Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Popanz oder Mysterium?

Über Sartres Stück
"Der Teufel und der liebe Gott"


Viel Jugend im Parkett; auch auf dem Spielplan des Berufsschul-Theaterkreises steht das Stück. Was denken die jungen Menschen bei Sartres gewaltigen Sätzen? Geht manchem vielleicht erschreckend auf, daß Gott nicht abgetaner Schulstoff, sondern das Menschheitsproblem ist und bleibt? Der Gottlose wird zum Propheten: Welche Sonntagspredigt kreist derart rücksichtslos um Gott? Welche Kirche wird so vom Kreuz beherrscht wie mehrmals diese Bühne?

Und doch endet das Stück Sartres mit einer schauerlichen Antwort. "Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Nichts ... Gott existiert nicht, Halleluja! Eitel Freude und Tränen der Freude ... Gott ist tot. Wir haben keinen Zeugen mehr ... Endlich allein!" - Der Christ kann nach Sartres Kindheit fragen und aus ihr die Wucht seines Hasses gegen "den Anderen" erklären. Das reicht aber als Antwort nicht zu. Der leidenschaftlichen Gottlosigkeit ist einzig ein gleich kühner Glaube gewachsen. Dieser lebt, als unentfaltetes "Dennoch!", sicherlich in vielen Zuschauern des Stückes. Die folgenden Thesen möchten dieses "Dennoch" klären helfen.

Sartre hat recht: Gott scheint wirklich der Feind des Menschen. Auf dem Höhepunkt seiner Bosheit lästert Götz: "Immer noch kein Wunder. Ich fange fast an zu glauben, daß Gott mir freie Hand lassen will. Dank, mein Gott, vielen Dank. Dank für die Frauen, die vergewaltigt werden, Dank für die gepfählten Kinder und die enthaupteten Männer ..." Ist dieser Gott ein Popanz? Wahrlich nicht! Kriegsverbrechen in Vietnam, Sudan, Biafra - das Grausen ist Wirklichkeit, und hinter der Wirklichkeit, so heißt es, steht als ihr Schöpfer Gott, in unserer Zeit nicht anders als ehedem.

Sartre hat recht: Freiheit, selbstverantwortete Entscheidung zu sich selbst ist das höchste Gut des Menschen. Wer ihm das rauben will, ist sein schlimmster Feind und gehört getötet. Der Rausch des Selbst, der in diesem Stück wohl manchen zum erstenmal überfiel, die nüchterne Trunkenheit des ganz und gar Freien, auf sich Gestellten, diese unsere innerlichste Freude wiegt schwerer als alle harmlose Geborgenheit im sicheren Gehäuse eines vorgegebenen "Guten", das in Wahrheit oft bloß ideologisch aufgeputzte Schwäche ist. Der Mensch ist selbständig, und Gott scheint wirklich sein Feind. Beide Wahrheiten widersprechen allerdings einer gewissen biederen Naivität, die sich gern als "die" christliche Haltung ausgibt. Da sagt man: Gott bewirkt das Übel nicht, er läßt es nur zu. Und man. sagt: Nicht der Mensch hat seine Welt und sein Leben zu planen, sondern Gottes Vorsehung lenkt alles, ihr hat der Mensch sich demütig zu unterwerfen. - Solche Sätze sind natürlich nicht durchaus falsch; sie können richtig verstanden werden. Aber sie verführen leicht dazu daß man vor dem un-heimlichen Geheimnis "Gott" in das heimelige System eines selbstgefertigten Götzen flieht, der sich mit solch armseligen Unterscheidungen wie "Bewirken/Zulassen" aus der Verantwortung herausredet und andererseits zugleich tyrannisch die Alleinbestimmung über alles haben will. In diesem System läßt sich's fein leben - Christentum ist das aber nicht.

Jesus hat sterbend gerufen: "Gott, mein Gott, warum ["wozu?" sei die genauere Übersetzung, erklärt Pinchas Lapide] hast du mich verlassen?" Die Klarheit war dahin, der Denkrahmen zerfetzt, Gott, die All-Erklärung, erklärte nichts mehr, durch das eingestürzte Dach des geistigen Wohnhauses starrte kalt der unbegreiflich ferne Himmel. Als Jesus starb, war "dieser Gott" gestorben - und aus diesem Grab erwächst das Christentum.

Derselbe Mensch, der da hilflos am Kreuz hängt, hatte zuvor gesagt: "Ich und der Vater sind eins." Das bedeutet: Keinem Fremden bin ich verantwortlich, sondern meinem eigenen tiefsten Selbst. Nichts Äußerliches bindet mich, kein Druck eines riesigen "Anderen" lastet auf mir, bricht mir das freie Rückgrat. Meine innerste Entscheidung ist es, die Welt so zu lieben wie der Vater, und für sie alles zu geben. Freilich erschrecke ich mitunter vor den Folgen dieser Entscheidung, das furchtsame Fleisch wehrt sich - aber dadurch wird doch mein eigener Wille kein fremder. Auch am Ölberg ist Jesu persönlicher Entschluß eins mit dem seines Vaters.

