Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken
GREGOR PALAMAS
(1296-1359)
"Als der Mönch seine Pflichten als Gastgeber erfüllt hatte, setzte er sich neben mich an die hölzerne Brüstung seiner Terrasse und schaute wieder aufs Meer hinaus. Ich trank das letzte Schlückchen meines Kafedáki, trank den letzten Schluck Wasser, bevor die Sonne das Glas erwärmte, und blickte gleichfalls mit ihm aufs Meer. Da stand auf einmal die Zeit still. Es war eigentlich nichts Besonderes, was da geschah, keine Vision oder so etwas Ähnliches, sondern einfach ein Hinauswitschen - ich kann es nicht anders nennen - aus dem Gitter der Sekunden in die Zeitlosigkeit. Da stand ein uralter Mann, das Haupt umleuchtet von einem silbernen Haar- und Bartkranz, und schaute aufs Meer, aber der Blick war auf nichts gerichtet - er suchte nichts, denn das Meer war leer und der Himmel war leer und er stand schon immer da und die Leere war immer da. Und das Meer schimmerte im Licht und der Himmel schimmerte im Licht und das Licht drang durch die sattgrünen Blätter des Feigenbaumes und durch die hellgrünen Blätter des Weinstocks, die zwischen dem Himmel und dem Meer sich abzeichneten, und ließ die dunklen Rippen der durchleuchteten Blätter hervortreten, und selbst die alten Holzbalken schienen durchleuchtet und ließen die tief eingekerbten Rinnen ihrer Maserung hervortreten. Und das glitzernde Licht des Meeres ging ohne Grenzlinie in das glitzernde Licht des Himmels über und es war ein Licht und eine Leere oder eine Fülle, wie man es nennen will, die sich gegen die Sonne hin verdichtete, die nunmehr fast im Zenit stand, und der Strom der Gedanken und der Ablauf der Bilder hörte auf und ich hatte nur die eine Empfindung: wenn das Licht noch um einen einzigen Grad sich verstärkt, dann löst sich alles auch im physischen Sinn vollends in Licht auf und wird selber Licht, der Mönch vor mir, das Meer, der Himmel, das Feld, die Blätter, die Balken, ich selbst, dann wird alles verwandelt in das Licht und geht ein in die Strahlen, die sich um die Quelle des Lichts im Zenit verdichten." (*1)So erfährt sich, 1963, auf dem Heiligen Berg der deutsche Professor plötzlich als Mystiker. Im Glanz dieses Lichtes zergeht auch der verbreitete Professorenzweifel, ob Gregor Palamas überhaupt ein Mystiker gewesen sei. jener Mann, der die inneren Erfahrungen der Athosmönche gegen gelehrte Arroganz verteidigte und dabei ungewollt selbst zum spitzfindigen Theologen werden mußte, er ist - trotz aller Begriffsunterscheidungen und politischen Streitigkeiten - doch stets der ins große Einheitslicht einverwandelte Einsiedler geblieben.
Kein Wunder, daß sein Denken nach sechshundert Jahren aufs neue die Menschen ergreift. Heller als ihr Atomblitz kann die westliche Aufklärung nicht mehr werden; da tut jenes andere Licht not, das nicht die Erde in den kalten Himmel zerplatzen läßt, das vielmehr auch uns sonnenhell auf dem Antlitz jenes Menschen erstrahlt, in dessen Person Himmel und Erde für immer eins geworden sind. Nicht vor die Aufklärung zurück wollen wir, doch müssen wir über sie hinaus zur Verklärung finden. Über das Taborlicht hat aber keiner tiefer gedacht als der Athosmönch Gregor Palamas.
I. Leben Konstantin Palamas war Senator und Prinzenerzieher in der Kaiserstadt Konstantinopel, sein ältester Sohn Gregorios, 1296 geboren, gehörte einer vornehmen Familie an. Auch einer frommen; sogar während der Senatssitzungen pflegte sein Vater sich dem "reinen Gebet" zu überlassen - als der Kaiser ihn einmal ansprach, so wird berichtet, habe der tiefversunkene Herr Senator es nicht bemerkt. Erst sieben war Gregor, als der Vater starb. Jetzt sorgte der Kaiser selbst für die Erziehung des Jungen. Er hatte ihn wohl für die höhere Beamtenlaufbahn vorgesehen, jedenfalls nicht für den kirchlichen Dienst, denn Gregor besuchte nicht die Patriarchatsschule, sondern die kaiserliche Universität. Deren Rektor soll, als der Siebzehnjährige vor dem gesamten Hof einmal über die aristotelische Logik vortrug, verwundert zum Kaiser gesagt haben: "Auch Aristoteles selbst, wäre er hier, würde ihn loben."
Doch nicht den Weg zum wohldotierten Staatsamt ging der junge Mann weiter. Sein Vater hatte sich noch auf dem Sterbelager die Mönchstonsur geben lassen; Athosmönche, wenn sie gerade in der Hauptstadt weilten, waren die geistlichen Ratgeber der Familie. Mit zwanzig Jahren entschließt Gregor sich, dem Glanz der Welt zu entsagen. Die Mutter und zwei Schwestern treten in Stadtklöster ein, er selbst widersteht den ehrenvollen Bitten des Kaisers und macht sich mit den zwei jüngeren Brüdern auf den Weg zum Heiligen Berg Athos.
Dort lebte er "in Fasten, Nachtwachen und unablässigem Gebet" die nächsten neun Jahre, zuerst unter der Leitung eines alten Mönchs in kleiner Gemeinschaft, dann im Großkloster Lawra, wo er zum Kantor bestellt wurde. Es folgten zwei Jahre in einer Einsiedelei, dann wurde er um 1325 durch Türkeneinfälle vom Athos vertrieben und zog in die nahegelegene Großstadt Thessaloniki.
Dort wurde er im kanonischen Alter von dreißig Jahren zum Priester geweiht und zog anschließend mit zehn Gefährten in eine Einsiedelei der makedonischen Berge. Die fünf Wochentage über lebt er dort in vollkommener Einsamkeit, den Samstag und Sonntag verbringt er, in Gottesdienst und geistlichem Austausch, zusammen mit den Brüdern. Dieser Mittelweg zwischen zerstreuendem Gemeinschaftsleben und totalem Eremitentum wird von der hesychastischen Tradition seit jeher am meisten empfohlen.
