Jürgen Kuhlmann

Glaube gegen Angst

Kampf den falschen Gottesbildern


»Ich zweifel halt allweil.« Bekümmert schaut Tante Paula mich an. Zehntausenden hat sie - als Hebamme - ans Licht der Welt geholfen, fast hundert Jahre lebt sie aus dem christlichen Glauben. Und jetzt, an der Schwelle des Todes, fürchtet sie sich vor Gott. Denn Zweifeln, hat sie gelernt, ist eine Sünde. Ich habe sie damals zu trösten versucht, ihr von Gottes Liebe gesprochen. Überzeugend? Ach, das alles hat sie längst gewußt. Doch kam die Frohe Botschaft bei ihr nicht an.

Krankenhausseelsorger berichten von abgründiger Straf-Angst bei alten Menschen. Und haben wir nicht alle dazu Anlaß? Erschrecke ich nicht immer wieder, sooft in irgendeiner Situation aufkam, wie herzlos ich sein kann, wenn eine eigene Selbstverständlichkeit bedroht wird? Dann erzittert mein Innerstes. Mögen Psychologen und Historiker noch so trefflich nachweisen, welche einsozialisierten Mechanismen hier wirken, welch uralte Höllengespenster unser Unterbewußtsein bannen - diesen Erkenntnissen stimmt der Verstand zwar zu, sie lösen aber nicht die Angst. Von der Neonlampe der Wissenschaft wird die Nacht nur erhellt, nicht überwunden.

Morgens, wenn die Sonne aufgeht, bleichen die Gespenster. Ausgetrieben wird die Angst allein vom Licht des Glaubens selbst. Von zwei erlösenden Begegnungen mit Glaubenszeugnissen berichte ich. Das erste stammt aus unserer Zeit, das zweite aus der frühen Aufklärung vor bald dreihundert Jahren.

Albert Biesinger (*1948) schreibt [Christsein 2001, hgg. v. J. Röser (Freiburg 1998), 166 f]: »Vor Gott Angst zu haben, empfinde ich als eine Beleidigung Gottes. Wer vor Gott Angst hat, macht aus Gott einen Götzen, macht aus Gott ein Göttlein. Ehrfurcht vor Gott ist eine Schlüsselerfahrung, die mir wichtig geworden ist; Ehrfurcht, aber nicht Angst.«

Nach der Lektüre dieser Sätze schließe ich dankbar Augen wie Buch. Ja, das ist es. Wenn die Angst vor Strafe erst recht Strafe verdient: dann erweist die ganze Straflogik sich als Unsinn, verpufft ohne Rest. Zerrissen ist das Angstgewölk, hell schimmert das Morgenrot der Heilszuversicht. Zum Glück ist mein heimlich bohrendes Angstgefühl nicht meine Tat, nur ein altes Seelenübel, zu Unrecht an den Himmel projiziert. Ich will es nicht, will Dich nicht kränken, mein Gott. Was ich sein will und dank Deiner Gnade bin, ist allein das unbändige Vertrauen zu Dir.

Am stetig sich erhellenden Morgenhimmel erscheint plötzlich, unverwechselbar aufblitzend, die Sonne selbst. Ähnliche Klarheit empfand ich beim Lesen der Gedanken, die 1707 Anthony Earl of Shaftesbury (1671-1713) in seinem »Brief über den Enthusiasmus« [4. Abschnitt, dt. Leipzig 1909, 21 f] formuliert hat: »Wir müssen nicht nur in der gewöhnlichen guten Stimmung sein, sondern in der besten Laune, in der mildesten und schönsten Lebensverfassung, um zu verstehen, was wahre Güte ist und was die Attribute bedeuten, welche wir mit soviel Beifall und Ehre der Gottheit zuschreiben. Dann werden wir am besten sehen, ob diese Art der Gerechtigkeit, diese gesteigerten Strafen, dieses Rachegefühl, dieses Beleidigtsein, das wir in der Regel in Gott annehmen, den ursprünglichen Ideen von Güte entspricht, welche dasselbe göttliche Wesen oder die Natur unter ihm in uns eingepflanzt hat, und welche wir notwendig annehmen müssen, um ihm Lob und Ehre jeder Art zu geben. Darin, mein Lord, liegt die beste Sicherheit gegen jeden Aberglauben, sich nämlich daran zu erinnern, daß in Gott nichts ist als Göttliches, und daß er entweder überhaupt nicht ist, oder wahrhaft und vollkommen gut. Aber wenn wir uns fürchten, sogar über diese Frage freimütig nachzudenken, ob er wirklich ist oder nicht, dann setzen wir ihn tatssächlich als schlecht voraus und widersprechen glatt jenem vorgeblichen Charakter von Güte und Größe, indem wir dieses Mißtrauen in seine Stimmung bekunden und seine Rache und Strafe für solch freies Denken fürchten.«

