Jürgen Kuhlmann
Kreis oder Pfeil
Östliches und westliches Denken ergänzen sich.
In der Mittagssonne dieses Spätsommers sitze ich am Seeufer und beobachte, wie die flinken Wasserläufer hin und her huschen. Was unterscheidet mich von einem Indianer, der vor vielen hundert Jahren das Gleiche erlebt hat? Im Augenblick nichts. Ihm wie mir wärmt die Sonne den Rücken, spiegeln Bäume und Himmel sich im leicht gekräuselten See. Seine Gedanken seien so weit vom Skalpverlust entfernt wie die meinen (eben noch) von der Atombombe; alle Gegensätze seiner und meiner historischen Situation gelten nichts in diesem Frieden.
Beide geraten wir ins Nachsinnen, denken zurück an Frühling und Winter, denken voraus an Herbst, Winter und Frühling. Und hoffen, daß wir übers Jahr wieder hier sitzen werden. Doch wieso wir? jener dort und dieser hier sind keine Gemeinschaft, kennen ein- ander nicht. Doch erlebt jeder dasselbe: viele Sommer habe ich schon gesehen; einst war ich selber, zeitlos, ein Kind, so wie jetzt mein Ältester, der nahebei spielt (hier Tischtennis, dort mit Bogen und Pfeil), hoffentlich einst ein Mann sein und meinen Enkel wachsen sehen wird. So wechseln Tag und Nacht, Morgen und Abend, Jahreszeiten und Lebensalter einander ab, seit jeher ist es so gewesen, immer wird es so sein.
Kulturen dieses ungeschichtlichen Lebensgefühls kennen selbstverständlich ebenfalls Tagespolitik und individuelle Abenteuer, Rivalität und Krieg. (überall ist der Mensch auch ein Geschichtswesen. Doch bestimmen die historischen Ereignisse dort nur die aktuelle Oberfläche des Geschehens, haben keinen Einfluß auf die Deutung des Ganzen. (über zweitausend Jahre lang hat sich zB in China, trotz buntester Vielfalt der Kultur, nichts Wesentliches geändert. Man erfand das Pulver, aber nur für Neujahrsraketen. Der Sinn der Geschehnisse wurde nicht als Fortschritt aufgefaßt, sondern mit Hilfe eines uralten Orakelbuches bestimmt, das alles zu einem gewaltigen Sinnkreis zusammenband, der durch die verschiedensten Varianten doch stets wieder zu den gleichen Konstellationen führt. Das Symbol dieses Prinzips der Wiederholung ist der geschlossene Ring ohne Anfang noch Ende. Im Ritual wird seine stete Gegenwart gefeiert und jedem Teilhaber der Kultur zuinnerst eingeprägt.
Sinnbild des anderen, des geschichtlichen Lebensgefühls ist dagegen der Pfeil. Abgeschossen, schwirrt er seine bestimmte Bahn, bis er das Ziel erreicht - oder verfehlt. "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde," begann mit Adam und Eva sein Menschheitsexperiment, brach dessen erste Etappe enttäuscht durch die Sintflut ab, um es mit Noach neu zu versuchen. Als es im Ganzen wiederum nicht gelingen wollte, überließ er den größeren Teil der Masse sich selbst und sonderte sich Israel aus, es persönlich durch die Geschichte zu leiten, hin zu dem einen Menschen "in der Fülle der Zeit", in welchem Gott selbst als Mensch die Mitte der Geschichte wurde und bleibt. Von ihm an pilgert, neues Gottesvolk, die christliche Kirche durch die Zeiten, entfaltet den unausschöpfbaren Reichtum, der im Christusereignis unentwickelt schon da ist, bis der Herr - nach den grausigen Wehen der Endzeit - einst wiederkommt und der Schöpfungspfeil in der strahlenden Offenbarung der Gottesherrschaft endgültig sein ewiges Ziel erreicht.
Wie gegensätzlich beide Einstellungen sind, zeige das Nebeneinander zweier bezeichnender Texte, beide über ein halbes Jahrtausend vor Christus geschrieben. Der erste stammt aus dem chinesischen Taoteking [dt. v. Richard Wilhelm, Jena 1921, Nr. 29 & 46], der andere aus dem Trostbuch des Propheten Jesaja [43,15 ff, dt. v. M. Buber].
