Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Vom Riß in der glatten Wand

Beten ist anders


"Mach schön Männchen," befiehlt der Herr, und mühsam stellt Waldi sich auf die Hinterpfoten, ein Stück Wurst ist sein Lohn.
"Wie sagt man?" - "Bitte," lächelt die Kleine, während ihr Bruder trotzig schweigt. Betteln, ich? Nein. Lieber kriege ich nichts.
Ich kenne einen Menschen, der hat sich vor dem Beten jahrelang gescheut. Die eine Hemmung war jener Protest: Ich bin doch kein Hund, kein Knecht. Wenn Gott die Liebe ist, legt er auf solch würdeloses Getue keinen Wert. Ein weiterer Widerstand speiste sich aus der Solidarität. Darf, will ich meine privilegierte Stellung ausnutzen: zu wissen, daß Beten erhört wird? So würde ich mir doch einen unrechten Vorteil jenen gegenüber verschaffen, denen solcher Glaube nicht geschenkt ist. Mag es auf Erden ohne Beziehungen nicht abgehen - im eigentlichen, himmlischen Leben braucht es derlei Schleichwege nicht. Also wurde, in grimmiger Entschlossenheit, selten gebetet; allerdings blieb bei der Erinnerung an frühere Gebetsfreuden die Wehmut nicht aus.

Beten ist aber ganz anders. Eine von außen gesehen lächerliche Krise hat einen Blick ins glühende Herz des Ganzen aufgetan, plötzlich ist der autoritär-manipulative Kontext zerfetzt, als absurdes Mißverständnis enthüllt, und ich ahne, was Jesus mit seiner wunderbaren Verheißung gemeint hat. "Ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn eine Schlange gibt, wenn er um einen Fisch bittet, oder einen Skorpion, wenn er um ein Ei bittet? Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wieviel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten" (Lk 11,13). Was ist dieser Heilige Geist? Und warum sollen wir um ihn bitten?

Ohne es zu wollen, habe ich einen lieben Mitmenschen verletzt. Statt mir Gedanken darüber zu machen, was Du jetzt mit Recht von mir erwartest, bin ich stur meinem eigenen Programm gefolgt, rück-sichts-los im Wortsinn vorangestapft, d.h. ohne mich nach Dir umzublicken, sonst hätte ich in Deinen Augen einen anderen Willen gesehen, ein für uns alle weit schöneres Programm, welches auch meinem tiefen Wunsch besser entsprochen hätte als das klägliche Ergebnis meiner blinden Hast.

Derart allgemein formuliert, dürfte diese Erfahrung keinem Menschen fremd sein. Aber ich will mich nicht darum über den eigenen Schmutz hinwegtrösten, weil er am gemeinsamen Sündensumpf teilhat. Ehrlicher gesagt: Ich kann es nicht, der Gedanke an die anderen kommt mir erst später bei der Reflexion. "Heißer Scham und Reue voll" (exakt beschreibt der alte Vers die körperliche Erfahrung) spüre ich eine Art Fieber, fliegende Hitze läßt mich nicht einschlafen. Wie herausfinden aus dem Kerker meiner einprogrammierten Reaktionen? Bin ich nicht deren Summe? Wo ist in ihrer glatten Wand der Riß, der den Einbruch des Neuen, Anderen, Guten möglich macht?

Da fällt mir Jesu Versprechen ein. Ja, bei Gott ist kein Ding unmöglich. Die LIEBE möchte unsere verschlossenen Eigenprogramme aufeinanderhin öffnen, damit das gemeinsame Gute wachsen kann. Sie zwingt uns solchen Ausbruch aus der Sonderhaft aber nicht auf, wirft niemanden gewaltsam über seine Wesensmauern ins Freie. Dies ist das wahre, aus dem Leid vieler Generationen gereifte Gottesbild; in neuer Kraft haben glaubende Denker wie Dietrich Bonhoeffer, Simone Weil und Hans Jonas es uns vor Augen gestellt: Gott verzichtet schöpferisch auf seine Allmacht, will nicht über die Geschöpfe herrschen, vielmehr kraft unserer Freiheit als je stärkere Liebe durch uns mächtig sein. Es stimmt schon: Ich bin die Summe meiner Programme, und dieses mein Sein wird von Gott respektiert. Mein Herz weiten darf er nur, wenn ich selbst es will.

Ihm diesen Willen kundtun, das heißt um den Heiligen Geist beten. Denn er ist in Gott das WIR und eines jeden irdischen Wir tiefster Quell. Der ich schon bin, kann aus eigener Kraft nicht werden, was ich in mir gerade nicht bin: offen für die Perspektiven meiner Mitmenschen. Allein des Heiligen Geistes Energie kann dieses Wunder tun. Nicht gegen mich aber, auch nicht ohne mich, sondern nur, wenn meine Sehnsucht die Kontakte blank hält. Rostige Pole reinigen, damit göttliche Energie einströmen und uns aus fixierten Engheiten zu liebender Rücksicht befreien kann, das tut der Beter um den Hl.Geist. Und sogar solches Blankhalten erfordert den göttlichen Impuls: "Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können" (Röm 8,26). Nur in der Kraft des Heiligen Geistes können wir um ihn beten. Circulus vitiosus? Nein, circulus vitalis. Nicht wohlgesetzter Reden bedarf es. Auch ein Mensch, den die Worte "Gott" und "Beten" kalt lassen, kann dem unaussprechlichen Seufzen des Geistes Raum geben und heiler werden. Denn das Heil, d.h. die gesunde Balance sämtlicher Polaritäten, ist kein utopisches Ideal, sondern die unendlich aktive und jeden von uns stets zur je feineren Vollkommenheit lockende Präsenz des göttlichen Gleichgewichts in Person.

Ja, Beten ist anders. Nicht ein Tyrann läßt sich anflehen, bevor er mir meinen Brocken hinwirft; durch kein Vitamin B soll ich mir etwas ergattern, was anderen nicht offenstünde; weder meine Freiheit noch unsere Solidarität wird vom Beten bedroht. Im Gegenteil! Eben um meiner Freiheit willen bete ich; denn nicht kollektive Einebnung des Einzelwesens, sondern seine Selbstverwirklichung im Größeren will die Liebe sein. Und nicht gegen jemanden richtet sich das Gebet um den Heiligen Geist, sondern genau wider jenes Asoziale, Unsolidarische in mir, welches "die noch nicht erwachten Absichten Gottes" (Musil) niederhalten will - erfolglos, sooft wir von Herzen beten.

22. Oktober 1989, veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" v. 12. November 1989


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