Jürgen Kuhlmann
Die Schau der Unschaubaren
[Im Typoskript hatte es "des Unschaubaren" geheißen; von wem die Änderung stammt, weiß ich nicht, nehme sie aber gern an. Ousia wie essentia sind weibliche Wörter.]
"Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Mt 5,8). - Gott, "der allein Unsterblichkeit besitzt, der in unzugänglichem Lichte wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann: Ihm Ehre und ewige Macht, Amen" (1 Tim 6, 16). Dieser erstaunliche Gegensatz innerhalb der Bibel ist den meisten Christen unbekannt.
Er setzt sich zwischen lateinischer West- und griechischer Ostkirche fort. Im Westen erklärt - nach langem Hin und Her - Papst Benedikt XII. im Jahre 1336 als katholische Lehre: "Die Seelen der Heiligen ... sehen die göttliche Wesenheit in unmittelbarer Schau von Angesicht zu Angesicht, ohne gegenständliche Vermittlung irgendeines Geschöpfes. Sondern unvermittelt zeigt die göttliche Wesenheit sich ihnen nackt, klar und offen" (D 530 = DS 1000). "Nude, clare et aperte" - deutlicher geht es nicht mehr. [Noch 1887 wurde dieses Dogma von Papst Leo XIII. gegen Rosmini eingeschärft, D 1929 f. = DS 3239 f.)]
Gemäß der griechischen Tradition hingegen können die Seelen der Vollendeten zwar, vollkommener als auf Erden, die göttliche Herrlichkeit schauen, nie und nimmer jedoch Gottes Wesen: "Das göttliche Wesen sehen oder denken oder erkennen kann keine gewordene Natur, selbst nicht die Fürsten der überweltlichen Geister. Es ist nämlich so, daß das nach dem Wesen Erkannte, soweit es erkennbar ist, von dem Erkennenden begriffen wird; von niemand kann jedoch Gott begriffen werden; denn er ist von Natur unbegreifbar." [Markos von Ephesus im Jahre 1438, während des Konzils von Ferrara-Florenz. Siehe Jürgen Kuhlmann, Die Taten des einfachen Gottes, Würzburg 1968, S. 114)]
Stellen wir noch zwei typische Aussagen beider Traditionen einander gegenüber. Für Gregor Palamas, den Athosmönch des 14. Jahrhunderts, gibt es keine Schau des göttlichen Wesens, wohl aber fängt schon in diesem Leben die Schau des göttlichen Lichtes an, die - wie jedes persönliche Verhältnis - unbegrenzt an Tiefe und Vertrautheit wachsen kann: "Ist es etwa nicht klar, daß es ein und dasselbe göttliche Licht ist, welches die Apostel auf Tabor sahen und jetzt die geläuterten Seelen schauen und worin die Wirklichkeit der künftigen Güter besteht? ... Werden die Heiligen nicht ins Unendliche bei der Gottesschau im Jenseits fortschreiten? Ins Unendliche, das ist jedem klar ... Wenn also das Verlangen der Beschenkten nicht stehen bleibt, die empfangene Gnade sie stärkt, Größeres aufzunehmen, der sich Schenkende unendlich , ist und neidlos sich gewährt: wie sollten da die Kinder der Ewigkeit nicht ins Unendliche fortschreiten, Gnade für Gnade erhalten und nie ermüdend den jubelnden Aufstieg hinansteigen?" [Siehe ebd. S. 99] Der Tod ist eine von vielen Stufen auf diesem Weg. Für Thomas von Aquin besteht, in krassem Gegensatz dazu, zwischen Jetzt und Dann kein gleitender Übergang, sondern der scharfe Gegensatz von Nein und Ja: "Nicht unterscheidet sich also des Seligen Schau von der des Pilgers wie vollkommener und minder vollkommen schauen, sondern wie schauen und nicht schauen."[Ver q 18 a 1]
Recht überlegt, ist das westliche Dogma eine ungeheuerliche Kühnheit. Ich bin doch endlich, bin durch meine Endlichkeit definiert. Wie soll eine begrenzte Empfänglichkeit die wesenhafte Fülle des Absoluten aufnehmen können? Dagegen leuchtet die griechische Auffassung ein. Und doch greift sie, allein gelassen, zu kurz. Nicht weniger, als die Schlange versprach, will Gott halten. Nicht nur auf irgendeine Weise wie Gott dürfen wir werden, sondern ganz und gar eingehen in seine Unergründlichkeit. Ja: die reinen Herzens sind, werden Gott schauen, den doch kein Mensch je schauen kann - wie sollen wir diese Botschaft verstehen?