Der Heilige Geist, der uns Christen erfüllt, ist das innigste Einssein des Kindes mit dem Vater: Christus hat uns den Geist des Vaters geschenkt. Wenn darum Götz lachend ruft: endlich allein! - dann fühlt der Christ nicht Neid, sondern Mitleid. Denn auch er ist durchaus allein in dem wünschbaren Sinn, daß kein Fremder ihn mit vergewaltigendem Blick zwingt und beschämt. Diese Einsamkeit ist aber zugleich erfüllt mit der innigsten, verständnisvollsten Liebesgemeinschaft. Von ihr weiß der Gottlose nichts.

"Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" - Ich und der Vater sind eins." Beide Seiten des Mysteriums hat Sartre tiefer erfaßt als viele Christen. Was trennt seine Lehre dennoch von unserem Glauben? Es ist die Weise, wie beide diese äußersten Gegensätze ("meines Gottes" letzte Ohnmacht sowie die erfahrene Allmacht dessen, der mit dem Vater eins ist) miteinander vereinen. Für Sartre ist der Gott, der am Ende als tot erkannt wird, eben jener Vater, mit dem der Mensch sich zuvor eins gewähnt hatte. Was bleibt, ist nur der Mensch selber. Jesus dagegen und - in seiner Kraft - der Christ verstehen, daß jener "Gott", der nicht helfen kann, tatsächlich bloß das bisherige Gewand des Vaters war, in dem er sich mir zeigte und das jetzt auf einmal zu eng geworden ist und zerreißt. Was bleibt, ist der Vater selbst in seiner Unbegreiflichkeit - und meine ebenso unbegreifliche Einheit mit ihm: "Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist." Dort bleibt nur ein stolzes Ich, hier dasselbe stolze Ich, dazu aber ein dankbares Du und die Seligkeit des Wir.

Wer also als Christ in Sartres Stück ein Minderwertigkeitsgefühl bekommt, dessen Glaube ist noch sehr unmündig. Vor sich selbst und der Welt stehen Existentialist und erwachsener Christ in derselben strengen und großartigen Freiheit da: nichts Fremdes bestimmt sie, sondern allein der eigene persönliche Entschluß. Der Unterschied ist nur der, daß der Ungläubige sich in leerer Einsamkeit zu irgendeinem beliebigen Inhalt entschließen muß, während die christliche Entscheidung stets im Raum des unendlichen "Wir" geschieht und sich deshalb grundsätzlich nicht gegen das Wir, zur Lieblosigkeit, entschließen kann. Herauszufinden, welche inhaltlichen Folgen das auf der einen Erde der einen Menschheit habe, das ist die (nie ganz und nie für immer gelöste) Aufgabe der christlichen Moral. Solche inhaltliche Bestimmung mag bei verworrener Moral oder verwirrtem Gemüt zuweilen als Beschränkung und Armut erscheinen; tatsächlich verbleibt eine solche Betrachtung aber an der Oberfläche. In der Tiefe zählt nicht der Inhalt der äußeren Taten, vielmehr der Kern der Person selber. Der aber ist als bloßes Ich unermeßlich ärmer denn als gespannte Einheit von Ich, Du und Wir.

Daß die christliche Auslegung nicht nur die schönere, sondern auch die wahre ist, dafür ist uns Jesu Auferstehung das Zeichen. Sie zu bezeugen ist Freude und Auftrag der Kirche. Wem der Auferstandene sich freilich nicht gezeigt hat - dürfen wir dem übelnehmen, wenn sich ihm das Rätsel des gemeinsamen Daseins nicht so überschwänglich löst wie uns? Viele sind berufen (zum ewigen Leben), wenige aber auserwählt (es hier schon zu verkünden). Unsere Hoffnung darf vertrauen, daß, besser als Sartre von Gott, der Vater Christi von seinem mutigen Kind Jean Paul denken wird.

(Leicht gekürzt veröffentlicht in CiG 20/1968, Nr. 15 v. 4. April)

[Vgl. den Schluß eines geplanten und nie veröffentlichten Buches von 1964 ("Über den Gnadenstand"). Karl Rahner hat es als "Quaestio disputata" empfohlen, der Herderverlag als total mißglückt abgelehnt - zu Recht, was die Wissenschaftlichkeit betraf.]

Nur einen Weg gibt es, von den Gottlosen nicht an Echtheit und Strahlkraft der Gesinnung in den Schatten gestellt zu werden: wir müssen mit unserem Gott so ernst machen wie sie mit der Selbstvergötterung. Der Wettkampf unten in der Arena, zwischen libertinistischem und aszetischem Bodenturnen auf dem Grund des Selbstvertrauens, er ist heute mehr denn je (freilich nach wie vor unabdingbar) nur Vorspiel und Training für den Kampf der Geister hoch droben. Wer wird dem Drahtseilkünstler Widerpart bieten, wenn er in schauerlicher Einsamkeit, nur von Tode erwartet, sicher Schritt vor Schritt setzt, vertrauend der eigenen kühnen Kunst? Alles hält den Atem an und weiß, hier geschieht eine Tat. Wer will sie übertreffen?

