht, Monika. "Ich bin das Licht der Welt", sagt Christus. Wo immer es hell ist, muß Er nahe sein.

Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" vom 25. Juli 1982, S. 245 f.

Nachschrift im Dezember 2004

Mit dem Wort "Sekte" soll man vorsichtig umgehen. Die Mormonen etwa gelten gemeinhin als typische Sekte, sie seien verbohrt, heißt es, hingen haarsträubenden Lehren an. So soll der auferstandene Christus sich in Amerika gezeigt haben. Einer bekennenden "Heiligen der letzten Tage" wurde die Aufnahme in eine katholische Krankenpflegeschule verweigert, Sektenleute nehme man nicht.
Gewiß gibt es unter Mormonen Leute mit fanatischem Sektengeist, auch in den Großkirchen herrscht an solchen kein Mangel. Für sie gilt das im Monika-Essay Gesagte. Es bezieht sich jedoch nicht auf alle Mormonen. Diese mir neue Erfahrung bezeuge ich ausdrücklich. Z.B. ist der Politologe Ralf Grünke, "Ortsbischof" (warum eigentlich nicht?) der Gemeinde Erlangen, ein vernünftiger, friedlicher Christ ohne Exklusivitätsgehabe. Was er über sich und seinen Glauben erzählt, weckt brüderlichen Respekt. Christi Oster-Erscheinungen in Amerika sind keins unserer Gesprächsthemen, so wenig wie die päpstliche Unfehlbarkeit. Sachlich habe ich mit jener Lehre keine Schwierigkeit: Weil das WORT "jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1,9), war ES zweifellos auch den damaligen Amerikanern gegenwärtig - auf welche Weise? Das geht mich nichts an.
Facit: Statt "Sekte" zu schimpfen, denk an Splitter und Balken!

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Schriftenverzeichnis

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