Fünf Jahre darauf war die Gegend durch serbische Streifzüge so unsicher geworden, daß Gregor zum Athos zurückkehrte. Er ließ sich in einer Einsiedelei nahe bei Lawra nieder und behielt den gewohnten Wochenrhythmus bei. Mit 38 Jahren begann er zu schreiben: ein Heiligenleben, ein Marienbüchlein sowie, um 1336, zwei "apodiktische Traktate" über den Hervorgang des Heiligen Geistes, natürlich gegen die Lateiner, die in dem alten Streit lehrten, daß er nicht nur vom Vater, sondern ebenso vom Sohn ausgehe. Gregor wußte nicht, daß er damit den Auftakt zum "Palamismus-Streit" gab, der bis heute die Geister scheidet.
Um 1330 war der Philosoph Barlaam aus Kalabrien in sein Stammland Hellas zurückgekehrt, um im Geist der beginnenden Renaissance das klassische Erbe zu erforschen. Zwischendurch verfaßte auch er antilateinische Schriften über den Heiligen Geist. Darin vertrat er die These, weil Gott unerkennbar sei, sollten die Lateiner nicht länger behaupten, den Hervorgang des Geistes aus dem Sohn beweisen zu können.
Über diesen Punkt kam es 1337 zu einem Briefwechsel zwischen Barlaam und Palamas. Dieser bestand darauf: weil der unerkennbare Gott sich geoffenbart hat, gibt es durchaus dogmatische Beweise. Unterdessen lernte Barlaam die Mönche näher kennen und geriet als stolzer Denker in Zorn, als er von ihnen vernahm, der Leib habe am Gebet Anteil. Er veröffentlichte Artikel, in denen er die Mönche als "Nabelseelen" verspottete. Das trug ihm einen Verweis des Patriarchen ein. Barlaam sah jedoch das in Gefahr, was er für vernünftigen Gottesdienst hielt, und ließ die Mönche nicht in Frieden.
Von jetzt an war der Konflikt nicht mehr zu vermeiden. Palamas verteidigt die übernatürliche Erfahrung der Mönche: das Licht, das sie sehen, sei nicht sinnlich, sondern göttlich, verdiene also nicht des Philosophen Spott. Dieser erwidert: Ihr behauptet also, Gott schon in diesem Leben zu schauen, das aber ist häretisch. - Natürlich sehen wir nicht Gottes Wesen, ist die Antwort, niemand kann es sehen, auch nicht im Himmel. Wohl aber schauen wir, und das schon jetzt, Gottes "Energien", seine gnädigen Zuwendungen, in denen er uns Heutigen nicht minder kund wird als der Urkirche. - Vor dieser unerhörten Unterscheidung kann der gebildete Humanist samt seinen byzantinischen Freunden nur zurückschaudern; ist denn Gott nicht unendlich einfach, so daß Wesen und Tat bei ihm streng identisch sind?
Den nun anhebenden Kampf kurz und gleichwohl exakt zu schildern ist unmöglich, zu viele Motive - theologische, kirchliche, dynastische, gesellschaftliche, weltpolitische - schlingen sich ineinander. 1341 stirbt der Kaiser, zwei Thronanwärter bekriegen sich jahrelang, von außen drohen Türken, Serben sowie, noch verhaßter, die Lateiner. Abwechselnd sitzen Gegner und Anhänger Gregors auf dem Patriarchenstuhl. Auf einer Synode siegt seine Lehre, die Minderheit hält ein Gegenkonzil und wird anschließend abgesetzt. Von 1343 bis 1347 wird Palamas im Kaiserpalast als Gefangener gehalten, am 4. Nov. 1344 gar vom Patriarchen exkommuniziert. Schreiben aber kann er gerade in diesen Jahren besonders viel. 1347 wendet sich das Geschick. Er wird zum Bischof geweiht, in seinem Bistum Thessaloniki herrschen jedoch seit fünf Jahren die "Zeloten", ein revolutionäres Volksregiment. Sie würden ihn nur akzeptieren, wenn er in der Messe das Gebet für den Kaiser wegließe. 1350 erobert dieser die Stadt; mit einem Bußgebet im Tor übernimmt Gregor seine Diözese.
1351 findet endlich ein feierliches Konzil statt; 25 Metropoliten und sieben Bischöfe nehmen daran teil. Die Antipalamiten bekommen die Gelegenheit, ihre Ansichten. ausführlich darzulegen und zu begründen. Doch am Ende wird gegen,sie der Bann ausgesprochen. Sie werden verhaftet. Um sechs Fragen ging es während dieser Debatten:
1. Gibt es in Gott einen Unterschied zwischen Wesen und Energie? Ja.
2. Wenn ja, ist die Energie dann geschaffen oder ungeschaffen? - Ungeschaffen.
3. Wenn die Energie ungeschaffen ist, wieso ist Gott dann nicht zusammengesetzt? - Weil es sich nicht um zwei Wesenswirklichkeiten handelt, sondern beide dem einen lebendigen Gott zugehören.
4. Kann man auf die Energie den Begriff "Gottheit" anwenden, ohne in eine Zweigötterlehre zu verfallen? - Ja, die Väter tun es.
5. Ist es recht und traditionsgemäß, wenn man sagt, das Wesen liege über die Energien hinaus? - Ja, die Väter tun es.
6. Da es eine Teilhabe an Gott gibt: ist das eine Teilhabe am Wesen oder an der Energie? - Die Väter haben deutlich gesagt, daß Gottes Wesen unteilhabbar ist, während Gottes Leben oder Energie sich den Menschen wirklich offenbart und mitteilt.Nach diesem Triumph waren die kirchlichen Probleme gelöst. Doch gerät Gregor auf der Heimfahrt vom Konzil zuerst in einen Seesturm und durfte wegen politischer Wirren dann wieder nicht in seine Bischofsstadt. Ein. Vierteljahr verbrachte er auf dem Athos. Es folgen Jahre eifriger Seelsorge in schwierigster Zeit. Bürgerkrieg und Revolution haben schlimme Wunden geschlagen. Die neu etablierten Reichen hören in einer Predigt:
"Unser ganzer Ruhm liegt darin, daß wir einander Unrecht tun und die Armen beleidigen ... Und selbst wenn wir so tun, als hielten wir untereinander einen Scheinfrieden, wir die Mächtigen, so vermehren wir noch die Gewalt, die wir den Armen antun, und legen noch schwerere Lasten auf alle, die mit ihren Händen arbeiten. Welcher Soldat begnügt sich mit seinem Sold? Welcher Beamte verlegt sich nicht aufs Rauben? Ja, die Armen schreien auf gegen euch alle, die Hochgestellten, euch deren Umgebung, euch das Militär, und eure Dienerschaft. Sie können die erbarmungslose Unmenschlichkeit derer da oben nicht mehr aushalten, die Gewalt und das Unrecht, die ihr dauernd gegen sie verübt, weil ihr mächtiger seid als die Landarbeiter; schon hat der Sturzbach des Unrechts sogar die Mönche erfaßt ..."