Die Welt erobern wollen durch Handeln:
Ich habe erlebt, daß das mißlingt.
Die Welt ist ein geistiges Ding,
das man nicht behandeln darf.
Wer handelt, verdirbt sie.
Wer festhält, verliert sie ...
Wenn der SINN herrscht auf Erden,
so tut man die Rennpferde zum Dungführen ab.
Wenn der SINN abhanden ist auf Erden,
so werden Kriegsrosse gezüchtet auf dem Anger.
Keine größere Schuld gibt es als Billigung der Begierden.
Kein größeres Übel gibt es als sich nicht lassen genügen.
Kein schlimmeres Unheil gibt es als die Sucht nach Gewinn.
Denn: Das Genügen der Genügsamkeit ist dauerndes Genügen.So hat ER gesprochen,
der einen Weg einst gab durch das Meer,
einen Pfad durch wütige Wasser,
der hinfahren ließ Wagen und Roßmacht,
Heertroß und Streiterwut, -
miteinander legten sie sich nieder
ohne wieder aufzustehn,
schwelten wie ein Docht,
erloschen:
Gedenket nimmer des Frühern,
dem Vormaligen sinnt nimmer nach!
wohlan, ich tue ein Neues,
jetzt wächst es auf,
erkennt ihrs nicht?
Auch in die Wüste setze ich einen Weg,
in die Einöde Ströme,
das Wild des Feldes wird mich verehren,
Schakale und Strauße,
daß in die Wüste ich Wasser gab,
Ströme in die Einöde,
mein Volk, meinen Erwählten zu erquicken, -
das Volk, das ich mir gebildet habe,
daß meinen Preis sie erzählen.Im Glauben Israels entstanden, hat die geschichtliche Daseinsauffassung, auf dem Weg über Christentum und Islam sowie deren säkularisierte Erben, die fortschrittserpichte Wissenschaft und den umstürzlerischen Marxismus, heute fast schon die ganze Erde erobert. Eine Epoche lang sah es so aus, als hätte der ruhige Sinnkreis im Bewußtsein der Völker keine Chance mehr. Mit diesem Übergewicht ist es vorbei. Der Pfeil ahnt die Grenze seines Flugs, zitternd ist die Menschheit gespannt, ob es uns gelingen wird, ihn vor der letzten Katastrophe in eine sanfte grüne Rundbahn einschwingen zu lassen. Siegt also, sollten wir überleben, am Ende doch der Kreis?
Ich fasse zusammen: Gemäß dem Kreisverständnis liegt der Sinn im stets wiederholten Durchleben desselben wesenhaften Rhythmus. Höchste Aufgabe der Verantwortlichen ist es, den altgewohnten Kreislauf aufrecht zu erhalten. - Gemäß dem Pfeilverständnis liegt der Sinn im Vorantreiben einer historischen, einmaligen, so nie wiederholbaren Entwicklung. Alles, was es gibt, war einmal neu: Kosmos, Leben, Mensch, Schrift, Elektromotor, Atommeiler. Stößt die alte Technik an ihre Grenzen, dann braucht es eben eine neue; haben wir alles Kupfer aufgebraucht, dann leiten wir unsere Signale halt durch Kabel aus Glas.
Mir scheint: Beide Einstellungen haben, in ihren jeweiligen Kulturen, Großes geschaffen und begeisternde Menschen hervorgebracht. Uns Heutigen ist aber überall aufgegeben, beide zu lernen. In dem Maße, wie die eine Einstellung die andere bloß höhnisch ablehnt, wird sie selbst zur Karikatur. Statisches Beharren ohne Richtung noch Neuheit versumpft in hoffnungsloser Langeweile; Fortschritts streben ohne das Ruhen in bleibenden Gültigkeiten führt in fiebri gen Streß, zum Feuerwerk belangloser Neuigkeiten. Der Capital Herausgeber mokiert sich über Leute, die in New York oder Pöseldorf den Garten Eden einrichten wollen. Weiter so; durch zynischen Realismus wird das grüne Gespenst nicht gebannt, aber gekräftigt. Nein, keine der beiden Sichten kann allein wahr sein.
