Jürgen Kuhlmann

Auf die Balance achten!

Kommentar zum Kurien-Dokument
"Iesus Dominus"

und zur Doppel-Seligsprechung zweier gegensätzlicher Päpste


Fast zwanzig Jahre ist mein Stereo-Radio alt, aber voll und schön klingt die Symphonie - bis plötzlich ihre Spannung weg ist, nur mehr von rechts tönt es ungegliedert, wie aus dem Küchenradio. Elender Wackelkontakt! Ich greife zum Lautsprecherkabel, probiere mit dem Stecker herum: ja, so muß ich ihn halten, jetzt ist die Musik wieder ganz, beide Signale stimmen.

Zur rechten Zeit versagt die Technik - wäre mir das erhellende Gleichnis sonst aufgefallen? Denn anscheinend passiert im Großen derzeit dasselbe. Man beklagt die Arroganz der vatikanischen Erklärung über die einzig wahre katholische Kirche; "drinnen" schämen Katholiken sich über Formulierungen, die keinerlei Respekt vor den anderen spüren lassen. Der Kardinal von Berlin erinnert an das alte Gebot, bei Predigten nicht das "Wann, Wie und Wo" zu vergessen. Bei römischen Dokumenten sei "das offensichtlich nicht so". Meinen Ortspfarrer erinnert die Erklärung an den Rangstreit der Jünger. "Draußen" wird gewettert und gespottet, etwa von den Altkatholiken: "Die römische Kirche, die sich in "Dominus Iesus" präsentiert, ist gewiß "einzigartig". Ob diese Einzigartigkeit für andere Kirchen allerdings erstrebenswert ist, darf bezweifelt werden."

Wie Kardinal Ratzinger in seinem großen FAZ-Interview vom 22. September klargestellt hat, ist "versöhnte Verschiedenheit" sehr wohl ein sinnvolles ökumenisches Prinzip. Nun ist eines der auffälligsten Beispiele versöhnter Verschiedenheit tatsächlich jeder Stereoklang. Er ist weniger banal als er scheint. Denn die beiden Signale müssen gegensätzlich, sogar widersprüchlich sein; jeder Kurzschluß, der beide Lautsprecher das Gleiche ausdrücken läßt, zerstört den Raumklang. Nicht auf der technischen Ebene der elektronischen und akustischen Signale geschieht die Versöhnung, vermutlich nicht einmal auf der biologischen des Gehirns, sondern erst im Bewußtsein des Hörers.

Ähnlich, scheint mir, müssen wir bei Glaubensaussagen mit der notwendigen Verschiedenheit der Sätze ihre im Glauben versöhnte Spannungseinheit zusammendenken. Deshalb schlage ich als Deutungshilfe die Hypothese vor: Was die Glaubenskongregation erklärt, ist jeweils der rechte Pol eines kat-holischen Stereo-Signals. Erst wenn wir mit gläubiger Vernunft den linken Pol hinzu vernehmen, stimmt die Botschaft. Wer von der Kurie verlangt, daß sie auch den zur offiziellen Perspektive gegensätzlichen Wahrheitspol noch selber darstellt - mißversteht der vielleicht die Beziehung von Glauben und Institution?

Ich versuche also, einige anstößige Sätze der Erklärung "Dominus Iesus" durch die jeweilige Gegenwahrheit zu ergänzen. Ohne sie wäre das Kuriendokument allerdings katholizistisch, nicht kat-holisch. Es richtet sich jedoch an "alle katholischen Gläubigen" (3) und wir dürfen Kardinal Ratzinger zutrauen, daß er weiß: Nur im lebendigen Glauben werden rechtgläubige Aussagen recht verstanden. Laut dem großen Kirchenlehrer Thomas von Aquin heißt ein ausgesprochener Satz wahr, weil er eine Wahrheit des Bewußtseins bedeutet, "nicht wegen einer Wahrheit, die in dem Satz wäre", ihm selber zukäme. Das sei so zu verstehen, "wie ein Urin gesund heißt, nicht wegen der Gesundheit, die in ihm wäre, sondern wegen der Gesundheit des Lebewesens, die er bedeutet" (S.Th. I q16 a7). Ebenso wird von wahren Sätzen Wahres bedeutet; eigentlich wahr sind nicht sie sondern der sie verstehende Menschengeist - wenn er sie recht versteht.

