Jürgen Kuhlmann

Neue Naherwartung

Jesus hat den Anbruch von Gottes Reich für bald angekündigt, die ersten Christen rechneten fest damit, ihn persönlich zu erleben. Erst Lukas mußte sich daran machen, die weiterlaufende Zeit der Kirche theologisch zu verarbeiten. Seither sind fast zwei Jahrtausende vergangen, und selbst einer Atomkatastrophe würde kaum alles menschliche Leben erliegen. Gibt es für uns keinen Weg zurück zu jenem hochgespannten Anfang, müssen die Großkirchen die Naherwartung ferner ein paar Sekten überlassen, die bei nicht eintreffendem Weltuntergang schon keinen Ruf mehr zu verlieren haben?

Johann Baptist Metz sieht es nicht so. Er ruft uns eindringlich auf: "Die leidenschaftliche Erwartung des 'Tages des Herrn' führt weder in eine pseudoapokalyptische Traumtänzerei, in der alle praktischen Zumutungen der Nachfolge verdampft und vergessen wären, noch treibt sie in jenen gesinnungslosen Radikalismus, für den die Gebete der Sehnsucht und der Erwartung nur durchschaute Formen der Verweigerung oder der Selbsttäuschung sein könnten. Naherwartung erlaubt keine Vertagung der Nachfolge. Nicht das apokalyptische Lebensgefühl macht apathisch, sondern das evolutionistische. Es ist das Zeitsymbol der Evolution, das die Nachfolge lähmt; Naherwartung dagegen versieht die evolutionistisch beruhigte und verführte Hoffnung mit Erwartungs- und Zeitperspektiven. Sie bringt Zeit- und Handlungsdruck in das christliche Leben." [Glaube in Geschichte und Gesellschaft (Mainz 1977),156]

Auf die Ewigkeit unser Herz ausstrecken sollen wir innerhalb des Jetzt; in unserem und der Dinge Innerem sozusagen, keinesfalls auf der Zeitlinie vorwärts schielend, in Richtung auf ein späteres Dann. Daß wir uns - die wir jetzt sind - erlöst im Himmel wiederfinden, diese unendliche Tatsache soll ich nicht auf einem anderen Punkt der endlichen Zeitachse ansiedeln, das wäre gelogen, denn einen solchen Punkt zeigen Kalender und Uhr niemals an. Doch wird (so vertraut unser Herz) das ewige JA jedes scheinbar durchnichtete Jetzt in sich selbst entnichten, ins unvergängliche Sein hinein retten - und jedes bittere Jetzt jäh einschmelzen in den befreienden Jubel des Ganzen.

Es ist leicht einzusehen, daß solche im Jetzt gelebte Hoffnung den Grenzfall einer unmythologischen Naherwartung verwirklicht. Nicht auf irgendein fernes Dann richtet sie sich ja, vielmehr auf die unmittelbare Verewigung der gerade erlebten Situation. Sooft ich mir das klar mache, durchrieselt mich die schärfste Spannung: Mein Gott, wie wird dies jetzt DANN sein? Jene unbekannten Menschen um mich her - welche Schicksalsfäden verbinden sie mit mir? Der Komponist der schönen Orgelmusik, die in der alten Kirche eben geprobt wird, wer wird er - auch mir DANN - damals gewesen sein, als er seine Harmonien fügen durfte? Und die vielen Orgelspieler und -hörer, die seither bei diesen Klängen gefühlt, gebetet und gehofft haben oder das in späten Jahrhunderten noch tun, werden wir uns alle DANN zu einer Gemeinde zusammenfinden?

Ich bezeuge: wer seine Stunden und Tage als ebenso viele Lebenskreise vollzieht, deren jeder unmittelbar verewigt wird, ohne den Umweg über einst, der lebt nicht mehr in der von Metz angeprangerten Stetsbereitschaft, der mogelt sich nicht hinaus aus der zeithaften Grundverfassung des Christentums. Vielmehr ist er, ähnlich wie die ersten Christen, erregt auf den Tag des Herrn ausgespannt. Wie kann solcher Ausblick aber zur Grundstimmung einer Gemeinschaft werden? Das war die Lage der Urchristenheit. Ist sie auch heute möglich? Können aufgeklärte Christen an der Wahrheit der Naherwartungssekten teilhaben, ohne deren Unsinn mitzumachen? Dies zu Recht fordern ist eines - wie wäre es zu fördern?

Jede Eschatologie arbeitet mit einer bestimmten "Optik", je nachdem, welcher Seinswelle Ende bedacht wird. Geht es um mein Einzelleben, dann gilt die Auferstehung im Tode. Betrachten wir die Weltgeschichte, so warten wir auf den Jüngsten Tag. Zieht sich alles auf meinen jeweiligen Jetztvollzug zusammen, dann kann man von der Verewigung des Augenblicks sprechen.

Warum verwandte die Urchristenheit eine vierte, die Optik der Naherwartung? Weil sie eine lebendige, solidarische Gruppe war. Eine solche lebt stets im Katastrophenbewußtsein, weiß ihr Ende nahe, Eltern spüren das: selbst wenn es uns gelingt, unsere Kinder vor Autos und Drogen zu beschützen, gehen sie doch bald fort, sind hoffentlich freie und glückliche Menschen, aber gewiß nicht mehr diese wunderbar herzigen Wesen wie jetzt. "Kinder, es ist die letzte Stunde" (1 Joh 2,18) - laßt sie uns nicht bloß fotografieren, sondern vor allem so leben, daß sie - vorbei - nicht leer gewesen sei!

