Jürgen Kuhlmann

Osterbrief an ein Ungeborenes

Was ist der Unterschied zwischen einem Christen und einem Ungläubigen?

Chesterton antwortet mit einem seiner exaktesten Geistesblitze - für den Ungläubigen ist Ostern ein Symbol des Frühlings, für den Christen ist der Frühling ein Symbol für Ostern. Ich glaube an Ostern! Was heißt das? Du kennst die übliche Auskunft. Jesus ist von den Toten auferstanden. Auch wir werden am Jüngsten Tag leiblich auferstehen.

Was soll ein Mensch des wissenschaftlichen Zeitalters sich bei diesen Worten denken? Selbst wenn irgendwelche Moleküle sich am Ende der Zeiten - wann? - als Ergebnis eines gewaltigen Wunders - wie? - wieder zu etwas zusammensetzen sollten was meinem früheren Körper gleicht, ich wäre das trotzdem nicht, denn ich bin nicht nur biochemisch bestimmt, sondern zuinnerst auch durch mein Zeitalter. Ein sonst gleiches Gebilde kann allein dadurch, daß es an einer anderen Zeitstelle des Raum-Zeit-Kontinuums existiert, schon nicht mehr mit mir identisch sein. Ein arges Dilemma droht. Haben die Christen recht, dann ist dieses Leben sinnlos. Denn das Leben nach dem Tode ist ein anderes, kann dieses nicht innerlich retten. Und haben die Ungläubigen recht, dann ist dieses Leben ebenfalls sinnlos, denn der Sieg gehört von vornherein dem Nichts.

Wer so denkt, mißversteht aber Ostern. In Wahrheit ist alles viel einfacher und schöner. Derselbe Augenblick, da ich dies jetzt schreibe, wie auch der andere, da Du dies dann lesen wirst - jetzt liest, von Dir aus gesehen - beide gehören sie unmittelbar zum ewigen Osterleben. Klar machen kannst Du Dir das am Beispiel der Musik. Ich singe ein Lieblingslied vor mich hin:
"Die linden Lüfte sind erwacht, nun muß sich alles, alles wenden - nun muß sich alles, alles wenden."

Nach und nach baut das Lied sich auf. Ton folgt auf Ton, Silbe auf Silbe. Physikalisch sind die linden Lüfte bereits vorbei, für immer unwiederbringlich vergangen, wenn ich "erwacht" singe. In meinem Bewußtsein sind sie in diesem Augenblick aber noch Gegenwart, andernfalls könnte ich nie die Schönheit einer Melodie, nie den Sinn einen Satzes erfassen. Sing ein Lied und mach selbst die Probe. Am Ende eines Melodiebogens wirst Du deutlich spüren, daß sein Anfang Dir noch Gegenwart ist.

Freilich schaffen wir diese subjektive Vergegenwärtigung des objektiv Vergangenen nur wenige Sekunden lang. Das mindert aber nicht die Leuchtkraft des Gleichnisses. Denn ähnlich wie unser zeitliches Bewußtsein den physikalischen Anfang einer Melodie bis zu ihrem Ende durchhält, so hält des Universums ewiges Bewußtsein alle empirisch vergangenen Geschehnisse ohne Ende in seiner unendlichen Gegenwart fest. Wesen für Wesen, Epoche für Epoche baut die Geschichte sich auf. Die Gegenwart im Sinn von schöpferischer Aktualität ist jeweils scharf begrenzt. Jetzt ist es 10.53 Uhr am 6. April 1978. Jetzt entscheide ich, wie dieser Gedankengang fortgeführt wird. Später kann ich zwar noch in dem Geschriebenen herumstreichen, für immer wird aber auf dem zuvor weißen Papier das gestanden haben, was ich jetzt niederschreibe.

Von vielen möglichen Zukünften verwirklicht sich jetzt eine. Insofern im gegenwärtigen Augenblick eine bestimmte Weiche dieses einzige Mal und für immer gestellt wird, insofern geschieht jedes Ereignis nur einmal und ist dann vorbei. Anschaulichster Vergleich ist die Trambahn, deren Fahrer sich selbst die Weichen stellt. Ist die Weiche einmal gestellt, dann liegt die Richtung an diesem Punkt der Raum-Zeit-Linie für immer fest. Das schadet nichts, denn die aktuelle Gegenwart selbst kann ja nie vergehen. Immer ist es gerade jetzt. Jeden Augenblick ist neu eine Weiche zu stellen.