Plötzlich jedoch werden aller Augen noch höher emporgerissen, da hängt an einem Trapez ein Mädchen, fast ein Kind noch, Maria Teresita mit Namen. Selbstvergessen streckt sie die Arme nach dem Partner aus, der sich drüben bereitet, sie sicher aufzufangen. Weiter und weiter schwingt das Trapez; niemand achtet mehr auf den einsamen Drahtseilmann - denn reicher ist das Drama der Liebe als die Tragik den Selbst. Ja meine Seele, schwinge! Vergiß, was unter und hinter dir liegt, und streck dich aus nach deinem endlichen Ziel. Blick immer wieder auf Ihn, der angespannt auf dich wartet. Hörst du dann mitten im wirbelndsten Schwung aus seinem Mund den Befehl "jetzt komm!" - dann trotze nicht und hab keine Angst. Schließ die Augen und laß dich los. Dann werden dir die Sinne schwinden, versuche aber nicht, sie festzuhalten. Er ist ja da. Meistens wird es dann erst eine Probe gewesen sein. Du erwachst, und schaukelst wiederum allein an deinem Ort.

Einmal aber wird es nicht so sein. Du hörst den wohlbekannten Ruf und stößt dich ab. Dann ist alles aus.

Und wenn du erwachst, ist es Tag.

[Zusatz 2001:] Inzwischen scheint mir, den Gegensatz so zu beurteilen sei zwar eine christliche Denkweise, nicht die uns allein gebotene aber. Als oberstes Prinzip im ideologischen Wirrwarr sehe ich jetzt die dreieinige Gleichrangigkeit der gegensätzlichen Bewußtseinsdimensionen an. Wofern jemand in Glaube, Hoffnung und Liebe lebt, d.h. an den Sinn des Ganzen glaubt, die Vollendung dieses Sinns hofft und seine Mitmenschen liebt, nämlich Taten und Unterlassungen vor ihnen verantworten will, kommt es nicht darauf an, welcher teilgehabte innergöttliche Sinnpol sein Fühlen grundlegend prägt. Ob jemand "zu Dir!" ruft oder zuletzt murmelt "jetzt bin ich gespannt wer ich wirklich bin" oder ergeben abwartet, wie das Nirvana sich wohl anfühle - da Gottes DU, ICH und EINS gleichrangig sind und jede Dimension in uns leben will, besteht das Heil in ihrem wirklich sich vollziehenden Ineinander. Von dessen Energie kann jeder bestimmte Ausdruck an der Oberfläche des Bewußtseins als gültig besiegelt werden. Deshalb darf ein Christ jeder "Schaltung" zustimmen, wird ihr aber sofort widersprechen, wenn sie sich als einzig gültige aufspreizt oder auch nur zur allein besten erklärt. In der Welt hat das Drama ihrer Widersprüche nie ein Ende; jeder scheinbar endgültige Standpunkt enthüllt sich als vorläufig, sobald ein Gegenpol ihn aus größerer Tiefe erschüttert.

So sehr diese theoretische Einsicht stimmt, so wenig darf sie sich gegen irgendeinen existentiell gelebten bestimmten Sinnpol durchsetzen wollen. Wollte ich mit dem Gesagten mehr recht haben als ein frommes Muselkind oder ein mühsam von seiner Gottesvergiftung genesender Jugendlicher &c: dann wäre ich trinitarischer Arroganz verfallen. Zwar sind die drei Farbgegensätze rot/grün, blau/orange und gelb/violett je das ganze Licht - trotzdem hätte ich mit der Behauptung "die Sonne ist bunt" keineswegs mehr recht als wer das leugnet. Wem (und sei er offiziell Christ) das trinitarische Prisma fehlt, muß die Dreifaltigkeitslehre nicht glauben - die Apostel kannten sie auch nicht. Freilich tut ein solcher gut daran, sie dialogisch ernst zu nehmen. Denn sie hilft wunderbar zur Ganzheit.

[Zusatz Sept. 2002:] "Das reale Elend eines idealen Paares" nennt Rosa Montero die Liebesgeschichte von Sartre und Simone Beauvoir (El País, ein Sonntagsmagazin Aug/Sept, S. 88-93) und kommt nach einer Schilderung der widerlichen Praktiken des Paares mit anderen Geliebten, deren es sich aufs zynischste zur wechselseitigen Belustigung bediente, zum Ergebnis: "Man möchte sagen, daß Sartre nicht fähig war, jemanden außer sich selbst zu lieben, während Simone ohne Zweifel Sartre treu liebte, oder wenigstens die Idee von Liebe, die sie sich gemacht hatte."


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