Die Antwort fällt verschieden aus, je nachdem welcher Philosophie wir uns bedienen. Die platonisch-augustinische Richtung bleibt dem Alltagsverstand näher. Sie versteht die Schau als ein Gegenüber von (schauendem) Subjekt und (geschautem) Objekt. Wer so denkt, kann m. E. das aufgeworfene Problem nicht lösen. Denn hier lassen die Rollen von Subjekt und Objekt sich nicht vertauschen; ein umgrenztes Subjekt kann jedoch das Wesen des unendlichen Objektes nicht erfassen.
Anders verhält es sich in der aristotelisch-thomistischen Sicht. Hier wird die Erkenntnis nicht nach Art eines Gegenüber verstanden, sondern der Geist des Schauenden entspricht der Materie, der Inhalt der Schau wird zur inneren Form gemäß dem Grundsatz: "Intellectus in actu est intellectum in actu" - der Verstand im Vollzug ist das Verstandene im Vollzug. Ohne Scheu wendet Thomas diese Erkenntnislehre auf die Frage der Gottesschau an.[Ein Kenner behauptet gar, Thomas habe die aristotelisch-averroistische informatio als Erkenntnismodell dem platonischen attingere und der impressio des Avicenna vorgezogen, "um dem christlichen Dogma einer Schau Gottes in sich eine Erklärung geben zu können, wobei Gott kein äußerliches Objekt ist. ..(sondern) die Form, die auf wirkliche Weise (unseren Geist) sich angleicht." So Joaquin Maria Alonso, La visión beata en Santo Tomás de Aquino. Una síntesis comparativa. In: La Ciudad de Dios, 176/1963, S. 635.]
Das göttliche Wesen erscheint hier nicht als Gegenüber oder Objekt eines Subjekts, vielmehr als dessen eigener Akt oder Vollzug, seine ihn innerlich bestimmende Wirklichkeit. So unterscheidet der junge Thomas beim Thema Gottesschau: "Eine Form, die in sich selbst besteht, hat die eine Weise, insofern sie eine Wirklichkeit in sich ist, und die andere Weise, insofern sie der Akt eines bestimmten Subjekts ist." [In IV. Sent. d 49 q 2 a 3 ad 6] Handelt es sich bei der solcherart "geschauten Form" um das Wesen einer Person, dann kann es - in dieser Auffassung, wo Schauender, Schau und Geschautes völlig eins sind - plötzlich geschehen, daß die scheinbar klare Denkrichtung umkippt und aus dem Geschauten der Schauende wird, aus dem Schauenden der Geschaute, ohne daß sich an der Schau selbst etwas ändert. Um diesen Hinweis zu verstehen, braucht es eine weitere Unterscheidung.
Sofern wir endliche, bestimmte Geschöpfe sind, schauen wir zwar Gottes Glanz in der Schöpfung, nicht aber sein Wesen, weder jetzt auf der alten, noch DANN auf der neuen, verewigten Erde. Denn Gottes Wesen, einfach und unendlich, steht allein sich selber offen, keinem endlichen Auge oder Verstand. Sofern wir eigenständige Geschöpfe sind, ist unser Werden ein Schreiten vom Nichts zum Sein; Ziel ist die neue Erde, das helle Selbstbewußtsein der vollendeten Lebensgestalten, die alles Verewigte als Gottes wunderbare Taten erschauen, nicht aber sein unsichtbares Wesen. Dies ist die Wahrheit der Griechen.
Doch ist unser Werden auch anders deutbar: als Selbstausdruck des Schöpfers im endlichen Material. Das deutsche Wort "Machen" kann beide Aspekte der Schöpfung ausdrücken. Der Schreiner macht eine Truhe; so ähnlich stellen viele sich das Schöpfungsgeschehen vor, nur macht Gott sein Werk eben nicht mit Händen, sondern geistig. Übersehen wird bei solchem Verständnis allerdings, daß die Schöpfung - da geistig - eine innere Tat Gottes ist und nicht, wie des Schreiners Truhe, ein äußeres Werk. "In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg 17,28).
Dieser innere Aspekt wird sofort deutlich, wenn wir das Wort "Machen" anders verwenden. Nehmen wir an, zwei Kinder unterhalten sich über ein geplantes Theaterspiel: Ich mache den Gärtner und du machst die Prinzessin. Ja: nicht bloß wie der Schreiner seine Truhe macht Gott uns Menschen, sondern so ähnlich, wie auf der Bühne Hans den Gärtner macht und Gretel die Prinzessin. Oder wie ich im Traum allerlei Gestalten mache, die ich selber bin - ohne es aber zu wissen. Können sie mich schauen? Einerseits nicht; denn sie sind um eine ganze Seinsdimension minder wirklich als ich. Anderseits aber doch. Sobald ich aus dem Traum erwacht bin und mich erinnere, wer ich in ihm war (besser: gewesen bleibe), bin ich - das tiefe Subjekt auch der Traumgestalt - mir meiner Identität mit ihr und mir, dem wachen Selbst, ausdrücklich bewußt. Meine wache Erinnerung an die Person, die ich eben noch gewesen bin, kann - wegen der personalen Selbigkeit - wahrheitsgemäß auch von ihr ausgesagt werden: die Traumgestalt darf nach dem Erwachen sich meiner, ihres wirklichen Wesens, voll bewußt sein. Wenden wir dies Verhältnis auf uns Geschöpfe der göttlichen Phantasie und unseren Schöpfer an, dann ergibt sich das katholische Dogma der Wesensschau. Nicht auf die Buntheit der neuen Erde bezieht es sich, sondern auf den reinen, all-einfachen Himmel.
