Jürgen Kuhlmann

Requiem aktualisiert

Zur Erinnerung an Wilhelmine Walloschke


Am Meeresufer einer jüngst verstorbenen lieben Nachbarin gedenkend, füge ich ins Konzert der anbrandenden Wellen die tröstlichen Melodien des gregorianischen Requiems ein. Seit langem kann ich die ehrwürdigen kirchlichen Totenlieder auswendig. Doch was ist das? Bei "Rex gloriae", verhaspelt sich der Gesang. Den König der Herrlichkeit schafft meine Kehle nicht. Der Melodiefluss bricht ab. Auch bei wiederholten Versuchen. Ab "libera animas" geht es dann zwar flüssig weiter, mit dramatisch zugespitztem Sinn jedoch. Denn zu den Seelen, um deren Erlösung ich bitte, "damit sie nicht ins Finstere fallen", gehört jetzt, zusammen mit jener Nachbarin und meinen, unseren unzähligen Toten, auch schon mein vergangenes Ex-Ich, das dieses Lied so leicht und sicher singen konnte. Obwohl zuletzt auch "Rex gloriae" wieder gelingt, bleibt die Sinn-Verschärfung dem Stück innerlich. Ich vermute, für den Rest meines Lebens.

Bei den Toten, für die wir beten, sind immer schon auch die Lebensgestalten, die wir selbst waren, mehr: gewesen sind und in Gottes liebender Erinnerung lebendig bleiben.

September 2008


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