Jürgen Kuhlmann

Hat Jesus sich geschämt?

Die Frage ist unüblich in der Kirche. Gott in Person, der Richter aller Zeiten - wie hätte er sich je einer Tat oder eines Wortes schämen müssen? Und doch wird in den Evangelien ein Wort Jesu berichtet, dessen jeder heutige Christ, wäre es ihm entschlüpft, sich herzlich schämen würde.

Die beiden Berichte über Jesu Begegnung mit der kanaanäischen Frau (Mk 7,24-30; Mt 15,21-28) sind ganz verschieden akzentuiert. Mattäus richtet sich mehr an die Juden: Jesus und die Frau treffen sich im Freien, irgendwo im Niemandsland zwischen jüdischem und heidnischem Gebiet; Jesus weist die Frau schroff zurück (»Es ist nicht recht«). Markus hingegen schreibt für Heiden: Jesus geht (allerdings heimlich) hinein in ihr Gebiet, sogar in ein Haus, trifft dort die Frau und weist sie eigentlich nicht ab, vertröstet sie eher auf später (»Laßt zuerst die Kinder satt werden«).

Hat auch der heutige kirchliche Schreiber jene herrliche Freiheit seiner ersten Kollegen, die vorliegenden Überlieferungen im Licht des eigenen Glaubens neu darzustellen, anders als gewohnt zu akzentuieren? Ich meine, ja. Wir müssen dabei nur das Mißverständnis vermeiden, als sei es uns jetzt endlich verstattet, dem historischen Jesus so zu begegnen, »wie er wirklich gewesen ist«. Nicht um eine solche naive Psychologisierung geht es (naiv deshalb, weil unbedacht gerade unsere Zeit mit ihrem besonderen Lebensgefühl als der Gipfel aller Zeiten erscheint, nach dessen Perspektive sich immer schon alles ausgerichtet habe). Jesu damaliges Bewußtsein gleicht - wie jedes menschliche Bewußtsein - einem Eisberg, dessen größerer Teil vom Meer des Unbewußten verhüllt wird. Was davon ihm selbst im Augenblick des Erlebens klar gewesen ist, was er z.B. bei einem anschließenden Selbstgespräch in Worte gefaßt hätte: das ist sein persönliches Geheimnis und geht uns nichts an. Was sich der inspirierten Reflexion der Evangelisten erschlossen hat, diese zwei Bilder übermittelt uns das Neue Testament.

Welches Bild von Christus schaut aber gerade für uns aus den alten Geschichten über Jesus heraus? Eben weil wir heute wissen, wie verschieden, ja gegensätzlich schon die neutestamentlichen Jesus-Bilder sind, dürfen wir unbefangen - im selben Heiligen Geist wie die Christen damals - auch unsere eigenen Bilder malen. Ob Christus der Lebendige sie ratifiziert, d.h. einem beträchtlichen Teil seiner Kirche hinfort so erscheint wie hier abgebildet: das ist seine Sache. Der Sinn der folgenden Geschichte ist also nicht: aufgrund historischer Forschungen ist Jesus so gewesen. Vielmehr behaupte ich: so wie Christus sich mir zeigt, könnte Jesus damals ungefähr das erlebt haben:

Angewidert von der engherzigen Vorschriftenkrämerei seiner jüdischen Umgebung ging Jesus in die heidnische Gegend von Tyrus und Sidon. Dort wandte sich eine Heidin an ihn und bat ihn, ihrer gemütskranken Tochter zu helfen. Jesus war überrascht. Er hatte bisher immer geglaubt, sein Auftrag beziehe sich unmittelbar nur auf die Juden. Sein Volk war das auserwählte, zu ihm war er gesandt. Um Zeit zu gewinnen, antwortete er zuerst überhaupt nichts. Die Jünger meinten: schick sie doch weg, sonst schreit sie hinter uns her. Jesus wollte sie aber nicht einfach ohne Antwort fortschicken. Er mußte ihr doch wenigstens seine Sicht der Lage, seine persönliche Problematik verständlich machen. Würde sie es begreifen? Wie immer, wird wohl ein Gleichnis am besten sein. Ja, das wird sie verstehen: »Schau, man darf doch nicht den Kindern das Brot wegnehmen und es den Hunden vorwerfen.«

Die Frau zuckt zusammen - und im selben Augenblick weiß Jesus, daß er sich im Ausdruck vergriffen hat. Nein, diese heidnische Frau da ist kein Hund. Sie ist genau so ein Mensch wie die Juden, von Gott ebenso geliebt und geachtet wie die Kinder seines Volkes. Irgendetwas kann nicht stimmen mit all dem, was ihm bisher beigebracht worden ist. Diese erste Heidin aus Fleisch und Blut paßt gar nicht in das selbstverständliche Schema »gottverlassene Heiden«. Er wird darüber nachdenken müssen. Etwas verlegen sieht er die Frau an. Wie wird sie reagieren?