Schon sind wir mitten im Thema. Verurteilt wird in der Erklärung jene Offenheit, "die den religiösen Pluralismus nicht nur de facto, sondern auch de iure (oder prinzipiell) rechtfertigen" will: jene "relativistische Haltung gegenüber der Wahrheit, weswegen das, was für die einen wahr ist, es nicht für andere wäre" (4). Faktisch ist es tatsächlich oft so: Sagt mir ein Tier, das bei uns nicht vorkommt, fragt die Lehrerin. Ja, Peter? - Der Dackel. - Wieso, der kommt doch bei uns vor? - Nein, bei uns nicht. Er liegt unter dem Sofa, und auch wenn man ihn ruft, kommt er nicht vor. De iure aber sollen solche Mißverständnisse nicht sein: sobald "das, was für die einen wahr ist" an einem bestimmten Satz, auch von den anderen bei diesen Worten verstanden wird, ist dasselbe auch für die anderen wahr. Solche Versöhnung dank Unterscheidung gilt allerdings in beiden Richtungen! Erst versteht die Lehrerin die Sonderwahrheit des Kindes, später auch das Kind den üblichen Sinn von "vorkommen". Es heißt demnach unterscheiden: "Was für die einen wahr ist", bedeutet dem Kardinal die in einem Bewußtsein verstandene Wahrheit; wofern es gelingt, sie einem anderen Bewußtsein mitzuteilen, ist sie auch für andere wahr - oft genug ist diese Kommunikation aber de facto unmöglich: Dann stimmt die Sicht vernünftiger "Relativisten": solcher, die mit dem, "was für die einen wahr ist", nicht die innere Wahrheit des Bewußtseins meinen, sondern deren Ausdruck, einen gesprochenen oder geschriebenen Satz. Der kann für andere sehr wohl falsch sein.

Wenden wir diese Klärung auf das erste Hauptthema des Kuriendokuments an: die Absolutheit der Offenbarung Jesu Christi. "Es ist nämlich fest zu glauben, daß Jesus von Nazaret, der Sohn Marias, und nur er, der Sohn und das Wort des Vaters ist." Dem stimmen alle Christen zu. Juden wie Muslime hingegen widersprechen diesen Worten. Mit ihrem Recht? Ja, und sie können sich dabei sogar auf Jesus selbst berufen! Er hat sich gewehrt, als jemand ihn "guter Meister" nannte: "Was nennst du mich gut? Gott allein ist gut." So berichtet Markus im vermutlich ersten Evangelium (10,18). Schon Mattäus (19,17) ertrug solche Demut des Herrn nicht mehr. Menschliche Sprache ist nicht imstande, alle gegensätzlichen Facetten der göttlichen Geheimnisse auf einer logischen Linie anzuordnen.

Die Auflösung dieses Widerspruchs ist weniger leicht als bei jenem Dackel. Auch hier heißt es unterscheiden. Rechtgläubige Christen nennen mit dem Namen Jesus seine göttliche Person: "Die Worte und Werke und das ganze geschichtliche Ereignis Jesu haben nämlich, auch wenn sie als menschliche Wirklichkeiten begrenzt sind, als Quellgrund die göttliche Person des fleischgewordenen Wortes, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch" (6). Statt deutsch raunend "Quellgrund" heißt es auf englisch und italienisch präzise: "Subjekt". Sofern Jesu Menschlichkeit uns Christen nichts anderes ist als die Übersetzung des innergöttlichen in ein menschliches Selbstbewußtsein, das nicht nur aus dem göttlichen Quellgrund nach außen erfließt, sondern subjektiv wahrhaft von der göttlichen Person selbst gelebt wird: nur insofern ("deshalb"!) stimmt: "Die Worte und Werke Jesu ... bergen deshalb in sich endgültig und vollständig die Offenbarung der Heilswege Gottes, auch wenn die Tiefe des göttlichen Mysteriums an sich transzendent und unerschöpflich bleibt (6)."

Juden wie Muslime hingegen kennen nicht Jesu göttliche Person. Schon die Frage nach einer solchen kommt ihnen gotteslästerlich vor. Mit "Jesus" meinen sie des Nazareners menschliche Natur, mit demselben nicht nur logischen sondern theologischen Recht, mit dem Jesus es ablehnte, gut zu heißen. "Für ein wachsendes Verständnis der Heilspläne Gottes" (21; auf den Plural kommt es an!) ist entscheidend, daß wir Christen uns des Rechtes beider Denk- und Redeweisen bewußt sind. Zu welch unmenschlichen Greueln die Mono-Akzentuierung der Göttlichkeit ihres Stifters die Christenheit verführt hat, sei hier nicht ausgeführt.

