Jürgen Kuhlmann

Warum Christen
keine Muggel sind

Harry Potter - eine Christus-Ikone ?

Was begeistert Kinder so an Harry Potter und der Zauberburg Hogwarts? Auch das Kind in Mann und Frau. Meine erwachsenen Töchter verschlingen die Bände. Warum? Der Apfel auch dieser Frage läßt sich tausendfach durchschneiden, so daß jede Schnittfläche einen Teil der Wahrheit zeigt. Robert Bögle, Münchner Schüler-Psychologe, sieht Harry als Figur, dank der die Kinder ihre gegenwärtigen Gefühle (und, ergänze ich, wir - Erwachsenen? - unsere von früher her nachwirkenden) übersteigert ausleben und so klären können: Geschwister-Rivalität, Daheim-Unverstandensein, Randexistenz auf dem Pausenhof: "Jedes Kind ist ein Prinz oder eine Prinzessin oder ein Zauberer."

Durch einen anderen Apfelschnitt spürt Andrzej Stasiuk (F.A.Z. v. 24.2.2001, S.43) eine mulmige Stelle auf. Spöttisch beschreibt er die Substanzlosigkeit der Zauberwelt: "Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber dieser ganze Zauberzirkus, diese Fähigkeiten der Levitation, der Aufhebung der Schwerkraft, die Widerstandsfähigkeit gegen Feuer, die Ortswechsel und Transformationen beruhen im Grunde genommen auf reicher Technik. Geschicklichkeit und Beherrschung des Programms garantieren den Erfolg. Mich hat dieses Hogwart an einen etwas größeren, dreidimensionalen Computerbildschirm erinnert. Das sieht mir alles zu hübsch aus, zu leuchtend und zu pyrotechnisch."

Beiden Deutungen widerspreche ich nicht. Vermutlich werden von den zahlreichen Lesern täglich weitere Teilwahrheiten entdeckt. Meine dürfte ernsten Leuten zunächst blöd oder ärgerlich vorkommen, je nachdem. Aus einer evangelischen Pfarrbücherei der Schwäbischen Alb wurde Harry ja gar als glaubensgefährdend verbannt! Für mich ist er dagegen ein Christusbild. Läßt etwas so Anstößiges sich rechtfertigen? Urteilen Sie selbst. Ich greife jene Szene des dritten Bandes heraus, die mich mit geradezu österlicher Wucht gepackt hat, und versuche, sie Nicht-Potterianern nahezubringen.

Zusammen mit seiner Freundin Hermione und dem gesuchten Verbrecher Sirius - in Wahrheit Harrys schuldloser Pate - wird unser Held außerhalb der Burg von den "Dementoren" (Entgeisterern) entdeckt. Das sind entsetzliche Kapuzen-Unwesen zwischen Teufel und Roboter, offiziell im Dienst des Guten, doch abgründig fühllos, vereisend und bestrebt, ihren Opfern die Seele totzuküssen.

Auf dem grausigen Höhepunkt der Erzählung (engl. Ausgabe S. 414) "schloß sich ein Paar starker schleimiger Hände plötzlich um Harrys Hals. Sie zwangen sein Gesicht aufwärts ... er konnte seinen modrigen Atem spüren." Scheinbar war alles aus. Doch "durch den Nebel der ihn ertränkte, meinte er, er sah ein silbriges Licht heller und heller werden ... etwas trieb die Dementoren zurück, es kreiste um ihn und Sirius und Hermione ... die Luft war wieder warm ... er sah ein Tier mitten im Licht, das über den See davongaloppierte ... leuchtend wie ein Einhorn."

Rätselhaftes Ereignis. Wer war jene Gestalt, zu der das Wundertier zurücklief? "Harry sah dank seiner Helle, wie jemand es begrüßte ... jemand der seltsam vertraut aussah ... aber das konnte nicht sein ..." Harry fragt sich, ob gar sein gestorbener Vater ihm die Rettung gesandt hat.

Die Wahrheit ist noch geheimnisvoller. Dank einem Time-Turner, Zeitwender sind Harry und Hermione drei Stunden zurückversetzt worden. Erneut läuft dieselbe Zeit ab! Ungesehen von sich selbst (wie sie eben noch waren), beobachten sie nun von jenseits des Sees aus die eigene vergangene, nun wieder gegenwärtige Todesgefahr. Schon senkt ein Dementor seine Kapuze zum Todeskuß. Harry zittert (442):

"Es war Zeit, daß der Retter erschien - aber niemand kam diesmal zu Hilfe ... Und dann überfiel es ihn - er begriff. Er hatte nicht seinen Vater gesehen, er hatte sich selbst gesehen. Harry stürzte hinter dem Busch hervor und zog seinen Stab. "EXPECTO PATRONUM!" schrie er. Und aus dem Ende seines Stabes brach hervor - nicht [wie früher manchmal] eine formlose Nebelwolke, sondern ein blendendes, silbergleißendes Tier. Er riß die Augen auf: Was war das? Wie ein Pferd sah es aus. Es galoppierte lautlos von ihm fort über die schwarze Seeoberfläche. Er sah es den Kopf senken und die Unmasse Dementoren angreifen. Jetzt galoppierte es um die dunklen Gestalten auf dem Boden herum, und die Dementoren wichen, zerstreuten sich in die Finsternis - sie waren weg.