Unterwegs in einer Friedensmission, um den jungen Kaiser mit einem Gegner zu versöhnen, wird Palamas im Februar 1354 von Türken gefangen und, weil das Lösegeld nicht kommt, ein Jahr lang von Stadt zu Stadt durch Kleinasien geschleppt. In Briefen beschreibt er das Leben der Christen unter dem Türkenjoch und lobt die Toleranz der Besatzer. Endlich ist die hohe Summe aufgebracht, im Sommer 1355 ist Gregor wieder in Thessaloniki.
Vier Jahre sind ihm noch vergönnt. Er predigt, besucht Klöster, schreibt auch noch einiges. Am 12. Nov. 1359 ist Gregor Palamas gestorben. Bald wird von Wundern gesprochen, seine Verehrung beginnt sowohl in der Bischofsstadt als auch auf dem Athos. Knapp zehn Jahre später wird er vom Patriarchen offiziell heiliggesprochen, seither feiert die orthodoxe Kirche am zweiten Fastensonntag sein Fest.
II. Werk 1. Die wichtigsten Schriften
Das Schriftenverzeichnis von Gregor Palamas umfaßt 71 Titel, dazu kommen 63 Predigten. Auf deutsch scheint bislang nur sein Glaubensbekenntnis veröffentlicht zu sein, das er während seiner Haftzeit abfaßte; durch die Verlesung beim Konzil von 1351 wurde es zu einem offiziellen Dokument. Eine Reihe von Werken sind, samt lateinischer Übersetzung, in den Bänden 150 und 151 der "Patrologia Graeca" von Migne abgedruckt. Besonders wichtig ist der "Tomos hagioretikos", das - von Palamas verfaßte - Manifest der Athosmönche, als sie sich (ca. 1339) schon in der Frühphase des Streites ausdrücklich gegen Barlaam und hinter ihren Verteidiger Palamas stellten (150,1225-1236).
Zu empfehlen ist auch der Dialog "Theophanes" von 1343. In der Form eines Gespräches zwischen einem Orthodoxen und einem vom Barlaamismus Bekehrten legt Palamas seine Lehre dar (150,909-960; recht korrekter Text). Westlichen Lesern am zugänglichsten, weil mit französischer Übersetzung veröffentlicht, ist das frühe Hauptwerk, die drei "Triaden", so genannt, weil jede aus drei selbständigen Traktaten besteht. Gregor schrieb sie in den Jahren 1338 bis 1341. Am Anfang steht, noch ganz unsystematisch, die Verteidigung der mönchischen Geisterfahrungen gegen die Anwürfe des wissensstolzen Rationalisten; die letzte Triade lehrt das bereits voll ausgereifte System des Palamismus.
2. Das zentrale Anliegen
In diesem kurzen Beitrag kann es nicht des Näheren um die vielen einzelnen Werke gehen, sondem um das Werk, die Denkleistung. Ihr Quellgrund ist die unmittelbare Erfahrung der Athosmönche, das Erlebnis ihrer geistgeschenkten Einheit mit Gott. Hier vollzieht sich Wirklichkeit, nicht bloß Verstandesgeklingel:
"Wenn du eine Stadt noch nicht gesehen hast und an sie denkst: durch das Denken erlebst du sie nicht. So auch bei Gott und dem Göttlichen: durch Denken und Theologisieren erlebst du sie nicht. Es ist wie beim Gold: wenn du es nicht spürbar besitzest, spürbar in Händen hältst und spürbar siehst, magst du tausend mal den Begriff 'Gold' im Verstand haben, du besitzest und siehst darum doch überhaupt kein Gold. Ebenso magst du tausendmal über die göttlichen Schätze nachdenken - wenn du das Göttliche nicht erlebst, nicht mit geistigen, überverständlichen Augen schaust, so siehst du weder noch hast du noch besitzest du etwas Göttliches in Wahrheit." (*2)
Allerdings will auch die göttliche Einheitserfahrung verstanden, das heißt, in Begriffen erfaßt sein. Klugerweise stützt Palamas sich dabei auf die Sprachleistung der ersten Christen, die dem Offenbarungsereignis am nächsten stehen. Aus vielen Bibeltexten führe ich nur zwei an: "Wir sind zu neuen Menschen geworden durch den Heiligen Geist, den Gott als Gabe Jesu Christi unseres Heilandes reichlich über uns ausgegossen hat" (Tit 3, 6). "Gott hat uns die kostbarsten und großen Zusagen geschenkt, durch die ihr die göttliche Natur mit innehaben sollt, wenn ihr der Vergänglichkeit der Welt mit ihrer Sucht entflohen seid" (2 Petr 1, 4). Während viele moderne Westchristen solche Sätze kaum kennen und nicht verstehen, nimmt Palamas sie als hoehwillkommene Deutung der eigenen Erfahrung auf.
Freilich kennt er, aus Tradition und Erfahrung, auch die Gegenwahrheit: Gott ist unendlich erhaben über uns Geschöpfe und alles, was Sinne und Verstand erfassen können. Aus dieser Spannung erwächst, wie er 1343 im reifen Dialog "Theophanes" bekennt, sein systematisches Denken:
"Du siehst, daß beides uns von den ehrwürdigen Theologen überliefert worden ist: wie Gottes Wesen sowohl unteilhabbar ist als auch irgendwie teilhabbar; sowohl haben wir die göttliche Natur mit inne als wir auch keineswegs ihre Mitinhaber sind. Beides müssen wir festhalten und der Frömmigkeit zur Norm setzen" (932 D).