Wie beim Stereo-Empfang nur der Gegensatz der Signale den Spannungsreichtum ermöglicht, so ähnlich läßt Gott auf der Bühne des Großen Welttheaters dank gegensätzlichen Rollen das Heilsdrama sich vollziehen; anders wäre seine trinitarische Spannungseinheit irdisch nicht darstellbar. Also doch Pluralismus de iure? Nein und Ja. Es gibt auf Erden "nur eine einzige, vom einen und dreifaltigen Gott gewollte Heilsordnung" (11). Nur ein gewaltiges Drama stellt auf der Festbühne des Gottesreiches die Liebesgeschichte Gottes mit der Menschheit dar, "deren Quellgrund und Mitte das Mysterium der Fleischwerdung des Wortes ist" (11): das absolute Hochzeits-Ja Gottes zu uns und unser (in Maria versammeltes) Ja zu Gott, jenes "Ja zu allen Verheißungen Gottes, das in Jesus Christus sich ereignet hat" (2 Kor 1,19). Wie bei vielen Liebesgeschichten gehören zu diesem Ja aber, außer seiner öffentlichen, implizit allumfassenden Mitte bei der Hochzeit, noch andere Etappen, nicht "neben" dem Ja oder "komplementär" zu ihm (21), vielmehr als andere Ausdrucksweisen seiner selbst. (Nicht begründen, nur antippen kann ich hier die Auffassung, das Judentum sei der intime Beginn des Ja-Bundes, während Islam, Mormonen und Bahaitum, in etwa sogar der moderne Humanismus, uns als verschiedene Weisen gelten dürfen, die je eine andere Bewältigung mannigfacher "Ehekrisen" darstellen; Näheres siehe in meinem Buch "Ehrfurcht vor fremder Wahrheit", Nürnberg 1996).

Befindet sich, wer vom selben Gott in eine nichtchristliche Glaubenswelt gerufen ist, "objektiv in einer schwer defizitären Situation" (22)? Weil mein katholischer Sinn es vorzieht, feierliche Sätze des Lehramts für wahr zu halten, schlage ich trotz der berechtigten Einwände gegen das aktuelle Daß des so anmaßend klingenden Satzes doch eine Deutung vor, in welcher sein Was stimmt. Durch das Wörtlein "objektiv" wird das Gemeinte nicht nur gegen die subjektive Situation einzelner Andersgläubiger abgegrenzt (so daß jener Nichtchrist vor Gott besser dastehen kann als dieser Christ), sondern auch gegen die perspektivische Situation andersgläubiger Gemeinschaften, so daß etwa Hindus oder Buddhisten als solche nicht schlechter dastehen als die real existierende Christenheit. Westliche Sexfilme heißen in Indien "Christian Pictures". Was bleibt dann noch die Wahrheit des objektiven Vorrangs? Schlicht das, was der Christ als solcher dem Nichtchristen als solchem voraushat: die Überzeugung, daß in Jesus Christus die uralte Menschheitsfrage nach dem Geheimnis des Ganzen, dem Sinn von Leid und Freude, Leben und Tod, sich im Licht der Öffentlichkeit auf unüberholbar endgültige Weise geklärt hat. Der SINN des Ganzen ist einer von uns. Die Unendlichkeitsahnung eines Menschenherzens ist nicht nur das Rätsel sondern auch die Lösung. Wir dürfen dem Papst zustimmen: Wer das weiß, steht besser da als wer es nicht weiß. Allerdings kann, zum einen, der geistige Gehalt des Großen JA auch in solchen Menschen lebendig sein (vielleicht sogar dank ihrer Begegnung mit dem Jesus der Evangelien), die wegen der Schandtaten der Christenheit gehindert sind, ihr JA mit Christentum und Kirche zu verbinden. Zum andern müssen wir ehrlicherweise eingestehen, daß die objektive Situation der Katholiken ebenfalls schwer defizitär ist: gehören sie doch einer Institution an, für deren ideologisch begründete Untaten Papst und Kardinäle in diesem Jahr feierlich um Verzeihung bitten mußten.