Zwei Synthese-Versuche sind mir bekannt, ihre Zusammenschau führt zu einer aufregenden Beruhigung. Die "Satelliten-Konzeption" ordnet Pfeil und Kreis nacheinander an, gleich wie eine Rakete mit höchster Dynamik in den Weltraum hinaufjagt, nicht aber um sich ins Unendliche zu verlieren, sondern um in stabiler Kreisbahn ihre Ruhe zu finden. Jetzt müssen wir unseren Eindruck vom Alten Testament präzisieren. Nicht nur die - einseitig auf Zukunft hin dynamisierte - Geschichtsschau der Propheten steht in der Bibel, sondern auch schon die Abfolge von Entwicklung und Ruhe. Sie findet sich in der sog. Priesterschrift, welche die Exegeten aus Teilen der ersten sechs biblischen Bücher rekonstruiert haben.
In diesem Buch wird der Sinn der Geschichte so gedeutet, daß auf eine Periode dynamischer, ja kritischer Situationen die Dauer der erreichten Stabilität folgt. Gott selbst arbeitet sechs Tage an der Schöpfung, am siebten Tag ist das Werk vollendet und Gott ruht. Innerhalb der Schöpfung tritt der Rhythmus zweimal auf. Eigentlich hätten Mensch und Tier sich nur von Pflanzen nähren sollen. Doch Gewalttat nimmt überhand, ihre letzte Konsequenz ist die Sintflut, dann führt der Noachbund so etwas wie eine zweitbeste Ordnung ein: Fleischgenuß gilt nicht mehr als Gewalttat und Gott verspricht, daß er keine weitere Sintflut schicken wird. Damit ist die Weltordnung stabilisiert, der erste Pfeil schwingt in die Kreisbahn ein.
Die nächste Entwicklung bezieht sich auf das Volk Israel. An ihm soll der Schöpfungssegen in Erfüllung gehen: "Wachset und vermehrt euch und füllt die Erde an und nehmt sie in Besitz." (Gen 1,28) Abraham bekommt das Land Kanaan zugeteilt. Sein Stamm vermehrt sich. Wie aber die volle Volksgröße erreicht ist, wird Israel im fremden Land geknechtet. So entsteht neue Dynamik und Instabilität. Gott greift ein, befreit sein Volk und führt es durch Wüste und Abfall in das verheißene Land. Am Ende der Priesterschrift heißt es dann: "Die ganze Gemeinde der Israeliten versammelte sich in Schilo und dort schlugen sie das Zelt der Offenbarung auf, nachdem das Land von ihnen in Besitz genommen war." (Jos 18,1 ) Die Dynamik ist an ihr Ziel gekommen, von jetzt an soll es in gleichmäßigem Frieden weitergehen.
Norbert Lohfink, dem wir diesen neuen Blick aufs Alte Testament verdanken, kommt zum Ergebnis: "Die Adressaten der Priesterschrift, Israeliten der Zeit des babylonischen Exils, befinden sich, obwohl sie Israeliten sind, de facto nicht mehr im Land Kanaan. Wenn trotzdem diese Botschaft von einer stabilen Welt an sie ergeht, dann sollen sie ihren Verlust der Heimat offenbar als eine vorübergehende Störung betrachten lernen. Von Gott aus soll sie möglichst bald behoben werden, wenn nicht menschliche Weigerung störend dazwischen kommt. Trotz allen gegenteiligen Anscheins ist die Welt also als eine stabile gedacht, und Gottes ewige Bundeszusagen untermauern das." [Orientierung 1977,147 f]
Was die Verfasser der Priesterschrift freilich minder deutlich als die Propheten sagten, ist die Gegenwahrheit: Gottes Werk war damals noch nicht zu Ende. Viele Jahrhunderte später wird Christus sagen: "Mein Vater ist bis jetzt am Werken." (Joh 5,17) Und in der Theologie des Lukas ist dieses gegenwärtige Werk Gottes eine zentrale Kategorie. Im Hohen Rat wird der berühmte Theologe Gamaliel zum Helfer der jungen Jesusgemeinde: "Laßt ab von diesen Männern und gebt sie frei. Wenn nämlich dieser Wille oder dieses Werk von Menschen ist, wird es zerstört werden; ist es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht zerstören. Sonst steht ihr noch als Gottbekämpfer da" (Apg 5,39). Und am Ende seiner großen Rede zitiert Paulus den Propheten Habakuk, aktualisiert somit dessen Spruch: "Seht her, ihr Verächter, staunt und werdet zunichte! Denn ich will ein Werk vollbringen, noch zu euren Lebzeiten, ein Werk, das ihr nicht glaubtet, wenn es euch jemand erzählte" (Apg 13,41).
Nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung, dem Zentralereignis der Menschheitsgeschichte, geht das Werk Gottes also weiter. Dann gilt die alte Spannung zwischen Priester und Prophet aber auch heute noch! Einerseits sollen wir das vergangene göttliche Werk immer wieder in der Meditation betrachten und im Kult feiern. Anderseits sollen wir nicht zurückschauen, sondern mutig darauf achten, wo Gottes Werk sich im Augenblick vollzieht. Männer wie Teilhard de Chardin und Papst Johannes XXIII. haben das Volk Gottes aus verkrusteter Enge in neue Weiten geführt; sind sie weniger die Mittäter SEINER Taten als die Gotteshelden der alten Zeit? "Amen, amen, ich sage euch: wer an mich glaubt, die Werke, die ich tue, wird auch er tun, und größere als diese wird er tun, weil ich zum Vater gehe" (Joh 14,12). Viele Pfeile göttlichen Heils geschehens hat ihr anfänglicher Vorwärtsdrang schon in die stabile, verläßliche Kreisbahn getrieben. Woher kommen aber jeweils die neuen Pfeile? Hier versagt das Satelliten-Modell.
Der Schweizer Journalistin Lily Abegg, die lange in Ostasien gelebt und 1949 über den Gegensatz des dortigen zum hiesigen Denken ein erhellendes Buch veröffentlicht hat, ihr verdanken wir die andere Leitvorstellung. Hier biegt sich nicht die Linie zum Kreis, sondern viele Kreismittelpunkte ergeben zusammen die Linie: "Die Weltgeschichte gleicht einem einmaligen und nicht umkehrbaren Ablauf, um den sich rhythmisch und spiralförmig die Einzelmen schen, Völker und Kulturkreise schwingen ... Die Ostasiaten sahen nur die kreisförmige Bewegung der Spirale, mißachteten indessen den Umstand, daß sie sich auch auseinanderzieht; daher bemerkten sie keine Entwicklung. Wir hingegen richteten unsere Aufmerksamkeit so sehr auf die Abstände und Stufen, daß wir die Kreise kaum noch bemerkten und der Gesamtablauf uns schließlich als Gerade erschien." [Ostasien denkt anders (Zürich 1949), 403 f]
Eine großartige Deutung, sie erklärt beide Einseitigkeiten: Der Osten preßt die Spirale zum geschlossenen Kreis zusammen, der Westen zerrt sie zum klirrenden Draht auseinander. Ich erinnere mich gut, mit welcher Faszination ich die erste elektrische Klingel baute. Strom durch die Spule, schon ist sie ein Magnet und reißt den Klöppel an sich. Bei der "Spiral-Konzeption" erzeugen viele Kreise in sich einen neuen Pfeil. Auch der stabilste Sinnkreis ist ja nicht exakt in sich geschlossen, sondern entlang der Zeitachse zur Spirale auseinandergezogen. Je voller nun das stabile Leben kreist, um so stärker wird auch der Dynamismus in der neuen Dimension, um so energischer wird die Kreisbahn, in die der so entstandene Pfeil einschwingt, also auch die aus ihr sich ergebende Spirale, und so weiter - bis wann? Bis die Gesamtheit aller kosmischen Pfeilkreise und Kreispfeile in Gottes unendlich gespannte Ruhe mündet.
1982
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