3. Vom äußeren zum inneren Verständnis
Palamas ist am Kaiserhof aufgewachsen, hat vor Mosaiken gebetet, die den Glanz des All-Herrschers widerstrahlen. "Die Kirche gab Gott die Attribute, die ausschließlich des Kaisers waren" (Whitehead); als Kind seiner Zeit und Gesellschaft hat Gregor dieses autokratische Gottesbild geteilt, gelegentlich auch zur Verdeutlichung seiner Gedanken benutzt. So wehrt er sich gegen Barlaams Vorwurf der Zweigötterei mit dem Argument, auch der Kaiser und sein Reich würden nicht dadurch verdoppelt, daß die kaiserlichen Erlasse, seiner Person gegenüber, ein gewisses Eigendasein hätten: also seien auch Gottes Wesen und seine Energien nicht zwei, sondern der eine Gott (Tr III, 2, 27; 691).
Doch konnte der Einheitsmystiker mittels dieses veräußerlichten "Denkzeuges" seine tiefste Botschaft nicht sagen. Deshalb greift er beiläufige Hinweise einiger Kirchenväter auf und denkt sie kühn zu einem System weiter, das unser Verhältnis zu Gott ganz und gar im inneren Erfahrungsraum eines Menschen abgebildet sein läßt.
Der erste Traktat der dritten Triade hat den Untertitel "Über die Vergottung". Dort lesen wir:
"Über Natur, Tugend und Erkenntnis ist die Gnade der Vergottung unendlich (gemäß dem hl. Maximos) hinaus; denn jede Tugend und die Nachahmung Gottes, die an uns liegt, bereiten auf die göttliche Einigung zwar vor; die Gnade aber vollzieht sie selbst, die unsagbare Einigung. Denn durch sie ist der ganze Gott in den ganzen Würdigen, und die ganzen Heiligen sind ganz im ganzen Gott, indem sie ihren Gott ganz ergreifen und als Lohn ihres Aufstiegs zu ihm nur Gott selbst besitzen, ihn, der sich zu ihnen verhält auf die Weise der Seele zum Körper, wie zu eigenen Gliedern, und sie würdigt, in Ihm selbst zu sein." (Tr. III, 1, 27; 609) (*3)
Wenige Seiten später erläutert Palamas diesen selben Gedanken mit seiner berühmten Unterscheidung:
"Auf die Weise der Seele zum Körper verhält Gott sich zu den Würdigen wie zu eigenen Gliedern ... und 'der Geist des Sohnes ist reichlich auf uns ausgegossen' (Tit. 3,6), aber nicht geschaffen, sondern von uns aufgenommen und durch uns sprechend - doch sollst du nicht meinen, Gott werde nach dem überwesenhaften Wesen gesehen, vielmehr nach seiner vergottenden Gabe und Energie, nach der Gnade der Adoption, der ungewordenen Vergottung." (Tr. III, 1, 29; 613)
In der Folge beruft er sich einmal auf einen Vergleich des hl. Basileios, wo Gott ebenfalls nicht als Gegenüber "jenseits", sondern als subjektives Prinzip "inseits" des Menschen gesehen wird - nein, das gerade nicht, sondern selbst sieht:
"Sobald wir die eigene Würde des Heiligen Geistes bedenken, erschauen wir Ihn beim Vater und Sohn; lassen wir uns aber von der Gnade anmuten, die auf ihre Empfänger wirkt, so sagen wir, daß der Geist in uns ist, 'ausgegossen auf uns, nicht geschaffen, uns gegeben, nicht gemacht, geschenkt, nicht hergestellt'. In den noch Unvollkommenen ist er da (wieder mit dem hl. Basileios zu sprechen) wie eine gewisse Geneigtheit, weil die Meinung unstabil ist, in den Vollkommeneren wie eine erworbene Gewohnheit, bei manchen eingewurzelt, ja sogar noch mehr: 'Wie die Sehkraft im gesunden Auge, so ist die Energie des Geistes in der gereinigten Seele.'" (Tr. III, 1, 33; 623)
Im 2. Traktat führt Palamas diesen Vergleich noch reicher durch; Gewährsmann ist jetzt der Pseudo-Areopagite:
"Wie die Seele gemäß dem großen Dionysios 'einförmiglich all die Kräfte in sich hat, die für den Leib sorgen', wie also die Seele trotz ausgerissener Augen oder ertaubter Ohren dennoch in sich selbst die leibfürsorglichen Kräfte hat, so hatte auch Gott schon vor dem Bestand der Welt die weltfürsorglichen Kräfte; und wie die Seele nicht schlichthin die fürsorglichen Kräfte ist, sondern die Kräfte hat, so eben auch Gott; und wie die Seele eine, einfach und unzusammengesetzt ist keineswegs ob der Kräfte in ihr vermannigfacht oder zusammengesetzt -, so geht auch Gott, der nicht bloß vielvermögend, sondern allmächtig ist, wegen der Kräfte in Ihm nicht aus dem Einiglichen und der Einfachheit heraus." (Tr. III, 2, 22; 681)
Es folgt eine Meditation, die Gregor nicht als polemischer Denker schrieb, sondern als geistlicher Lehrer, und zwar für die Erzieherin der kaiserlichen Prinzessinnen. "An die hochwürdigste Nonne Xene über Leidenschaften und Tugenden sowie über die Früchte der Muße des Gemüts", so heißt das spirituelle Hauptwerk, das Palamas etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahr verfaßt hat, mitten in den schlimmsten Wirren und doch in Ruhe des Geistes.
Scheinbar klingt in diesem Text alles ganz traditionell, jedem Christen ist solche Sprache vertraut. Allerdings wissen wir jetzt, welches Rahmenmodell hier das Verständnis leitet (Gott verhält sich zu uns Menschen wie ich zu meinen einzelnen Gliedern); wenn Gregor deshalb "so - wie" sagt, dann ist das nicht der übertriebene Vergleich eines Redners, sondern eine exakt definierte Entsprechung: wörtlich zu verstehen. Es macht einen wichtigen Unterschied, ob jemand in lockeren Bildern spricht oder in strengen Begriffen; Worte wie die folgenden kann man von mancher Kanzel hören, und doch haben sie im Munde Gregors, weil systematisch gemeint, ihren besonders eindringlichen Ernst. Sieht man nicht geradezu den herausgerissenen Zahn vor sich, eben noch so "vital" - und jetzt bloß mehr ein armes totes Ding?