Beide Hinsichten sollen zwar unterschieden, dürfen aber nicht getrennt werden. Denn ohne die Erde wäre der Himmel wohl Gottes Ruhe, aber nicht unser Ausruhen; nur insofern ich mich einer Traumfigur wach erinnere, gehört mein Bewußtsein ihr an. Diese Erinnerung ist aber zugleich der Figur endliches Leben auf der neuen Erde. Sofern Gott sich seines Geschöpfes erinnert (ich bin das gewesen), lebt es im Himmel; sofern Gott sich seines Geschöpfes erinnert (ich bin das gewesen), lebt es auf der neuen Erde. Da es DANN zwischen verschiedenerlei Akzentuierungen keinen Widerspruch mehr geben wird, meinen griechische und lateinische Tradition dieselbe unteilbare Wirklichkeit; weil wir aber jetzt nur unterscheidend recht verstehen können, hat deren Gegensatz seinen bleibenden Sinn.
Kein Wunder, daß die in Florenz (1439) mühsam erreichte Einigungsformel keinen dauernden Frieden schaffen konnte. Dieses Prachtstück konziliarer Diplomatie lautet : "Die Seelen ... schauen klar den dreieinigen Gott selbst, wie er ist, aber - nach der Verschiedenheit der Verdienste - einer vollkommener als der andere." [D 693 = DS 1304; zur Geschichte vgl. J. Kuhlmann, Taten, S. 108-125.] Diese Konzilsentscheidung ist von besonderer Art. Die Lateiner bezogen den Satz auf die Schau des Wesens Gottes, die Griechen blieben dabei, daß gerade nicht das einfache und unteilbare Wesen, sondern auf verschiedene Weisen in seinen Taten Gott geschaut werde.
Wir haben also den kaum häufigen Fall vor uns, daß ein Konzilsbeschluß (Gott wird verschieden geschaut) vom einen Teil der Väter als Ausdruck einer These aufgefaßt wurde (Gottes Wesen wird verschieden geschaut), deren genaues Gegenteil (Gottes Wesen kann nicht verschieden geschaut werden) für den anderen Teil der Väter so selbstverständlich war, daß sie eben deshalb auf diesem Zusatz bestanden: Gott wird verschieden geschaut, also nicht in seinem Wesen, sondern in seinen Taten.
Was wird uns hier von der Kirche zu glauben vorgestellt? Es handelt sich um ein Unionskonzil; wenn nicht nur irgendwelche fernen Folgerungen, sondern schon das unmittelbare Verständnis der Unionsformel selbst auf beiden Seiten kontradiktorisch auseinandergeht, dann haben wir offenbar (trotz der Unterschrift des Papstes) nicht das Recht, die eine der beiden Auslegungen für definiert zu nehmen: die Verschiedenheit der Schau des göttlichen Wesens ist kein Dogma.
Sofern der Schöpfer nicht nur in sich selbst lebt, sondern auch die innerste Wirklichkeit seiner vollendeten Geschöpfe sein will, sie von innen her kennt, gehen alle Seligen unterschiedslos in Gottes Einfachheit ein, schauen (in diesem Sinn) Gottes Wesen. Als unterschiedener Einzelner jedoch kann kein Mensch Gottes Wesen schauen. Die Kirchenväter hatten gegen eine allzu plumpe Vergottungslehre auf die prinzipielle Unsichtbarkeit Gottes für jede endliche Natur zu achten. Der andere Aspekt, die unbegrenzte Verheißung, schlummerte noch in ihrem Glauben.
Sofern also ein Mensch einer von vielen ist, sich auf seine Vorzüge und Besonderheiten etwas zugute halten möchte, insofern heißt es von ihm: kein Mensch kann Gott sehen. Der Egoismus hat im Himmel nichts zu suchen - gerade weil DANN das ICH selber in uns aufgeht. Sofern der Mensch aber ein reines Herz hat, weil Gott ihn an das seine zieht; wenn er vergißt, was Großes und Kleines er alles ist, und nur mehr weiß, wer er sein darf: insofern wird die eine Schöpfung mit Gottes eigenen Augen Ihn schauen. DEIN Blick wird uns die abgründige Sehnsucht erfüllen, die uns ruhelos umtreibt, bis wir ausruhen dürfen in DIR.
Veröffentlicht in "UNA SANCTA" 36/1981, 346-349
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