Jürgen Kuhlmann

Religion - warum DU?

Mit welchem Recht nenne ich die Religion den Du-Pol? Ist Gott nicht vielmehr die "erste Person", d.h. das Ich? Dionysius der Thraker (170-90 v.Chr) aus Rhodos schreibt in der ältesten erhaltenen Grammatik von drei Personen ("prosopa"): "Die Rede geht von der ersten zur zweiten über die dritte Person." (Bibliotheca Trinitariorum, ed. E. Schadel, II [München usw. 1988],335) Nicht nur grammatikalisch ist das Du die zweite Person, auch in Wirklichkeit gibt es keine Anrede ohne Anredenden, kein "Du" ohne vorausgesetztes Ich. Denn ich bin auch allein denkbar, "du" aber nicht ohne mich, der dich anredet. Mithin, so scheint es, muß Gott, der ursprunglose Ursprung und Anfang überhaupt, uns erstens als das Ich gelten, das sich zweitens den Logos als sein ewiges Du gegenübersetzt; beide sind dann, drittens, mitsammen Ursprung ihrer Wir-Gemeinschaft, des Heiligen Geistes [so Heribert Mühlen, Der Heilige Geist als Person, Münster 1963].

Gott als das ursprüngliche ICH zu begreifen, diese Sicht ist gewiß nicht "falsch", sie scheint jedoch - genau besehen - zweideutiger, gefährlicher als mein Vorschlag zu sein, mit schuld vor allem an den üblen Zerrformen des jüdisch-christlich-islamischen Monotheismus. Denn was "ich" heißt, das weiß ich, weil ich mich kenne. Ich bin ein selbstbewußtes Wesen, das - mindestens zuweilen und in seiner Einbildung - niemanden sonst braucht. Wie sehr genieße ich, nach Frauengekreisch und Kinderlärm im überfüllten Beduinenzelt, meine Selbst-Einsamkeit in der Wüste! Ich bin ich, das ist genug. Und mein Wille gilt. Wenn er das auf Erden nicht tut, weil Feinde wie Verwandte gegen mich sind, dann gibt es doch wenigstens im Himmel Ihn, der in Wahrheit und Fülle ich sagt: "ICH bin der Herr dein Gott ... du sollst keine fremden Götter neben MIR haben" (Ex 20,2f).

Der Gottesbegriff "Ich" ist tatsächlich eine Projektion des (sehr unvollkommenen) menschlichen Ego an den Himmel, über sie hat Feuerbach das Nötige gesagt. Wer über Gott "ich" sagt (wie genau spricht hier die Sprache!), stellt sich tatsächlich in etwa über Gott, wandelt stets haarscharf am Rande des Götzendienstes. Anders, wer nach Jesu und Martin Bubers Vorbild zu Gott DU sagt. Ihm geht es wie dem kleinen Kind, das mit großen Augen dem geheimnisvollen Blick des Vaters begegnet, der sich zu ihm neigt und den es, wie sein Gemüt tief fühlt, ganz und gar nicht begreift. Nur daß DU Vertrauen verdienst, soviel spürt und glaubt es. Der Gegensatz läßt sich geometrisch verdeutlichen: Während mein erlebter Ich-Punkt, wenn ich ihn ins Unendliche projiziere, den ganz anderen Gott notwendig verzerrt, stimmt beim DU-Pfeil grundsätzlich die Richtung aufs Geheimnis zu - und mehr als seine Richtung ist ein Pfeil nicht. Kein fälschendes Bild wird hier projiziert, sondern lediglich DEINE Offenbarung ernstgenommen.

Ich bin überzeugt: In Israel wie bei Islam und Bahaitum hast DU, der SINN des Ganzen, Dich uns als unergründliches DU offenbart. Die Umkehr der Denkrichtung, so daß aus DIR das uranfängliche ICH wurde, das sich zu uns ähnlich verhält wie ich zu den von mir Abhängigen: sie ist bereits nicht mehr Offenbarung, sondern Theologie, auch wo sie in die Heiligen Schriften Eingang gefunden hat. Sie ist, im klärenden Licht der Offenbarung verstanden, nicht falsch: DU bist wirklich das selbstbewußte Urprinzip (denn als DEIN Gleichnis hast DU unser Ich erschaffen), nicht selbstgenügsam allerdings, vielmehr ebenso Liebe wie Selbst. (Wohl hat der SINN des Ganzen sich auch als ICH offenbart, nicht im Nahen Osten jedoch als Pol der Beziehung Ich/du, vielmehr in Indien als Pol der Beziehung ICH/ich.)

Das obige Argument aus Selbsterfahrung und Grammatik (das Ich sei deshalb die erste Person, weil es im Gegensatz zum Du keine andere Person voraussetze) ist gemäß der radikalen Projektionskritik des IV. Laterankonzils von 1215 theologisch mehr falsch als wahr ["Zwischen Schöpfer und Geschöpf läßt sich keine solche Ähnlichkeit feststellen, daß zwischen ihnen nicht eine größere Unähnlichkeit festzustellen wäre." (D 432)]. Auch philosophisch gilt es nur sehr eingeschränkt, nämlich für ein aktuell einsames Bewußtsein, das sich dann wieder einem anderen zukehrt; ehrlich aufs Ganze gesehen, ist jedes menschliche Ich-Erlebnis nach Eins-Erfahrung und Du-Blick erst die dritte personhafte Seinsweise, nicht die erste. Jene Kinder, die Kaiser Friedrich II. ohne Anrede aufwachsen zu lassen befahl, um durch dieses Experiment die Ursprache herauszufinden, sind elend gestorben; Kaspar Hauser hatte überdurchschnittliche Probleme mit seiner Ich-Identität. War des Thrakers Dionys Grammatik-Entscheidung gar fatal? Wäre Europas Begegnung mit Amerika anders verlaufen, wenn Cortez und die Pilgerväter schon in der Schule gelernt hätten, daß "du" die erste Person bist und ich nur die zweite?

Aus: Ehrfurcht vor fremder Wahrheit (N 1996), 61-63


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