"Wie die Trennung der Seele vom Leib der Tod des Leibes ist, so ist die Trennung Gottes von der Seele der Tod der Seele, und das ist der eigentliche Tod. Ebenso besteht auch im Leben der Seele das eigentliche Leben; das Leben der Seele aber ist die Einigung mit Gott, so wie das des Leibes die Einigung mit der Seele ist ... jenes Leben ist aber nicht nur das der Seele, sondern auch des Leibes; denn es macht auch diesen durch die Auferstehung unsterblich, weil es nicht nur von der Sterblichkeit erlöst ist, sondern - mehr noch - vom niemals aufhörenden Tod, jener künftigen Pein." (PG 150, 1048 f; C)
III. Bedeutung 1 Wir sind Gottes Energien
Bis heute sind Palamiten und Antipalamiten über Gregors Bedeutung gegensätzlicher Ansicht. Nach den einen hat er die griechische Kirche zu lächerlichen Irrtümern verführt, die anderen ehren in ihm das Bollwerk der Orthodoxie gegen westliche Dekadenz. Die soeben im Wortlaut gebrachten Texte erlauben uns jedoch, dem Umstrittenen selbst, und zwar im Kern seines Denkens, zu begegnen. Verstehen kann sie allerdings nur, wer sich von ihnen auf die eigene Erfahrung hinweisen läßt und diese (nicht alte Sätze) neu begreift. Das kann abenteuerlich werden.
Denn eine solche Deutung der biblischen Lehre, daß der Mensch Bild Gottes ist, findet sich meines Wissens im Westen nirgends. Nicht die losgelassene Schöpfung eines außerweltlichen Herrn ist hier die Welt, dem man ergeben sich fügt oder empört sich versagt, auch nicht der Ausfaltungsprozeß des Weltgeistes, der nur im Werden das Sein hat. Jenes fatale Dreigeschrei von Theismus, Atheismus und Pantheismus, als das die ideologiezerrissene westliche Kultur uns umlärmt - Gregor Palamas hat es schon vor sechshundertjahren zum wunderbar harmonischen Dreiklang versöhnt: Gott eint sich die Welt als seinen Leib, in Ihm ähnlich zusammengefaßt wie die Vielheit meiner Finger, Augen und Ohren in meinem bewußt tastenden, sehenden, hörenden Ich (Palamas nennt das solcherart beteiligte Ich: "Energien"), während mein "reines" Ich, das inseits aller sinnlichen Anteilnahmen sich vollziehende Selbstbewußtsein als solches (ich bin ich!), dem "Wesen" Gottes entspricht.
Die Vergottung, so dürfen wir Palamas weiterdenken, hätte ihr Gleichnis dann darin, daß ich zum Beispiel den frischen Wind auf meiner Backe spüre und dabei als diese erfrischte Backe mir selig bewußt bin: auch die Frische ist ich und ich bin sie, kein anderer als jenes tiefe Ich, welches auch abgesehen von jeder Beteiligung in lichter Selbstklarheit lebt.
Natürlich - Palamas hat recht - versteht das nur, wer es erfährt. Den Leibvergleich kann aber jeder leicht erfahren und an ihm die Struktur sich deutlich machen. Daß sie wirklich ein Gleichnis für Gottes Beziehung zu uns ist, das zu erfahren ist freilich nicht jedem gegeben. Mir hat sich diese Heilswahrheit so bezeugt, daß ich der Kirche, die auch in ihrem Oststamm unfehlbar ist, den Glauben Gregors glaubte. Die zentrale Überzeugung eines von ihr so verehrten Heiligen kann keine Irrlehre sein.
2 Mystik des Heiligen Geistes
Was ist der Vorzug dieses Denkens, verglichen mit gewissen abergläubischen Annahmen unserer Zivilisation?
a) "Gott ist das Sein der Seienden." Eine der ewigen göttlichen Energien, von denen Palamas spricht, ist das Sein. Daß es uns gibt, ist also nicht bloß losgelöstes Resultat eines göttlichen Schöpfungsvorganges, ungefähr als gliche der Schöpfer einem Uhrmacher - stellen nicht viele es sich so ähnlich vor? Sondern unser Sein ist der innere Selbstvollzug der schöpferischen Energie - etwa so, wie das Glättegefühl, welches meine den Füller haltenden Finger jetzt verspüren, in Wahrheit meine unmittel bar eigene Wirklichkeit ist. Weit weg ist hier die selbstentfremdete Idee, als wäre Sein bloß so etwas wie Vorhandenheit, noch weiter die Angst der Ausgebeuteten, daß ihr Sein am Ende nichts anderes bedeute als Ware-Sein oder Minifunktion-Sein in einem ebenso perfekten wie sinnlosen Mechanismus.
b) Begründung der Menschenwürde. Die Erlösten heißen in der östlichen Tradition oft "die Würdigen". Vielen wissenschaftsgläubigen Zeitgenossen ist noch nie bewußt geworden, daß "Menschenwürde" kein wissenschaftlicher Begriff ist. Wären wir nichts als hochkomplexe Zusammenballungen von Zellen, die sich auf Moleküle, Atome, letztlich Elementarteilchen zurückführen lassen - woher käme uns Würde? Man hat ausgerechnet, wie viele Dollar ein Mensch wert ist, wenn man seine Grundstoffe im Chemiegroßhandel kauft - im Ernst: waren die Menschenversuche der KZ-Mediziner nicht eine logische Konsequenz des herrschenden Wissenschaftsmonismus? Und ist nicht schon die distanziert unbeteiligte Kühle, welche unsere drangvollen U-Bahnen und leeren Hochhauskorridore gleichermaßen bestimmt und gegen die viele sich so wütend auflehnen, ein exakter Ausdruck der neuzeitlichen Grundannahme, das Sein komme nur je dem einzelnen Seienden zu und sei deshalb auch selbst nicht eines, sondern unverbunden ins Viele zerstreut? Einander Würde zuerkennen können getrennte Wesen aber nur, wenn sie aus der wechselseitigen Objektivierung ausbrechen, so daß jeder den anderen als Verwirklichung eines gemeinsamen Würdeprinzips ehren muß und kann. Zu solchem Ausbruch in die eine Weite hilft der palamitische Denkansatz. Wo jeder von sich glaubt: mein Gutes ist nicht nur von Gott gewirkt, sondern selber wirklich eine göttliche Energie, da fordert die Logik den Schluß: auch dein Gutes ist eine Energie Gottes. Daraus ergibt sich, weit über zähneknirschende "Toleranz" hinaus, jene tief fundierte gegenseitige Anerkennung der Menschenwürde, die allein diesen Begriff aus dem Papier der UNO-Deklarationen in Fleisch und Geist unserer Lebensstunden überführt.