Mit der geschärften Aufmerksamkeit der Bittenden hat sie schon gemerkt, daß der große Mann unsicher geworden ist. Jetzt nur nicht an die Beleidigung denken, es ist ja deutlich zu sehen, daß sie ihm schon wieder leid tut! Es geht auch gar nicht um die eigene Ehre, sondern um die Gesundheit der Tochter. Zum Glück fällt ihr ein, wie sich das von jüdischer Überheblichkeit diktierte Bildwort zu ihren Gunsten umkehren läßt. Und sie antwortet, vielleicht mit einem scheuen Lächeln: »Ja Herr, aber auch die Hündchen unter dem Tisch kriegen von den Krümeln etwas ab.«

Jesus war erleichtert. Sie hatte also gemerkt, daß nicht eigene Sturheit, sondern bloß der noch unverarbeitete Dünkel seines Volkes aus ihm gesprochen hatte. Er hatte sie mit einer Hündin verglichen und doch war sie ihm darum nicht böse, sondern hatte die Beleidigung in ein Kosewort verwandelt: wir Heiden sind wie Gottes Schoßtiere, um die er sich liebevoll kümmert. Und mit Recht, schoß es Jesus durchs Gemüt: denn während die eingebildeten Juden seine besten Worte so lange verdrehten, bis sie einen schlechten Sinn darin finden konnten, verstand es diese Heidin, einen offensichtlich mißlungenen, von einem bösen Vorurteil vergifteten Satz mutig und arglos zum Guten hin auszulegen - einfach weil .sie ihm vertraute und nicht glauben mochte, er tue ihr Unrecht. Nein, wirklich, nicht sie war ein Hund, sondern viel eher seine eigenen Leute daheim, deren unverständiges und liebloses Gekläff ihm schon so lange das Leben verbitterte. Und ebenso überrascht wie glücklich schaut Jesus die Frau an und sagt zu ihr: »O Frau, danke für das, was du da gesagt hast. Geh ruhig heim, deine Tochter ist gesund.«

Widerspricht dieses Bild eines sich schämenden Jesus aber nicht unserem Glauben an Christi Gottheit? Nein; denn ebenso wie Hunger und Müdigkeit gehört auch das Mitschleppen unbedachter Vorurteile zu jener Last des Erdenlebens, ohne die ein zeitlicher Mensch nicht sein kann. Um das anzunehmen, brauchen wir nicht einmal den römischen Kardinälen zu widersprechen, die noch in den letzten Monaten des ersten Weltkriegs ganz sicher zu wissen vermeinten, Christi Seele habe von Anfang an alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige gewußt (D 2154). Denn eines ist: grundsätzlich alles wissen, und ein anderes ist: an dieses Wissen herankommen, es sich gegenständlich bewußt machen können. Gar manches ist mir irgendwie klar; dazu aber, daß es mir ausdrücklich faßbar werde, bedarf es einer Begegnung, eines Erlebnisses, einer nachdenklichen Viertelstunde, oder eben auch der Überwindung eines anerzogenen Vorurteils.

Einem ungeprüften Vorurteil gedankenlos anzuhängen ist weder Sünde noch Irrtum, sondern aller Menschen unvermeidbares Schicksal. Irrtum, vielleicht gar Sünde geschieht erst, wenn das Vorurteil zu einem Urteil wird, d.h. wenn der Mensch das, was unbestimmt und allgemein sich in seinem Bewußtsein herumtreibt, ausdrücklich und persönlich auf eine bestimmte Wirklichkeit anwendet, auf die es nicht paßt. Eben das hat Jesus nicht getan. Was der heidnischen Frau gegenüber zunächst aus ihm sprach, war nicht schon sein Urteil, sondern erst die fremde Ansicht in ihm. Kein Urteil über jemand anderen ohne klärendes Gespräch mit ihm - diesen Grundsatz der Menschlichkeit haben zwar viele sogenannte Christen später mißachtet, nicht aber ihr Herr. Und sobald das Gespräch ihm zeigt, daß seine vorgeprägte Einstellung unhaltbar ist, schämt er sich ihrer und gibt sie auf.

Setzt Scham aber nicht doch wenigstens ein Minimum von Schuld voraus? Nein; ich würde mich z.B. auch schämen, fände ich mich, völlig ohne Schuld, als Hypnotisierter auf einmal splitternackt im Supermarkt wieder. Ist das aber nicht eine unvergleichbar andere Scham als in unserem Fall? Nur scheinbar; denn immer dann sollte einer sich schämen, wenn er - bei der Begegnung mit einer fremden Perspektive - plötzlich merkt, daß sein eigenes Verhalten, von dort aus gesehen, gar nicht so selbstverständlich ist, vielmehr höchst zweideutig, vielleicht sogar schlecht. Wer dann, um der Scham zu entgehen, stur auf seinem bisherigen Standpunkt beharrt, erst der fällt in Irrtum und Sünde. Nicht ein sich schämender Jesus sollte darum den Christen unvorstellbar sein, wohl aber ein unverschämter.

Christus: wenn es wahr ist, daß du dich damals geschämt hast, dann laß nicht zu, daß deine Kirche an ihren heutigen Vorurteilen unverschämt festhält. Gib uns den Mut, daß wir uns jeder Tradition schämen, die zu unmenschlichen Folgerungen führt. Lenke uns hin zu deinem Einlenken; denn nur wenn wir uns jetzt immer wieder vor unseren Mitmenschen schämen, brauchen wir an jenem Tag nicht vor dir in Schande zu versinken - dann, wenn es nicht mehr auf unsere zufälligen Vorurteile ankommt, sondern auf unseren als Liebe lebendigen Glauben.

1983


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