Was aber wird aus den Ereignissen, wenn sie vorbei sind? Wo sind Sonne, Sandburg und die Lustigkeit der jungen Mutter damals am Strand von Zinnowitz? Wo ist das gelungene hohe G des Sopranisten, wo die Triumphe des Kopfballtorwarts, das Nachtbad in San Pastore, und so viel anderes?

Gerade so fragten Jesu Jünger traurig nach dem blutigen Drama von Golgatha. Wo sind die Bootsfahrten auf dem See Genezareth, wo die wunderbaren Gespräche über das Reich Gottes? Wir hatten doch gehofft, er werde Israel erlösen. Jesus , lieber Freund, menschlichster und freiester aller Menschen, wo bist Du?

Hier bin ich. Was zweifelt ihr? Meint ihr wirklich, Zeit und Tod seien stärker als unsere Gemeinschaft? Als die Selbstgewißheit und Siegesfreude, die ich euch vorgelebt habe? Merkt ihr immer noch nicht, daß Gottes Reich längst da ist? Glaubt ihr, Gott könne je vergessen, was wir zusammen erlebt haben? O nein! In Gottes treuem Gedächtnis bin ich jetzt als schon gesungene Melodie ebenso Gegenwart wie damals, als ich mich sang. An euch liegt es, wie unser Lied weitertönt. Ich helfe euch, daß es kein Ende nimmt, solange es Menschen auf dieser Erde gibt. Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt.

Und auch ihr, meine Freunde dieses späteren Jahrhunderts, ihr seid ebenso unvergänglich wie ich und alle Generationen zwischen uns. Seht ihr die Sonne am Himmel? So wie sie euch jetzt leuchtet, ist sie etwa vor 8 Minuten gewesen, denn so lang braucht ihr Licht bis zu euch. Trotzdem scheint sie euch Gegenwart. Glaubt mir, da wo ich bin, sind alle eure Vergangenheiten ein einziges Jetzt. Drum seid getrost, überlaßt euch jedem Augenblick. Trauert nicht der Lust der Kindheit nach noch dem Schwung der Jugend. Wer beim Flötenspiel an frühere Melodien zurückdenkt, verhaspelt sich leicht mit den Fingern und verdirbt seine jetzt aktuelle Musik. Kümmert euch nicht um gestern, sorgt euch nicht um morgen, hofft und liebt jetzt.

Schau, wer bei einem Fußballweltmeisterschaftsspiel in einer Mannschaft mit guten Aussichten rechts außen stürmt, der kann, während er sich eine Vorlage erspurtet, nicht zugleich sein Dasein für sinnlos halten. Denn sein Lebenssinn ist klar: Ich muß alles daransetzen, den Ball noch vor der Linie zu erreichen. Zehn Mitspieler, elf Gegner, Zehntausende von Zuschauern in der Arena und Millionen Fernseher blicken gespannt auf jeden seiner Schritte. Das Endresultat hängt mit davon ab, was er jetzt tut.

Geht es ihm allein um etwas, was danach kommt, etwa um die Teilnahme am Siegesfest oder gar bloß die fette Prämie? An all das denkt er jetzt nicht, diese Vorlage da muß er sich erlaufen. Das ist Sinn genug. Liefe er dem exakt ebenso weit entfernten und gleich schnell rollenden Ball nach, jedoch auf dem leeren Vorstadtplatz, wo sein Trainer ihn zum sechsten Mal loshetzt, dann könnte er allerdings den Eindruck haben - und hatte ihn oft genug - was er da treibe, sei blöder Quatsch.

Seit Ostern weiß der Christ: meine Tage haben mit all ihren Höhen und Tiefen teil an dem einzigen großen Sinn des Ganzen, der in Jesus sichtbar erschienen ist. Das geringste Ereignis meines Lebens gehört als ganz bestimmter Ton unüberhörbar zur nie verklingenden Sinfonie der Heilsgeschichte. Minute um Minute habe ich mich auf den winzigen Ausschnitt zu konzentrieren, der gerade dran ist. Ort, Zeit und Gehalt sind jeweils eng beschränkt; nie bin ich alles, aber alles ist Alles, und ich habe darin meinen unverwechselbaren Platz.

Und am Ende - wenn ich nicht mehr werde, nur noch bin - dann komme ich zum erstenmal dazu, mich auf das unverklungene Ganze meines Lebens und aller Leben zu besinnen. Denn solange ich noch am Werden bin und eine Weiche nach der anderen stelle, ist mir das Ganze verborgen, einschließlich dessen, was ich selber schon gewesen bin. Das kann nicht anders sein, sonst würde das jeweils Fällige nicht ernst genommen, es gäbe, mangels neuer Töne, keine Melodie. Dann aber wirst du erfahren: Gott, in seinem strahlenden Jetzt, kennt dich von innen. Diese Tatsache ist dein ewiges Leben. Denn wie könnte er ohne dich, an dir vorbei, dich kennen? Die Elektronenwirbel deines Gehirns kann er von außen kennen - dich aber nur so, daß du dabei bist. Andernfalls fehlte dem göttlichen Erkennen sein Objekt, nämlich du selbst als Subjekt.