Gott sei Dank deshalb, daß Palamas recht hat: nicht nur sind meine Zellen in mir geheimnisvoll geeint, sondern auch im Großen leben alle Wesen des Kosmosleibes im unendlich überwirklichen Ich als dessen eigener Selbstvollzug. (*4) Wer das glaubt, kann als Vorgesetzter, Dienstleister oder Kollege noch im armseligsten "Fall" ehrfürchtig die Hoheit der göttlichen Menschenwürde achten - sein Alltag wird dadurch nicht leichter, aber erfüllt, mit knisternder Hochspannungsenergie geladen.
c) Unmittelbare Sinnerfahrung. Ein Mensch, der von sich (und seinen Mitmenschen!) fest hofft, daß wir Selbstvollzüge der göttlichen Energie sind, wird weniger als der Durchschnittszeitgenosse von äußeren Sinnvermittlern abhängen, wird Ideologien, Medien, Institutionen freier gegenüberstehen. Selbstbewußtsein erwächst ihm nicht daraus, daß er für oder gegen dies und jenes ist, sondern aus der geglaubten Anwesenheit der sinnsprudelnden Quelle in jedem Augenblick.
Weil Palamas die Würdigen mit ihr vereint glaubt, deshalb verdient seine Lehre die Bezeichnung "Pneuma-Mystik". Gottes Heiliger Geist ist ja eben die Wechselliebe und Wir-Einheit von Vater und Sohn, an welcher wir, die adoptierten "Kinder im Sohn", auf je besondere Weise teilhaben dürfen. Solche Mystik des Heiligen Geistes gelebt und gelehrt zu haben ist Gregors Verdienst - und Grenze.
3. Der Grund der Gegnerschaft
Warum ist diese faszinierende Botschaft aber derart angefeindet worden? Nun, es hat sich in jenem Jahrhundert die europäische Neuzeit vorbereitet. Nicht auf alles zumal kann der Menschengeist sich konzentrieren. Sieht Ferdinand seiner Sabine ins Auge, dann kann er das entweder als Liebender oder als Augenarzt tun, nie zugleich ausdrücklich als beides. Das Auge als selbständiges Organ mit eigenen realen (d.h. "sachlichen") Sinnbezügen, unabhängig von dem Sinn, den der Blick der es beseelenden Person meint: eben das ist jene moderne, westliche Wahrheit, die durchaus auch stimmt und keinesfalls nur die Kritik des Orthodoxen verdient, der da hinweist auf "das Drama des Mittelalters im Westen, seine Mitte die Entheiligung der Welt durch die thomistische Theologie, die tragische Opposition seitens einer Menge mystischer 'Untergrund'-Häresien, die hoffnungslos in der geschaffenen Welt irgendwie Heiligkeit wiederzufinden suchten, der strenge und zusammenhängende Prozeß, der vom Thomismus zu Descartes führte und von Descartes zur derzeitigen technologischen Vergewaltigung der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit." (*5)
Der nachmoderne Westler sollte zugeben, daß Sinn und Ziel des Auges vor allem sein Blick ist! Und doch - das ist die westliche Wahrheit - kann gerade die recht verstandene Liebe vom Arzt verlangen, daß er nicht als Liebender den Blick, sondern mit sachlichem Interesse das Auge der Frau erforscht. Lehrt Palamas die Verklärungsmystik des Heiligen Geistes, jene strahlende Einheit Gottes mit seinem Kosmos-Logos, in der keine Sonderheit mehr gilt, so darf es daneben auch die "Mystik" des Logos samt seinem vielbunten Universum geben.
IV. Wirkung Deren jüngste Phase hat den Leser soeben gestreift. Begonnen hatte sie mit einem siegreichen Fanfarenstoß: "Die Synode von 1351 war der feierlichste Akt, mit dem die orthodoxe Kirche die Lehre von Gregor Palamas bestätigt hat. Es handelte sich nicht im strengen Sinn um ein oekumenisches Konzil, sondern um eine Bischofssynode des Patriarchats von Konstantinopel, ihre Entscheidungen wurden jedoch im Lauf des 14. Jahrhunderts von der Gesamtheit der Ostkirche angenommen. (*6)
Ein Jahrhundert später brach die Katastrophe über Ostrom herein. 1453 ist die byzantinische Kultur durch das Türkenschwert mit lange währender Ohnmacht geschlagen worden. Die Nachkommen haben die Schätze der Vergangenheit zwar treu bewahrt; sie schöpferisch weiterzubilden, dazu fehlte ihnen die äußere Basis. Die Russen sind in das Erbe eingetreten - es gibt eine großartige Lichtmystik der Starzen -, doch wurden sie stärker vom Magnetismus des fortschrittlichen Westens bewegt. Höchstens auf dem Heiligen Berg und anderen Halb-Inseln blieben Gregors Gedanken lebendig; die Schultheologie der orthodoxen Welt hat sie zusehends vergessen. Noch heute sind die Lehrbücher ihrer Studenten nicht palamitisch geprägt.
Auf dem ersten all-orthodoxen Theologenkongreß 1936 zu Athen rief dann der Russe Georgij Florovskij dazu auf, zur patristisch-orthodoxen Tradition des Palamismus,zurückzukehren. Dies geschieht seither mehr und mehr. 1950 erschien in Stuttgart ein Buch über die Ostkirche; dort lesen wir die palamitischen Sätze: "Auch der Begriff des 'Seins' ist auf Gott nicht anwendbar, denn Gott ist ja der Schöpfer des Seins und steht als solcher über dem Sein. Der über alles erhabene, alles überragende Gott ist aber doch der Welt immanent, nämlich in Seinen Energien; in diesen offenbart er sich der Welt und wirkt in der Welt. Jedes geschaffene Sein existiert überhaupt nur, weil es an den göttlichen Energien teil hat. Gott ist in Seinen Energien das Sein aller Wesen. Durch Teilnahme an den Energien kann sich das Geschöpf Gott nahen und mit ihm in Gemeinschaft treten." (*7)
Pünktlich zum 600. Todestag erschien dann 1959 die umfassende und profunde "Einführung" von J. Meyendorff. Sie wurde zum Ausgangspunkt des neu erwachenden Interesses auch auf katholischer und evangelischer Seite. Schon in einem "Bulletin" von 1972 sind aus dem vergangenen Jahrzehnt über 300 einschlägige Studien östlicher und westlicher Autoren aufgeführt.