Denken wir beide Texte zusammen. Jener Gott, vor dem soviele »Gottvergiftete« zitterten und zittern, der Tyrann, Vampir, Schinder unserer Höllenbilder, er ist bloß ein selbstfabrizierter Götze, existiert in Wirklichkeit überhaupt nicht. Der wirkliche Gott hingegen, vor dem unser Herz Ehrfurcht empfindet, ist wahrhaft und vollkommen gut, verdient unser angstloses Zutrauen.

Sind wir aber nicht, das eine falsche Gottesbild abwehrend, einem anderen verfallen: dem harmlosen »Kuschelgott« sovieler langweiliger Predigten, der niemanden ergreift, weil eben auch er eine Projektion ist, nicht der Angst diesmal, sondern der selbstverliebten Gemütlichkeit?

Das Erschrecken vor eigener Bosheit ist heilsam. Wir sollen den strengen Richter aller Lieblosigkeit nicht zum »lieben Gott« entmächtigen, der es schon nicht so ernst meint mit seinen Geboten, der zuletzt schon alle Fünfe gerade sein läßt. Gewiß nicht. Es gilt aber zu begreifen: Weil ein glaubender Mensch zuinnerst mit dem Ewigen Gericht einverstanden ist, deshalb richtet Gott ihn her, nicht hin. Wie der Richter, bin auch ich selbst gegen meine Lieblosigkeit. Ich verdamme sie. Und bin bereit, mich vor allen Menschen, besonders den von mir Verletzten, dafür zu schämen. Die heiße Röte von Schande und Scham: sie wird bedeutet vom Symbol des höllischen Feuers.

Allerdings braucht, wer andere Wesen quält, die Gerichtsbotschaft der Religion. Sie stimmt - sonst wäre Alles unstimmig. Wer böse sein will, muß erfahren, daß er rettungslos verloren ist, denn »mein ist die Rache«, redet Gott. Die Angst vor ihr ist gut. Um die Furchtbarkeit der göttlichen Strafen deutlich zu machen, hat die Religion den Bösen seit jeher körperliche Schmerzen angedroht: weil wir Menschen davor so heftig zurückschaudern. Dieses Erziehungsmittel mag gut gemeint gewesen sein; heute ist seine Zeit vorbei. Statt den gerechten Richter zu fürchten, verachtet der aufgeklärte Mensch den allmächtigen Folterer. Trauen wir uns deshalb, den wahren, geistigen Sinn der Höllen-Strafen zu betonen. Nur sein greifbares Zeichen sollte der vorgestellte Körperschmerz sein, es ist unlesbar geworden. Würde jener balkanische Schlächter-General, dessen Tochter vor seiner Schande in den Tod geflohen ist, sich nicht - könnte er sie dadurch wieder ins Leben rufen - freiwillig ohne Narkose ein paar Zähne ausreißen lassen?

So wie Jesus uns Gott geoffenbart hat, mißachtet er nicht - durch grausame Folterungen - die Würde des Menschen, sondern begründet und rettet sie. Trotz aller Greuel der »christlichen Jahrhunderte« ist der weltweite Kampf gegen die Todesstrafe eine Spätfolge des Evangeliums. Da sollten Christen ihr Gottesbild nicht länger mit den Zügen eines allerhöchsten KZ-Kommandanten ausstatten, der selbst saubere Hände behält, bloß seine Schergen und höllisch dressierten Hunde auf die Wehrlosen hetzt. Nein: Gott ist die LIEBE. Wer sich ihr ausdrücklich verweigert, endet in Schande, wie eine abgestürzte Computerdatei - noch da und trotzdem total sinnlos. Wer sich aber gegen eigene wie fremde Bosheit auf die Seite der Liebe stellt, muß, darf sich nicht fürchten. Habt keine Angst: »Kein Haar von eurem Kopf geht verloren« (Lk 21,18).

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