Rhythmus des Kindes
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I. Erster Durchgang: Das Kind erfährt den Rhythmus der Urbeziehungen. 1) EINS vorher: Urvertrauen. Aus der Rede eines Vaters an sein Ungeborenes: Wie magst du dich jetzt fühlen? Umgeben von gleichmäßiger Wärme, mit allem Nötigen wohlversorgt, bist du zwar biologisch ein eigenes System, erlebst dich aber noch ungeschieden von allem. Keinen Gegensatz gibt es für dich zwischen dir selbst und dem übrigen. Alles ist eines und ich bin dabei - so können wir schon Geborene uns dein Grunderlebnis vielleicht am ehesten deuten. Dir zerfällt die Welt noch nicht in dich auf der einen und den Rest auf der anderen Seite. Was deine Geschwister und ich als Mamis dicken Bauch sehen, das ist für dich ohne Unterschied du selbst und das Ganze. Als EINS umfängt SIE, die mütterliche Geborgenheit, das werdende Wesen und schenkt ihm Lust, die sich hoffentlich zum Urvertrauen weitet.

2) DU vorher: Gebet um Sinn. Später ruht auf dem Kind der väterliche Blick und es erfährt: DU bist da. Deine Kraft schützt, dein Anspruch fordert mich. Dein Wille weist mich auf das Ganze und jeden einzelnen hin. Denn Du bist die personafte Repräsentation des transzendenten Ganzen gegenüber jedem Einzelnen, transendent, weil es nicht nur als erdrückende Übermacht, auch nicht als einschmelzenes Kollektiv auftritt, sondern als höhere Identität jedes einzelnen in ihm. So entsteht die Instanz des Überich, die sich hoffentlich zum Gewissen läutert.

3) ICH vorher: Selbstentwurf. Eines Tages nennt das Kind sich nicht mehr bei seinem Namen, sondern sagt auch selber: ich. Es hat begriffen, daß mütterliche Liebe (auch des Vaters) und väterlicher Anspruch (auch der Mutter) keinem Unselbständigen gelten will; weder birgt SIE bloß einen Teil ihrer selbst noch gebietest DU einem Sklaven. Vielmehr führt die gelingende Spannung von Geborenheit und Anspruch zum freien Ich, des Vaters Blick befreit aus der Enge im mütterlichen Eins, der Mutter Liebe vor dem Vergehen unter dem väterlichen Du. So bildet sich das Ichgefühl, das sich hoffentlich zum Selbstbewußtsein vertieft.

    Dies waren die drei absoluten All-Takte, es folgt der relative Etwas-Takt. ES vorher: Möglichkeiten. Dank Urvertrauen, Gewissen und Selbstgefühl im Sein bestärkt, entdeckt das Kind, welche Möglichkeiten es hat, in Haus und Hof, bei Spiel und Ernst. Vielerlei bietet sich an, vom Licht des Entschlusses erhellt aus möglichem zu wirklichem Sinn zu werden. Was kann (1), soll und darf (2), will (3) ich wählen?

Mitte des Rhythmus: Entschluß. Ja, das ist mein Leib. Aus der Weite der Möglichkeiten, die ich hätte, entscheide ich mich für diese eine Lebensgestalt, die ich haben werde. - Auf die Mitte des Rhythmus folgen die Takte danach, zunächst

    - ES danach: Verwirklichung. Angenommen, das Kind habe sich zur Mathe-Hausaufgabe oder zu einer Lego-Burg entschlossen, dann muß sie jetzt ins Werk gesetzt werden, gegen die Widerstände der Sache, der Geschwister, der eigenen Trägheit. Auch dieser Es-Takt vollzieht sich im Medium des Vielen, Relativen, das aber - dank dem Entschluß - jetzt sakramental an der Würde des Absoluten teilhat.

4) ICH danach: Selbstverwirklichung. Die Verwirklichung kann, mehr oder minder, gelingen oder scheitern; im Tun und Leiden erlebt der Mensch sich selbst, wird Nu um Nu zu seiner einmaligen Lebensform geprägt. Zwischen den Extremen von Hochmut und Kleinmut gilt es, mutig zu sein. Ich bewältige die Hausaufgabe, mir gelingt die Burg, wenn auch nicht so prächtig, wie zunächst erträumt.

5) DU danach: Gericht. So, wie ich durch Entschluß und Werk geworden bin, trete ich vor Dich hin. Das Kind zeigt der Mutter sein Heft, dem Vater die Burg. Was Schuld war, soll ich bekennen und bereuen, für das Gute darf ich danken. Als Deine Antwort fürchte ich Strafe oder Gelächter, hoffe auf Deine Verzeihung und Annahme.

6) EINS danach: Sich-Lassen. Schließlich rundet sich der Lebenskreis. Mit dem Urvertrauen vor aller Geschichte hatte er begonnen, ins Endvertrauen nach ihr löst er sich auf. Jenseits von Stolz oder Kummer, Strafe oder Lob ruht das Kind sich an der Brust der Mutter, des mütterlichen Vaters aus: "Piangi, fanciulla" (weine, Mädchen), tröstet Rigoletto seine geschändete Tochter.

März 1994

 

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