Jürgen Kuhlmann

Friede den Runzeln!

Alle Menschen müssen sterben, ich bin ein Mensch, also. Damit muß jeder fertig werden, so oder so. Nicht mehr können, was man gekonnt hat, im früher so glatten Gesicht Runzeln entdecken; chronische Beschwerden - solche Zeichen der Vergänglichkeit sind wie Telegramme des Todes: BIN UNTERWEGS EINTREFFE DEMNÄCHT SEI BEREIT.

Allzu unbekannt ist, wie einer der allerersten überlieferten Sätze europäischer Philosophie dieses Problem anpackt. Er stammt von Anaximander von Milet († ca 545 v.Chr.) und heißt: "Ursprung der Dinge ist das Unendliche. Woraus aber den Dingen das Werden kommt, dahinein geschieht ihnen auch das Vergehen nach der Schuldigkeit. Denn sie zahlen einander Sühne und Buße für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit."

Dieser Rätselspruch hat, entschlüsselt, etwas wunderbar Befreiendes. Jedes Wesen ist geneigt, sich gewaltsam im Sein zu erhalten, indem es andere am Werden hindert. Es versperrt ihnen den Lebensraum und wird an ihnen schuldig. Mehr noch: Auch gegen die schöpferische Unendlichkeit kehrt es sich; könnten aus ihr nicht stets junge, andere Wesen entstehen, wäre sie ja selber wie tot. Deshalb ist es gerecht, daß jegliches Wesen bald neuen Platz machen muß. Wie sähe die Erde aus, wenn dieselben Mächtigen seit tausend Jahren über das Ihre verfügen, sich stur an ihren Positionen festkrallen dürften?

Ja: Wären die Früheren nicht vergangen, gäbe es uns nicht; müßten wir nicht gleichfalls vergehen, hätten unsere Urenkel keine Chance. Damit das Unendliche lebendig bleibt, muß das Endliche sterben und darf, will es vernünftig sein, gegen seinen Untergang nichts haben. Friede den Runzeln!

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