Ich bin überzeugt: das Denken von Gregor Palamas hat Zukunft. (*8) Seine "Pneuma-Mystik" gehört unverlierbar zur erhofften spirituellen Weltkultur von morgen. Erinnern wir uns der anfangs geschilderten Athos-"Vision". Palamas und die Seinen bezeugen eben jenes all-einende Licht. Es läßt zwar die Struktur von Balken und Weinlaub deutlich hervortreten, nicht aber sind derlei Einzelheiten in solch ewigem Augen-Blick des Ganzen wichtig für das einheitstrunkene Schauen des Begeisterten. Es muß hienieden immer wieder aufhören: "Plötzlich hatte ich wieder die Empfindung der Zeit. Ich hatte schon viel zu lange hier verweilt ... Ich mußte mich beeilen, zur Lawra hinabzusteigen, um nicht den Anschluß an mein Schiff zu verpassen." (*9) Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, wie wichtig es den ersten modernen Menschen damals erscheinen mußte, beim spürbaren Anbruch der Neuzeit aktiv dabei zu sein. Deshalb haben ihre Wegbereiter, nüchtern aufs Einzelne aus, sich mit ihrem Recht gegen den Palamismus gesträubt.
Vier Berge. Es gibt eine seltsame historische Verknüpfung, die den Gegensatz von palamitischer und westlicher Einstellung symbolkräftig vor uns hinstellt. Gregors Hauptgegner, jener Barlaam aus Kalabrien, kehrte 1341 nach Italien zurück und wurde später der Griechischlehrer von Petrarca. Nun, im nämlichen Jahr 1336, da Palamas im Athoslicht meditierte und über den Heiligen Geist zu schreiben begann, stieg Petrarca, damals zweiunddreißigjährig, auf einen anderen Berg. Zurück vom Gipfel des Mont-Ventoux in der Provence, beschrieb er in einem Brief seine Erschütterung. "Diese Darstellung ist für die damalige Zeit ein geradezu epochales Ereignis, denn sie bedeutet nichts Geringeres als die Entdeckung der Landschaft, und in ihr kommt ein erstes Aufleuchten jenes Raumbewußtseins zum Durchbruch, das in der Folge grundlegend die Stellung des europäischen Menschen in und zu der Welt verändert ... Die allseitige Bindung mit Himmel und Erde, die noch eine fraglose, eine undistanzierte unperspektivische Bindung war, zerreißt in dem Augenblicke, da ein Teil der 'Natur', durch seinen persönlichen Blick räumlich aus dem Ganzen herausgelöst, zu einem Stück Land wird, das er schafft ... Dann freilich wuchs - man ist versucht zu sagen, von jenem Tage Petrarcas an - die Verantwortung des Menschen in einer Weise, von der wir angesichts der Situation unserer Zeit bezweifeln müssen, ob er ihr gewachsen war." (*10)
Petrarca blickt auf das bestimmte Einzelne unter sich; der Athospilger schaut ins schimmernde Licht um ihn her; Moses auf dem Sinai lauscht, nach oben, der Stimme des unsichtbaren Gottes: dreifach ist das Absolute nicht nur in sich, dreifach offenbart es sich auch uns. Sozusagen die Einheit jener drei Berge, so glaubt die Christenheit, hat sich bei der Verklärung auf dem Berg Tabor gezeigt: Von oben spricht Gottes Stimme, blendendes Licht umstrahlt die Jünger und die vertraute Hand Jesu, des Freundes, bleibt ihnen faßbar.
Deshalb sollten wir nicht länger für die eine oder andere Einseitigkeit fechten. Auch in unserem Jahrhundert weht neu und ursprünglich die Heilige Windsbraut ("ruach", Geist, war für Jesus ein weibliches Wort). Was Sie heute will, ist die Wiedervereinigung der über den Globus hin zerstreuten Geistfetzen zu einem "heiligen common sense" der einen Menschheit. Davon sind viele ergriffen, weitaus mehr kapseln sich in ihre allzu eng gewordenen Ideologien ein, so daß ihr Glaubenswein in Gefahr steht, zu häretischem Essig umzukippen.
Jene kraftvollen Worte, die der heilige Gregor Palamas an den Anfang des "Tomos hagioretikos" gesetzt hat (*11), sie mögen uns zum selben Mut inspirieren, mit dem damals er seine spirituelle Aufgabe erfüllt hat:
"So wie einst die Propheten in Israel die Wahrheiten, die wir heute als Dogmen bekennen, nur als Mysterien besaßen und in andeutenden, geheimnisvollen Worten vom Sohn und vom Heiligen Geiste sprachen; und wie man sich wohl denken kann, daß jemand, der ihre Worte nicht mit der gebührenden Ehrfurcht aufnahm, ihnen im Namen der Lehre vom einen Gott entgegengetreten wäre, die damals allein schon offenbart war; so sind auch jetzt die Herrlichkeiten, die den Heiligen Gottes im Jenseits verheißen werden, für die Bekenner des Evangeliums noch Mysterien und nur denen offenbar, denen es gegeben ist, im Geiste zu schauen und die dieses Schauen als ein Pfand der künftigen Herrlichkeit besitzen. Aber so wie das, was die Propheten lehrten, später offenbar wurde und die Lehre von der Heiligen Dreifaltigkeit sich als vereinbar mit der Lehre von dem einen Gott erwies, so werden auch, wenn der neue Äon anbricht, diese Mysterien sich als mit unserem Glauben übereinstimmend erweisen. Doch die Propheten besaßen damals schon, was erst später auf der ganzen Erde verkündet wurde. Und so besitzen die, welche die Welt verlassen und sich der Ruhe in Gott ergeben haben, schon jetzt das vom Geist Verheißene in ihrer eigenen, unmittelbaren Erfahrung."
Literaturhinweise 1. Quellen
Migne, Patrologia Graeca (= PG) Band 150. Abdruck älterer Ausgaben verschiedener Qualität, jeweils mit lateinischer Übersetzung.
Meyendorff, Jean (Hrsg.), Grégoire Palamas, Défense des saints hésychastes, Louvain 1959 (Spicilegium Sacrum Lovaniense, fasc. 30 + 31). Kritische Ausgabe der drei Triaden (= Tr) mit französischer Übersetzung.
Chrestou, K. (Hrsg.), Gregoriou tou Palama Syngrammata, Thessaloniki, Band I, 1962, Band II, 1966, Band III, 1970. Auf sechs Bände angelegte Gesamtausgabe, leider ohne Übersetzung.
