Jürgen Kuhlmann

Der Fels des Anstoßes

Bei einem evangelisch-katholischen Gespräch im kleinsten Kreis waren kürzlich alle Teilnehmer auf einmal ratlos betroffen angesichts einer Folgerung, die unvermittelt im Raume stand, von beiden Seiten bejaht und doch beiden mehr als unheimlich: "Selbstverständlich ist der Papst entweder der Stellvertreter Christi oder der Antichrist - dazwischen gibt es nichts." Die daraus sich ergebende Frage wurde zwar nicht ausgesprochen, war aber doch zum Greifen spürbar: Wenn das so ist, wie können wir dann hier munter beisammensitzen? Denn das eine kann ein Evangelischer unmöglich glauben; mit dem Antichrist und seinen Helfern aber - wie kann es da auch nur irgendeine Gemeinschaft geben? Mit dieser für Katholiken ungewohnten Problematik wollen wir uns im Folgenden beschäftigen.

An jenem Satz selbst ist wohl nicht zu zweifeln. Die Machtfülle, die der Papst für sich in Anspruch nimmt, sprengt derart jedes menschliche Maß, daß nur ein besonderer Wille des Herrn selbst oder aber widerchristliche Anmaßung ihre Quelle sein kann. Wer dagegen im Papst eine zwar natürlich nicht unfehlbare, aber doch achtunggebietende und segensreiche menschliche Autorität sieht, wer sich also sozusagen das "Papstbild der Welt" zu eigen macht, der hat von der Tiefe der Geschichte nichts begriffen. Ein Mensch, der allen Ernstes von sich sagt, er sei unfehlbar, und der das Bekenntnis zu dieser seiner Unfehlbarkeit und die entsprechende Gefolgschaft zur Bedingung des ewigen Heiles erklärt: der ist entweder der von Gott selbst eingesetzte Führer der Menschheit oder ihr Feind Nr. 1, der große Verführer, umso abscheulicher, je geschickter er, durch einzigartige Mischung von Demut und Prunk, die Ieichtgläubigen Massen betört. - Wie soll aber, dies alles einmal eingesehen und ausgesprochen, ein evangelischer Christ seinen katholischen Partner als Bruder in Christus annehmen, d. h. das Gemeinsame entscheidend über das Trennende stellen können?

Vielleicht sollten wir Katholiken anerkennen, daß die bleibende Kühle der anderen, auch und gerade nach dem Konzil, immer noch verständlicher ist als unsere eigene, erst in jüngster Zeit endgültig gesprengte Verschlossenheit: nach dem katholischen Modell des Verhältnisses der Konfessionen ist die allverbindende Liebe nämlich viel leichter zu leben als nach dem evangelischen. Das folgende Gleichnis scheint ziemlich deutlich: Ein Herr hat zwei Mägde, denen er etwas Bestimmtes aufträgt. Beide gehen gemeinsam hin, es auszuführen. Bald aber gibt es Streit; denn die eine hat klar gehört, wie Er sie als Haupt auch der anderen eingesetzt hat. Gerade das hat aber diese, infolge einer gewissen leichten Taubheit, nicht mitbekommen. Ohne Bild: Nachdem die katholische Kirche die Spaltung lange der Bosheit der anderen, zumindest ihrer ersten Häupter, zur Last gelegt hat, ist ihr jetzt die Erkenntnis geschenkt worden, daß der Protest der Protestanten, soweit er Unrecht hat und sich gegen Christi Anordnung richtet, möglicherweise von einer Taubheit herrührt, zu der die Schuld beider Seiten schließlich führte. Somit erkennen wir jetzt die anderen als Brüder an, die dem Herrn selbst nicht ferner stehen als wir (ja, die taubere Magd könnte durchaus in manchem die treuere sein!). Diese tiefe Einheit in Christus wird von der gleichzeitigen Getrenntheit im genaueren Verständnis seines kirchestiftenden Willens nicht angetastet: In einem letzten, existenziellen Sinn ist dem hoffenden Glauben die Spaltung bereits überwunden.