Davon, wie es dann ist, läßt sich nicht sprechen. Sage ich "nach der Zeit" oder "nach dem Werden", dann versteht jeder Bewohner der zeitlichen Werdewelt das notwendig falsch, denkt heimlich doch wieder eine Zeit und ein Werden und hätte damit freilich den Sinn dieses Lebens verfehlt. Denn der kann in nichts anderem bestehen als im unverlierbaren Bleiben seiner selbst. In diesem Leben ist das Anschauen eines gemalten Bildes, das Lesen eines eben geschriebenen Briefes, das Verkosten eines gerade fertigen Salates - obwohl das nachträgliche Erleben des Erlebnisses sich deutlich genug vom Vorgang der Herstellung unterscheidet - doch auch selbst wieder ein Geschehen, das seine eigene Zeit einnimmt und mich ändert. Insofern und weil bloß das Ergebnis, nicht der zeitliche Vorgang selbst, danach Gegenwart ist, passen alle diese Bilder schlecht.

Ein Vergleich, der alle Aspekte der geheimnisvollen Wirklichkeit gleich gut erhellt, läßt sich nicht konstruieren. Die unmittelbare Identität des Gewesenen mit dem ewig Erlebten wird am deutlichsten beim verklungenen und mir noch gegenwärtigen Anfang der Melodie, die ich eben singe. Den Wert meiner Taten und ihren großen Zusammenhang beleuchtet eher das Gleichnis des Fußballspiels.

Läßt sich auch anschaulich machen, daß die Offenbarung des Ewigen Lebens zwar einerseits nach diesem Leben kommt - denn noch ist sie nicht offenbar -, andererseits aber keineswegs in eine Zeit nach der Zeit fällt? Mit der folgenden Geschichte will ich es versuchen.

Du stehst mit einem guten Freund in der Bahnhofshalle, die Uhr zeigt sieben Minuten vor Mitternacht. Plötzlich eine Lautsprecherstimme: Achtung, Achtung, es ist eine Bombendrohung ergangen. Räumen Sie sofort das Bahnhofsgelände. Alles drängt zu den Ausgängen. Auch dein Freund ruft: Komm! und rennt weg. Du bleibst stehen, an solchen Unsinn glaubst du nicht. Wie der Zeiger auf die volle Stunde springt, tut es einen lauten Schlag. Und eine Stunde darauf sieht man deinen Freund mit einer Taschenlampe nach dir suchen. Er findet etwas, hält Deinen abgerissenen Kopf vor sich hin und fängt an zu weinen.

Und Du? Was ist mit Dir? Du sitzt auf einem sonnenbeschienenen Bett, hörst durchs offene Fenster die Vögel jubilieren und schaust noch etwas benommen auf das Bett neben Deinem, wo Dein Freund anscheinend tief schläft. Zu seinem Kopf führen Drähte, zu Deinem auch, wie Du ertastest. Auf einem Tischchen läuft eine Art Videoband. Du schließt die Augen und erinnerst dich: gedrängt voll der Bahnhof, die Uhr zeigt eins vor zwölf, Dein Freund rennt los. Du öffnest erneut die Augen und schaust auf deine Armbanduhr: sie zeigt elf Uhr vormittags.

Der Gleichnispunkt dieser Geschichte liegt darin, daß sie das plötzliche Abbrechen der gesamten Zeit - einer bestimmten Ordnung - für das eine Individuum anschaulich machet, während sie für andere weiterströmt. Für den Erwachten wird es eben in der Welt, wo jener Bahnhof steht, nie mehr ein Uhr, höchstens wenn er, aber als jetzt Erwachter und von den Ereignissen nicht mehr selbst Betroffener, sich wieder in die Welt seines Freundes einschaltet, dort sogar bestimmte Wirkungen hervorbringt, obwohl er ihr nicht mehr angehört. "Das Leben ist Traum" war im Barock ein beliebtes Thema.

Allerdings hat die erzählte Geschichte auch ihre Mängel. Vor allem dürfte das Wachleben keinen bestimmten Sonderinhalt haben, am wenigsten eine eigene Zeit. Inhalt des Ewigen Lebens ist allein das zeitliche, allerdings nicht mehr auf viele Individuen und in kleine Abschnitte zerteilt, sondern als einziger Gesamtzusammenhang.