Einzeltext: Schaeder, Hildegard (Hrsg.): Das Glaubensbekenntnis des Gregor Palamas, in: Wort und Mysterium, Dokumente der orthodoxen Kirchen zur oekumenischen Frage, Bd. II, Witten 1958, 217-224.
2. Sekundärliteratur
a) Umfassende Einführung in Leben,Werk und Denken
Meyendorff, Jean, Introduction à l'étude de Grégoire Palamas, Patristica Sorbonensia 3, Paris 1959. Auch auf Englisch: A Study of Gregory Palamas, ISBN 0913836141
b) Zur Spiritualität
Meyendorff, John, St. Gregory Palamas and Orthodox Spirituality, ISBN 0913836117.
Miquel, Dom Pierre, Grégoire Palamas, Docteur de I'Expérience, in: Irénikon 37/1964,227-237.
c) Zur Theologie
Palamitische Stimmen
Scazzoso, Piero, La teologia di S. Gregorio Palamas, Milano 1970.
Yannaras, Christos, The Distincion between Essence and Energies and its Importance for Theology, in: St. Vladimir's Theological Quarterly 19/1975, 232-245.
Ware, Kallistos: The Debate about Palamism, in: Eastern Churches Review (Clarendon Press, Oxford) 9/1977, Nr. 1-2 (Themenheft "Palamism Today") 45-63.
Eher antipalamitische Stimmen
Trethowan, Dom Illtyd, Irrationality in Theology and the Palamite Distinction, in: ECR 9/1977, 19-26 (s. o. Ware).
Williams, Rowan D., The Philosophical Structures of Palamism, in: ECR, 9/1977 27-44 (s. o. Ware).
Schultze, Bernhard, Grundfragen des theologischen Palamismus, in: Ostkirchliche Studien 24/1975, 105-135.
Wendebourg, Dorothea, Geist oder Energie, München 1980 (These: Der Begriff "Energie" entfunktionalisiert die Trinität).
Vermittlungsversuche
Kuhlmann, Jürgen, Die Taten des einfachen Gottes. Eine römisch-katholische Stellungnahme zum Palamismus, Würzburg 1968 [Die damals nicht gedruckten Teile 3 und 4 sind jetzt im Netz]
Halleux, André de, Palamisme et Scolastique, in: Revue théologique de Louvain 4/1973, 409-442.
Kuhlmann, Jürgen, Vergottung im Heiligen Geist. Die Botschaft des Athosmönches Gregorios Palamas, in: Geist und Leben 57/1984, 352-369.
Líteraturübersicht
Stiemon, Daniel, Bulletin sur le Palamisme, in: Revue des Etudes Byzantines 30/1972, 231-341.
Neueste historische Untersuchungen
Richter, Gerhard, Ansätze und Motive für die Lehre des Gregorios Palamas von den göttlichen Energien, in: Ostkirchliche Studien 31/1982, 281-296.
Ders., Gnade als Topos der Theologie des Gregorios Palamas, in: Unser ganzes Leben Christus unserm Gott überantworten (Festschrift Fairy v. Lilienfeld), Göttingen 1982, 245-262.
Anmerkungen (*1) Ernst Benz, Patriarchen und Einsiedler, Der tausendjährige Athos und die Zukunft der Ostkirche, Düsseldorf 1964, 205£
(*2) Tr I, 3, 34; 185. Kant hat vermutlich nie ein Wort von Palamas gelesen. Um so anregender ist die hübsche Parallele: "So enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche. Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr als hundert mögliche ... Aber in meinem Vermögenszustand ist mehr bei hundert wirklichen Talern als bei dem bloßen Begriff derselben (d.i. ihrer Möglichkeit)." (Kritik der reinen Vernunft, II. Buch, des 3. Hauptstücks 4. Abschnitt).
(*3) Dieser Absatz erhält besonderes Gewicht dadurch, daß er nicht nur in einer Privatschrift Gregors vorkommt, sondern auch in den "Tomos hagioretikos" aufgenommen worden ist (PG 150, 1229 D f).
(*4) Von anderen Seiten her nähern sich auch die tiefsten Geister der modernen Naturwissenschaft dieser mystischen Einsicht. Zwei wegweisende Beispiele führe ich an: Werner Heisenberg erzählt von einem Gespräch mit Wolfgang Pauli; dabei drückt er dessen Frage nach dem persönlichen Gott so aus: "Kannst du, oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, mit ihr so unmittelbar in Verbindung treten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist? Ich verwende hier ausdrücklich das so schwer deutbare Wort 'Seele', um nicht mißverstanden zu werden. Wenn du so fragst, würde ich mit ja antworten ..." "Du meinst also, daß dir die zentrale Ordnung mit der gleichen Intensität gegenwärtig sein kann wie die Seele eines anderen Menschen?" "Vielleicht." "Warum hast du hier das Wort 'Seele' gebraucht und nicht einfach vom anderen Menschen gesprochen?" "Weil das Wort 'Seele' eben hier die zentrale Ordnung, die Mitte bezeichnet bei einem Wesen, das in seinen äußeren Erscheinungsformen sehr mannigfaltig und unübersichtlich sein mag." (Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1969, 292) - Und Alfred N. Whitehead, der Begründer der einflußreichen "Prozeß-Philosophie" (und -Theologie), skizzierte 1925 "ein Gedankensystem, welches die Natur auf den Begriff des Organismus gründet und nicht auf den Begriff der Materie". (Science and the Modern World, Kap. 5, Anfang).
(*5) Chr. Yannaras, The Distinction . . 244.
(*6) Meyendorff, Introduction, 151.
(*7) Metropolit Seraphim, Die Ostkirche, Stuttgart 1950, 37.
(*8) Wie Palamas den christlich-atheistischen Dialog befruchtet hat, berichte ich in meinem Buch "Gott Du unser Ich" (Düsseldorf 1977) auf S. 77. Wie wunderbar Pneumamystik und Logosmystik (dazu Du-Religion und Selbstmystik) trinitarisch ineinander schwingen, dazu siehe mein Buch "An Quintulum. Ein Vater vor der Sinnfrage" (Nümberg 1982).
(*9) Ernst Benz, ebd. 206.
(*10) Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, 1. Teil, dtv München 1973, 40 ff.
(*11) Die zusammenfassende Übersetzung stammt von E. v. Ivánka (Plato Christianus, Einsiedeln 1964, 405f).
[Veröffentlicht in: Ruhbach/Sudbrack, Große Mystiker. Leben und Wirkungen (Verlag C.H.Beck, München 1984, S. 142-155]
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