Ganz anders stellt die Lage sich dem Protestanten dar. Er kann jenes Wort nicht vernehmen, mit dem Christus das Papsttum eingesetzt haben soll. Folglich kann er in der katholischen Position nicht die Wirkung einer Taubheit sehen, sie wird ihm vielmehr als unerträgliche Eigenmächtigkeit vorkommen. Der entscheidende Unterschied scheint der: Ein (im großen Gesamtklang) bisher überhörtes Wort vermag der treu Lauschende irgendwann vielleicht noch aufzunehmen; ein aus Eigenem dazugedichtetes und in den Kern der Existenz überführtes aber nicht mehr zurückzunehmen. Der Katholik (dem womöglich überdies die gar nicht so hehre Auslegungsgeschichte von Mt 16,18 vertraut ist!) darf den Protestanten ohne weiteres als einen "Katholiken im Werden" ansehen, der nur eben im Wachstum zurückgeblieben ist und gewisse Wahrheiten noch nicht "tragen" kann; in der Erkenntnis des Glaubens noch wachsen zu können ist aber, wie für die katholische Kirche, so auch für die evangelische keine Schande. Umgekehrt wird das katholische Dogma dem Protestanten als greulicher Mißwuchs erscheinen, der zudem keinerlei Aussicht auf Besserung bietet, sondern nur um so verderblicher wird, je bewußter er sich wiederum vom Mark des Evangeliums selber nährt. Mir scheint nun, es gebe in dieser Lage für einen evangelischen Christen grundsätzlich drei verschiedene Möglichkeiten, zur katholischen Kirche Stellung zu beziehen.

1. "Der Papst ist der Antichrist und weiß es." Das ist (?) die These der Reformatoren. Sie wird heute wohl nicht mehr offen vertreten. Wer sie hielte, müßte sich einen unzuständigen Richter heißen lassen. Keiner darf einen Mitmenschen zum Glied des Teufels erklären.

2. "Der Papst ist der Antichrist; vielleicht wissen er und die Seinen das aber gar nicht, wollen vielmehr auch Christen sein." Dieser Ansicht sind gewiß viele Protestanten. Sie billigen uns also den nämlichen guten Glauben zu wie wir ihnen und beten mit dem Herrn: Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. An die Möglichkeit einer Wiedervereinigung glauben sie freilich nicht; denn ein Mißwuchs kann sich nicht zur vollen Wahrheit entwickeln, sondern müßte abgeschnitten werden; eine enthauptete katholische Kirche aber wäre kein Verhandlungspartner mehr. Wer so denkt, kann die römische Kirche folgerichtig nicht als Kirche anerkennen, sondern höchstens eine nicht näher feststellbare Gesamtheit von Katholiken als unsichtbare Gemeinschaft unsichtbar Glaubender ehren; als sichtbar verfaßt, ist die katholische Kirche für ihn keinesfalls eine der Kirchen, freilich auch keine Sekte, vielmehr die Gegenkirche des Antichrist. Es liegt auf der Hand, daß in dieser Richtung auch das freundlichste Gespräch keinen Schritt weiter führt.

3. Es gibt aber nun noch eine dritte Möglichkeit, evangelisch zu sein: "Vielleicht ist der Papst der Antichrist und weiß es nur nicht. Vielleicht ist er es aber auch nicht, sondern die evangelische Kirche hat nicht sorgsam genug gehört und darum die Tragweite von Mt 16,18 und Jo 21,17 bislang unterschätzt. Ich weiß nicht, wie es ist. Ich habe aber jedenfalls das Wort, mit dem der Herr seiner Kirche das Papsttum als dauerndes Amt eingestiftet hätte, nicht gehört. Ich kann es in der Schrift nicht finden und darum auch keines der Schafe des Papstes sein. Und all meinen vielen Glaubensbrüdern, mit denen ich die heilige Kirche bin, geht es ebenso. Dennoch rechne ich aufrichtig mit der Möglichkeit unserer Taubheit und bin bereit, mich auch von der römischen Kirche im Namen Christi befragen zu lassen."