Protestierst Du jetzt? Erscheint Dir eine rein theoretische Ewigkeit nicht lohnend, die nur von Gewesenem, nicht von neuer Aktualität erfüllt wäre? Nun, es gibt immer genug zu tun. Stets wachsen irgendwo neue Wesen heran, denen Du helfen kannst. Jesus ist seinen Jüngern erschienen. Die kleine Therese ließ Rosen vorn Himmel regnen. Wer während seines Lebens Menschen und Dinge bewegt hat, wird auch als Gewordener dem weiteren Geschick seiner Freunde und Unternehmungen verbunden bleiben. Er kann das tun. Denn ihn können, da er schon geworden ist, die Ergebnisse auf keinen Fall mehr ändern.

Bist Du immer noch unzufrieden? Genügt es Dir nicht, alles je Gewesene von innen her mitzuerleben und zwar im jeweiligen Augenblick, wo also die nächste Weiche noch nicht gestellt ist? Willst Du nicht der Falke sein, der im Sturzflug die Taube schlägt, und zugleich die Taube, ihre Angst aber jetzt erlöst durch den unmittelbar erlebten großen Zusammenhang? Mozart beim Komponieren der Jupitersinfonie sein und zugleich alle, die je von dieser Musik beglückt worden sind? Ist es Dir nicht genug, nur den gegenwärtigen Nachhall vergangener Entscheidungen zu erleben? Und scheint es Dir ebenfalls zu wenig, nur die Geschicke Späterer helfend mitzubestimmen? Kommt Dir ein Dasein als unwürdig vor, in welchem Du nicht selbst als Betroffener handelst?

Dann erkenne die ungeheure Bedeutung dieses einmaligen Lebens. Keine Ewigkeit kann es ersetzen. Nichts darf in den Himmel, was nicht auf Erden geworden ist. Insofern haben die sogenannten Ungläubigen schon recht, wenn sie alles Jenseits-Opium ablehnen, sich auf kein ewiges Leben vertrösten lassen. Erschreckend recht haben sie. Wer sich auf die Ewigkeit verläßt und deshalb die Zeit vertut, der verdirbt, soweit es an ihm liegt, auch die Ewigkeit. Sein Glück, daß andere die Zeit ernst nehmen. Freilich gilt es hier zu unterscheiden. Manche Zeiten sind gewiß aufs Sinnvollste damit gefüllt, daß Menschen an die Ewigkeit denken. Aber eben mit Gedanken an die Ewigkeit gefüllt, nicht mit dem Hintergedanken der Ewigkeit aus Trägheit leer gelassen. Aber ach, auch dieser Satz ist mißverständlich! Du wirst mir gewiß nicht unterstellen, daß ich die Faulheit schlecht mache. Intensiv faul sein ist eine der Freuden dieses Lebens. Und wenn der Gedanke an die Ewigkeit mir hilft, aus hektisch aufgeblähten Lappalien Luft zu lassen, um so besser. Trotzdem ist der Unterschied festzuhalten. In dieser Zeit ist auch das Nichtstun ein Tun. In jedem Augenblick muß ich mich zu ihm entscheiden. In der Ewigkeit hingegen ist auch das Tun insofern ein Nichtstun, als das gegenwärtige Erleben der prallsten gewesenen Aktualität nichts an dem ändert, was geschieht.

Wegen dieses tiefgreifenden Gegensatzes gibt es auch in der Ewigkeit keinen Ersatz für schuldhaft ungelebte oder mißlebte Zeit. Zur Rede vom Himmel gehört auch das Wort von der Hölle. Freilich hoffe ich, unsere bleibenden bösen Taten - die nie verklungenen Missetaten, für die wir verantwortlich sind -, werden mächtig übertönt vom guten Gesamtklang. Denn Jesus hat die Hölle besiegt. Keiner, so hoffe ich, ist nur und total verdammt. Wessen Seele aber eine so dicke Lederhaut hat - manche Sozialisation führt dazu - daß die Striemen seiner Schläge auf fremde Haut ihm überhaupt nicht weh tun, der sollte bedenken, gegen eigene Lieblosigkeit lohnt es sich entschlossen zu kämpfen. Denn bitter ist die ewige Scham darüber, daß ihre Untaten für immer das Festkonzert der Menschheit stören. Wie unwichtig ist dagegen ein Fehlpaß bei der Weltmeisterschaft.

(1978 - mittlerweile heißt die Adressatin Bettina)


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