Das Patronus wandte sich um. Es preschte zurück auf Harry zu über die ruhige Wasserfläche. Es war kein Pferd, auch kein Einhorn. Es war ein Hirsch, hellschimmernd wie droben der Mond. Es kam zu ihm zurück. Am Ufer blieb es stehen. Seine Hufe drückten sich dem weichen Boden nicht ein, als es mit seinen großen Silberaugen auf Harry blickte. Langsam neigte es seinen Kopf mit dem Geweih.

Und Harry begriff. "Prongs", flüsterte er ["Zacken", Spitzname des Vaters]. Doch als seine zitternden Fingerspitzen sich zu dem Geschöpf hin streckten, verschwand es."

Als Christ glaube ich: Die Geschichte stimmt. Keine Einzelheit, aber im Ganzen. Schon einmal hat jemand sich aus seiner Zukunft ein lebendiges Licht in die Gegenwart zurückgesandt. Ohne es zu wissen, versteht die Leserschaft - zum ersten Mal? - die Geschichte von Jesu Verklärung. "Da ward er vor ihnen verklärt: Sein Gesicht erstrahlte wie die Sonne, seine Gewänder wurden weiß wie das Licht" (Mt 17,2). Was halten wir von diesem Bericht? Er sei, meint der Bibelwissenschaftler Rudolf Bultmann (Theologie des N.T., 28), "eine von Markus in das Leben Jesu zurückprojizierte Ostergeschichte". Dieser Ansicht dürften heute die meisten Fachleute sein. Von Harry Potter läßt sich lernen, daß es vielleicht ganz anders war. Kein literarischer Trick muß hinter dem befremdlichen Evangelium stecken. Auch an ein echtes Wunder darf man glauben. Warum soll nicht, statt Markus, Jesus selbst seinen Ostersieg machtvoll in seine Lebenszeit zurückgestrahlt haben? Theologische Science fiction? Nein: Zeitgemäßer Glaube. Die Ex-Moderne ist um.

Wie alt war ER bei der Auferstehung? So alt wie der Gekreuzigte? Ja, aber nicht nur. Der ganze Jesus ist auferstanden, Nu für Nu, vom Mutterschoß bis zum Kreuz. Daß Ostern schon auf das Krippenkind zurückgewirkt hat, ist die Wahrheit unserer Weihnachtsengel. Weil die Verherrlichung jede Stunde von Jesu Wanderleben innerlich ergreift und verwandelt, sind seine äußeren Wunder dann und wann (von ihrer Zukunft aus gesehen) das Normalste der Welt. Dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist (Mt 28,18), somit auch über jede Zeit, warum soll er nicht seinen Freund, der im See versinkt, mit starker Hand zu sich emporziehen? Und das nicht nur damals. "Dein Vater ist am Leben in dir, Harry", erklärt der gütige Headmaster zuletzt (460); "ICH bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt", verspricht (Mt 28,20) seinen Freunden der Auferstandene.

Hunderttausende sind gespannt, wie es mit Harry weitergeht, eine Menge junger Menschen, die in Reli fehlen oder gähnen. Vermutlich merken die meisten gar nicht, daß sie mit dem Spottnamen "Muggel" eben jenes nüchterne Weltbild verachten, das dem Oberflächenbewußtsein des aufgeklärten Westens bis vor kurzem als selbstverständlich galt. Wie die Wunderfabel sich fernerhin ausgestalten wird, weiß niemand. Ich glaube: Bedeutsamer als Harrys Triumph aus der Zukunft über die gegenwärtige Todesnot wird nichts mehr sein. Als ohnmächtiger Empfänger und machtvoller Aussender des Heilslichtes könnte er für die Christenheit des angebrochenen Jahrtausends ein ähnliches Leitbild werden wie es Orpheus in der Antike war, oder dem Mittelalter ein gerecht herrschender Kaiser. Muggel (auch Potter-süchtige) haben keine Ahnung. Seit eh und je ist die Erde in ein Hogwarts verwandelt. Wenn sie sich auch oft buchstäblich so ("schweinswarzig") ausnimmt, keine Sorge: die nächste Eulen- oder Taubenpost ist schon unterwegs zu dir.

21. April 2001

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