Für einen solchen Protestanten wäre die katholische Kirche ein ganz bewußt als solches anerkanntes ungelöstes Lebensrätsel: Stätte der kirchlichen Einheit oder Sitz des Antichrist?

Erst wer diesen Zweifel aushält, ohne in ein ablehnendes Scheinwissen sich zu flüchten, ist auf evangelischer Seite wahrhaft ökumenisch gesinnt. Jeder andere kann zwar die einzelnen Katholiken und sogar ihre Summe, nicht aber die katholische Kirche partnerschaftlich achten. Es erhellt, daß ökumenische Aufgeschlossenheit von Gott her den Katholiken leichter als den Protestanten fällt: während wir bei grundsätzlicher Sicherheit über den Wert der anderen Kirchen (als dogmatisch wesentlich zurückgebliebener, aber echter und wachstumsfähiger Teilkirchen) nur im einzelnen zweifeln, welche ihrer Züge zur einen Kirche gehören und welche irrig sind. steht der Protestant beständig vor dem einen quälenden Problem: mag die katholische Kirche im einzelnen so vollkommen werden wie sie kann - aber was ist sie eigentlich? Für oder wider IHN? Das von mir noch verkannte Werk Christi oder die verfluchte Satansschöpfung?

Bei aller Schwere ist die oben beschriebene dritte Haltung den Evangelischen doch grundsätzlich möglich. Denn bei genauer Prüfung werden sie (vielleicht) erkennen können. daß ihre lose Interpretation von Mt 16,18 nicht göttlicher Glaube, sondern menschliche Meinung ist. Vielleicht fragen sie sich einmal: Wäre ich bereit, dafür, daß Mt 16,18 kein in der Kirche fortdauerndes Felsenamt begründet, meinen Kopf auf den Block zu legen? Die wenigsten werden es sein, und diese nicht als Gläubige, sondern als Fanatiker.

[Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Evangelischer sich lieber töten als zum positiven Bekenntnis des Petrusamtes zwingen ließe. Dabei hätte er recht, stürbe jedoch nicht eigentlich für seinen Glauben, sondern um der unaufgebbaren Freiheit seines Gewissens willen; der Glaube verlangt nämlich immer ein Bekenntnis einer Wahrheit. Ein bestimmtes Bekenntnis persönlich abso!ut nicht leisten zu können bedeutet aber noch lange nicht, das Gegenteil mit absoluter Sicherheit als wahr zu bekennen!]

Thomas Morus jedoch und die vielen anderen, die für Christus gestorben sind, gerade insofern Er das Petrusamt will, sie waren keine Fanatiker. Sie haben nicht gemeint, sondern geglaubt. Das bedeutet aber, daß die Frage nach dem Papst für einen evangelischen Christen, anders als für den Katholiken, vom Glauben her offen bleibt, so abgeschlossen sie auch in allen anderen Hinsichten erscheinen mag.

Diese Offenheit der Papstfrage ist wohl das ökumenische Nahziel. Denn wo ein Protestant diesen Zweifel männlich erträgt, da sind wir von ihm, was diesen Punkt betrifft, im Glauben schon nicht mehr getrennt, wenn auch noch nicht eins. Bei der Trennung steht entweder Glaube gegen Glaube (d. h. verschiedene Seiten des einen Glaubens finden noch nicht zueinander) oder aber (wie hier) Glaube gegen Meinung, die sich als Glaube mißversteht. In der Einheit herrscht derselbe Glaube. Wo aber Glaube dem Zweifel gegenübersteht, da ist weder Trennung noch Einheit, sondern ein namenloses Mittleres, die unüberspringbare Zwischenstufe auf dem langen Weg von der Trennung zur Einheit.

Wie können nun die Katholiken zu solcher Öffnung der Papstfrage mithelfen? Durch die Liebe allein. Denn darum geht es, ob die römische Kirche die Burg Satans sei oder nicht. Der Fürst dieser Welt aber kann fast alles, und die Theologie dürfte seine Lieblingswissenschaft sein. Nur lieben, das kann der Teufel nicht.

Naila 1966

Veröffentlicht in UNA SANCTA 1966, 55-58

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