Besonders gekränkt hat die Protestanten, daß sie "nicht Kirchen im eigentlichen Sinn" sein sollen (17). Ich frage dagegen: Ist das denn die römische Kirche? Der eigentliche Sinn ist doch wohl der, den der Stifter gemeint hat. Er hat gesagt: "Ihr sollt auf Erden niemanden Vater heißen" (Mt 23,9) - gar Heiligen Vater? Jesus verbietet: "Schwört überhaupt nicht!" (Mt 5,34) - die Kurie schreibt Theologen allerlei Eide vor. Zum Glück lenkt Kardinal Ratzinger im Interview ein: Über "die Frage nach der Angemessenheit des Eides überhaupt in der Kirche ... sollte man reden."

Bei einem Konzilszitat über die anderen Konfessionen in der Erklärung unterstreiche ich ein Wort: "Der Geist Christi hat sich gewürdigt, sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen, deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet" (17). Anvertraut wurde der katholischen Kirche die Wahrheitsfülle. Was hat sie aus ihr gemacht? Ich sehe ein Bild: Ein uralter Lastwagen rattert dahin, aus Löchern fällt Obst auf die Straße, Kinder heben es auf. Vor einer Schranke klettern Jungen hinauf, retten manche Kiste schon, bevor sie fällt, und bringen sie mit Kinderwagen weg. Wem gehören die Güter? Der Besatzung des Wagens, die sie verschlampen ließ? Mir scheint: den Nutzern der Heil-Mittel Kinderwagen.

Mit Recht hat Bischof Lehmann seinem Kommentar ein anderes Konzils-Zitat eingefügt: "Auf der anderen Seite ist es notwendig, daß die Katholiken die wahrhaft christlichen Güter aus dem gemeinsamen Erbe mit Freude anerkennen und hochschätzen, die sich bei den von uns getrennten Brüdern (und Schwestern) finden." Nicht zur eigentlichen Kirche zurück müssen mithin die anderen. Sondern wenn jener Wagen nach mancherlei Kurven vielleicht einmal dort vorbei kommt, wo die geretteten Himmelsfrüchte die Menschen erquicken, dann teilt man auch seinen durstigen Fahrern davon mit und diese laden für alle ab, was sie noch haben.

Kein Zweifel: An jener eigentlichsten Kirche, der Una Sancta Catholica, die auch in evangelischen Kirchen bei jedem lateinisch gesungenen Credo gepriesen wird, hat die mitbetende Gemeinde Anteil; "dort "ereignet sich die Kirche", um es einmal so auszudrücken", präzisiert der Kardinal im Interview. Das scheint eine geglückte Formulierung, die einen Weg zum Frieden weist. Denn wozu die evangelische Kirche gar nicht gehören will, ist eben jenes zeitüberdauernde System, die juristisch-feststellbare Organisation, geleitet jeweils vom Papst. Kirche in diesem Sinn kann es allerdings nicht als Mehrzahl geben. Zu ihr nicht zu gehören haben die Evangelischen gute Gründe. Jesus hat den ersten Papst nicht nur Grundstein genannt Mt 16,18), sondern auch Stolperstein (Skándalon: Mt 16,23). Wahrscheinlich müssen die Protestanten gerade diese Heilswahrheit repräsentieren, wie die Katholiken die andere, fünf Verse davor. Insofern bleibt auch jener Sinn des Wortes "Kirche" ein wahrer, in welchem die Deutschen weiterhin "unsere Kirchen" sagen werden.

Kirchengeschichtlich illustriert wird die kat-holische Stereo-Polarität vom Gegensatz der beiden vatikanischen Konzilien, der im September 2000 vor aller Welt geradezu gefeiert worden ist. Da hat man in Rom tatsächlich nicht nur Johannes XXIII. seliggesprochen, sondern zugleich auch Pius IX. - trotz aller Proteste gegen die Ehrung dieses harten Mannes, der das, was er für den katholischen Standpunkt hielt ("die Kirche bin ich") mit Gewalt durchsetzte, und nicht nur geistig wirkte diese Gewalt (durch strenge Enzykliken und machtbewußte Steuerung des Konzils), auch schmerzhaft körperlich: wenn ein Patriot geköpft, eine Ghetto-Mauer wiedererrichtet oder das versehentlich getaufte Judenkind Edgar seinen Eltern geraubt wurde. Hält man gegen dieses Papstbild das freundliche Antlitz des guten Papstes Johannes, so versteht man das Urteil von Carlos Fuentes: "Schizophrenie des Vatikans" (EL PAIS v. 10. September).

