Jürgen Kuhlmann

Zwischen zwei Engeln


Für ein Stereo-Bild der katholischen Kirche


Jede Lebenswahrheit braucht Bilder

"Nichts ist im Verstand, was nicht zuerst sinnlich gewesen wäre," weiß man seit Aristoteles. Während Sachwahrheiten der Naturwissenschaft ihre sinnliche Basis aber bald unter sich lassen und den Verstand in die dünne Luft mathematischer Formeln entführen (z.B. kann niemand sich das Licht zugleich als Welle und Korpuskel vorstellen), ist es bei existentiell bedeutsamen Lebenswahrheiten anders. Solche können wir nur in dem Maße verstehen, wie wir ihren Sinn auch im Erfahrungsfeld eines unserer Sinne erleben: sei es anschaulich erblicken ("ich bin das Licht der Welt"), als Klang vernehmen ("ich habe dich bei deinem Namen gerufen"), als Duft (etwa der "rosa mystica") schnuppern, als Geschmack verkosten ("ich bin das Brot des Lebens") oder mit der Haut ertasten (Gott war nicht im Sturm, aber im sanften Lüftchen). Von "göttlichen Sinnen" sprachen die griechischen Kirchenväter.

Für zahlreiche Menschen ist auch die katholische Kirche existentiell bedeutsam, auf unterschiedlichste Weisen. Der eine weiht ihrem Dienst sein Leben, der andere dem Kampf gegen ihre Untaten. Viele glauben in ihr die Arche des Heils, für weitaus mehr ist sie der Feierraum in hohen Stunden oder auch ein geheimnisvolles Segensmittel, das bestimmt nicht schaden kann: vor dem Holland-Spiel, heißt es, habe Kaiser Franz mit seinen Mannen die Messe besucht. - Der folgende Gedankengang richtet sich vor allem an gläubige Katholiken, die dank ihrer Lebenserfahrung über beide Einseitigkeiten hinausgeführt worden sind: weder kann ihnen, wie Kommunionkindern, die Kirche nur das Haus voll Glorie sein; zu schmerzhaft ist ihnen das Schlimme bewußt, welches - wie bei anderen weltlichen Mächten - auch in der Kirche und durch sie bis heute geschieht. Umgekehrt wollen sie aber auch nicht, Heranwachsenden gleich, nur die Untaten gelten lassen; dafür verdanken sie der Kirche zu viel Sinn und Heilsfreude.

Dies also sei unsere Themafrage: Wie kann ein mündiger Katholik so über die Kirche bildhaft denken, daß er weder ihre helle Wahrheit verdrängt noch ihre finstere Realität? Lassen beide Extreme sich derart aufeinander beziehen, daß trotzdem nicht nur eine abstrakte Formel herauskommt, sondern ein ebenso verständliches wie leibhaft erlebbares Sinngefüge? "Ohne Gleichnis sprach Er nichts zu ihnen" (Mt 13,34) - kann katholische Glaubenssprache die Gipfel und Abgründe von bald zweitausend Jahren Kirchengeschichte solcherart zu einem packenden Gleichnis verdichten, daß der Hörer die Spannweite seiner eigenen Kirchenerfahrungen in ihm wiederfindet und dabei zu einer kirchlichen Identität gelangt, die er dann auch in den extremsten Situationen krampflos, ohne Verdrängung durchzuhalten vermag?

Soviel zum Ziel unseres Vorhabens. Zu seiner Methode sei bemerkt: Sie will nicht systematisch sein, nimmt ihre Begriffe nicht aus irgendeinem theologischen Denkgebäude, sondern aus einem Stück moderner Literatur. Nicht ein Lehrer erklärt minder Kundigen etwas an sich Klares, sondern während einer Rast im Dschungel erzählt der eine Pfadfinder den anderen, wie es ihm auf einem bestimmten Pfad ergangen ist. Wird die Geschichte ihnen nützen? Wenn sie an ähnliche Stellen geraten, vielleicht. Die große Zeit der theologischen Systeme scheint (mindestens vorerst) vorbei; setzen sie doch eine kulturelle Einheitlichkeit voraus, die es so schnell nicht wieder geben dürfte (obwohl ein künftiges "neues globales Mittelalter" natürlich nicht auszuschließen ist).