Oder denken wir an eine Befreiungsgruppe, z. B. christliche Sandinisten in Nicaragua vor des Diktators Sturz. Wissen sie nicht aus der Geschichte, wie es noch jeder Revolution nach ihrem Sieg ergangen ist? Haben sie nicht das persische Beispiel vor Augen? Kinder, es ist die letzte Stunde, nie mehr wird es so wie jetzt.

Nicht zu leugnen ist freilich, daß die Urchristenheit auch Züge einer Sekte aufwies. Man erwartete den baldigen Untergang der Welt, ja erhoffte ihn als Anbruch der eigenen Herrschaft. Von diesem Geist hielt Jesus wenig (vgl. Mt 20,20-23). Als triumphalistische Gebärde ("Bald werden wir es euch schon zeigen!") scheint mir die Naherwartung nicht besonders christlich. Sollte sie nicht eher das bittere Bewußtsein des baldigen Todes einer einmaligen Gemeinschaft sein, ausbalanciert von der Hoffnung auf deren Unzerstörbarkeit in Gott?

Pflücke den Tag, sagt der Heide; knapp ist die Zeit, kauft sie aus, ruft Paulus (1 Kor 7,29; Eph 5,16). Beides klingt gleich; der Gegensatz liegt im Motiv. Der Tagpflücker will ihn auch selbst essen und ist bald satt und gelangweilt; wer die knappe Zeit aber im Dienst der Liebe nutzt, bangt um "der Liebe Dauer" (F. Freiligrath). Das ist weder die Zeit der Physik noch die Weltgeschichte noch meine Lebensjahre noch ein Moment, sondern eine durch unbekannte Faktoren - Gräber gibt es vielerlei - bedrohte Spanne:

"O lieb, solang du lieben kannst!
O lieb, solang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
wo du an Gräbern stehst und klagst!"

Ein Liebender läßt sich in seinem Protest gegen das Sterben nicht von Epikurs ebenso berühmtem wie falschem Argument abwiegeln; es bezieht sich halt nur auf den individuellen Tod, nicht aber auf das Ende eines lieben Wir: "So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen" (Brief an Menoikeus).

Ihre volle Kraft entfaltet "Nachfolge in Naherwartung" (Metz) dort, wo das Urchristentum entstand: am Rande der Gesellschaft. Eine Basisgemeinde in einer Favela von Rio, deren Mitglieder dank glühend-apokalyptischer Bilder tief überzeugt sind, daß eben jetzt, wo die Bulldozer ihre Hütten zersplittern, Gottes Gericht über die sündige Welt schon ergeht, in welcher Haltung, mit welchen Worten und Taten werden sie den Vertretern des Regimes entgegentreten? Sobald ein Existential nicht mehr nur privat sondern öffentlich in einer Gruppe sich vollzieht, wird es notwendig politisch. Ist der Verdacht ganz abwegig, daß in den reichen Kirchen der ersten Welt der Glaube mehr gemeindlich beredet als gemeinsam gelebt wird und daß wir darum ein dermaßen mattes Licht der Welt sind?

Die Urchristenheit war ein Netz von Basisgemeinden. Laßt in Europa neu solche erstehen, und eine - kritische, nicht mehr mythologische - Naherwartung wird sie erfüllen. Diese unentbehrliche Optik bildet zusammen mit den anderen End-Einstellungen das geistige Gefüge der Hoffnung, die in den Christen ist, Wann steckt sie die vielen an? Vielleicht dann, wenn die Kirche bei der Verkündigung ihrer Hoffnung endlich nicht mehr monopolistisch auftritt. Denn Ernst Bloch hat recht: Daß die Leugnung des Ewigen Lebens in gewissen Kreisen als chic gilt, liegt nicht nur an deren Unglauben!

"Beiden Meinungen gegenüber gilt wissenschaftlich, also auch für die mechanistisch-nilhilistische nur ein non liquet; denn das gegebene Material reicht für beide Antworten nicht aus, um mehr als ein Peut-ętre fürs Überdauern wie aber auch fürs Nicht-Überdauern herauszuschlagen. Mit dem wissenschaftlichen Unterschied aber, wie ihn Kant in den ‚Träumen eines Geistersehers' angibt: daß bereits das kleinste festgestellte Zeichen postmortaler Art genügen würde, um die ganze Sphäre zu retten, während die pure Abwesenheit solcher Zeichen noch nicht ausreicht, um die ganze Sphäre dogmatisch zu verneinen. Ideologisch tritt überdies das durchaus nicht nur wissenschaftliche Interesse hinzu, das das Bürgertum seit der Renaissance (Pomponazzi, de immortalitate animae, 1516) sehr oft am leibseelischen Tod hatte; zum Zweck, dem Untertan die entnervende Höllenfurcht zu nehmen und vor allem dem heiligen Rom seine lösende Schlüsselgewalt. Von daher das längerwährende Befreiungsgefühl, die revolutionär gewordene, keinesfalls auch niederdrückende Reproduktion des Kohelet-Satzes, der Mensch gehe dahin wie das Vieh; das politische Bonum von damals überdeckte den tiefen, nicht einmal tiefen Pessimismus dieses Satzes. Samt der Entwertung, die ja nicht nur, mit wieviel Recht, den oppressiv gebrauchten Jenseitsschreck wegnimmt, sondern auch jede versuchte Sinngebung über den Tod hinaus. Und nun auch, weit über die individuelle Vernichtung hinaus, das gesamte Menschheitswerk einsam, sinnlos, vergeblich macht - mit dem schließlichen Hintergrund kosmischer Entropie oder vorher des Atomtods auf Erden."
[Atheismus im Christentum (Frankfurt/M 1968,340]


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