Hegel sprach von "List der Vernunft". Gibt es auch eine List der Unvernunft? Als ich fragte, wie ein kritischer Katholik mit der scheinbar so unseligen Disharmonie beider Seliger umgehen könnte, fand sich der Widerspruch plötzlich in eine lebenswichtige Polarität verwandelt. Was nicht mehr zu hindern ist, sollten wir geistlich nutzen. Während kirchenpolitisch beide Seligsprechungen sich gegenseitig neutralisieren (G. Seibt in der ZEIT v. 31. Aug. 2000), kann der Glaube in ihrem Gegensatz eine entscheidende Stereo-Spannung entdecken. Was sind deren Pole?

Johannes XXIII. ging mit offenen Armen auf Andersgläubige zu ("ich bin Josef, euer Bruder", begrüßte er jüdische Besucher), Pius IX. erzwang das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit und verschanzte sich, alles Fremde grimmig ablehnend, in den Mauern seines Vatikans. Dieselbe Spannung, wie sie zwischen beiden weiß gekleideten Gestalten vibriert, lebt in jeder seelisch gesunden Person. Wer für nichts Fremdes offen sein will, ist ebenso gestört wie wer nichts Eigenem treu wäre.

Wie immer die päpstliche Unfehlbarkeit einzuschätzen sein mag (der Schweizer Theologe Hasler hält das Dogma für ungültig: das Konzil sei nicht frei gewesen!), eines ist auf jeden Fall unfehlbar: ein allseits verantwortungsbereites Gewissen. Mit deutlicher Anspielung auf den Unfehlbarkeitspapst schreibt 1874 John Henry Newman, Konvertit und späterer Kardinal, an den Herzog von Norfolk über das Gewissen: "Es ist ein Bote dessen, der sowohl in der Natur als auch in der Gnade hinter einem Schleier zu uns spricht und uns durch seine Stellvertreter lehrt und regiert. Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi." Auch dieses Zitat steht im sog. Weltkatechismus (Nr. 1778). Wie jedes katholische Kind seit jeher lernt, müssen wir dem Gewissen folgen. Ein einsozialisiertes Überich kann schrecklich täuschen, das echte Gewissen irrt nicht. Insofern taugt die von Pius IX. verfochtene päpstliche Unfehlbarkeit als aufrüttelndes Bild für die unbedingte Verbindlichkeit des je eigenen persönlichen Gewissens. Was es mir als meine Wahrheit aufträgt, das habe ich zu glauben, zu bezeugen, weiter zu erzählen, egal ob andere grinsen oder wettern. Mir scheint, dieser Lebenspol habe vor lauter ökumenischem Hochgefühl in letzter Zeit etwas geschwächelt, ähnlich wie der Wackelkontakt meiner Stereo-Anlage mich stört. Erschrocken bin ich, als ein junger Bahai spottete, noch nie habe ein Christ versucht, ihn zu missionieren.

Folgende Formel schlage ich vor: Gleich einer Flötistin im Konzert sollen wir aufmerksam und offen alles um uns her vernehmen und zugleich treu unseren bestimmten Part ausführen. Das eine ist so wichtig wie das andere. Treue ohne Offenheit wäre fundamentalistische Enge, Offenheit ohne Treue wäre relativistischer Brei: Die einem Gewissensurteil entspringende Tat muß stets mono sein, einen Pol einer Spannung verwirklichen, so ist die Schöpfung gewollt.

Stereo sind wir nur miteinander. Seien wir es denn, als lebendige Pinselstriche im wunderbaren Gemälde von Gottes vielbunter Weisheit (Eph 3,10 wörtlich: das Wort polypoikilos beschreibt z.B. einmal einen Blütenkranz). Wer sich dann und wann eigener Sturheit schämen muß, mag in der Seligsprechung des Unfehlbarkeitspapstes sogar einen Trost erblicken. Pio nono war nicht böser, nur mächtiger als unsereins. Seligsprechungen darf man mißachten. Doch kann ich mir gut vorstellen, daß jemand sich an beide Päpste wendet: Ihr Zwei so Gegensätzlichen, haltet mir das Seil, damit wie der Kirche im Großen so im Kleinen auch mir der Seiltanz gelinge, daß ich weder nach rechts auf den Felsen hartherziger Rechthaberei stürze noch nach links in den Sumpf nichtssagender Formlosigkeit.

September 2000

Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/mt161823.htm

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