Nichts also gegen die "Lehrer" von Eph 4,11; wo immer eine Schülergruppe sich auf eine eindeutige Fragestellung verständigen kann, da ist ein Lehrer von Nutzen. Ein gemischtes Publikum aber braucht eher den (ebendort genannten) "Evangelisten", der schlicht seine Heilsgeschichte mitteilt und es dem Vorverständnis wie dem Urteil des Zuhörers überläßt, wie er das Vernommene in seine je besondere Perspektive schöpferisch einordnet. - In diesem Sinne bezeuge ich, daß die nachfolgend dargestellte Einsicht mein eigenes Kirchengefühl wesentlich entkrampft hat. Wer den Extremen gerecht werden will, halte beide Augen weit offen. Welches Stereo-Bild leuchtet auf, wenn gläubiger und kritischer Blick sich "unvermischt-ungetrennt" zusammentun?

Die beiden widersprüchlichen Ideologien

Was ist die Papstkirche? Der eine himmelt sie an, läßt die Lava seines Glaubens zu einer klerikalen Ideologie erstarren, in der viele Herzen festsitzen, immer noch. So schrieb, im Jahre 1870, das erste Vatikanische Konzil:

"Nur die katholische Kirche trägt alle die vielen wunderbaren Zeichen, die Gott gegeben hat, auf daß die Glaubwürdigkeit der christlichen Lehre hell aufleuchte. Ja, schon durch sich selbst ist die Kirche ein großer und steter Beweggrund der Glaubwürdigkeit und ein unwiderlegliches Zeugnis ihrer göttlichen Sendung, kraft ihrer wunderbaren Fortpflanzung, ihrer hervorragenden Heiligkeit und unerschöpflichen Fruchtbarkeit in allem Guten, in ihrer katholischen Einheit und unbesiegbaren Beständigkeit ... Die römische Kirche besitzt nach der Anordnung des Herrn den Vorrang der ordentlichen Gewalt über alle anderen Kirchen. Diese Gewalt der Rechtsbefugnis des römischen Papstes, die wirklich bischöflichen Charakter hat, ist unmittelbar. Ihr gegenüber sind Hirten und Gläubige jeglichen Ritus und Rangs, einzeln sowohl wie in ihrer Gesamtheit, zur Pflicht hierarchischer Unterordnung und wahren Gehorsams gehalten, nicht allein in Sachen des Glaubens und der Sitte, sondern auch der Ordnung und Regierung der über den gesamten Erdkreis verstreuten Kirche." [1]

Was ist die Papstkirche? Der andere verteufelt sie, schmiedet mit der Glut seines Protestes jahrzehntelang an der antikirchlichen Ideologie, die gleichfalls für Millionen das letzte Wort in dieser Frage ist. So schreibt "der bedeutendste Kirchenkritiker des Jahrhunderts" (wie Karlheinz Deschner sich auf dem Umschlag eines neuen Reißers [2] rühmen läßt):

"Warum beachten wir noch eine Leiche? Den Riesenkadaver eines welthistorischen Untiers? Die Reste eines Monstrums, das ungezählte Menschen (Brüder, Nächste, Ebenbilder Gottes!) verfolgt, zerfetzt und gefressen hat, mit dem besten Gewissen und dem gesündesten Appetit, eineinhalb Jahrtausende lang, wie es ihm vor den Rachen kam, wie es ihm nützlich schien, alles zur höheren Ehre seines Molochs und zur immer größeren Mästung seiner selbst: Väter und Mütter, KInder und Greise, Kranke und Krüppel, die Armen im Geiste und die Genies, Millionen Heiden, Millionen Juden, Millionen Hexen, Millionen Indianer (wenigstens fünfzehn Millionen in einer Generation!), Millionen Afrikaner, Millionen Christen, alles verteufelt, getötet und verdaut ... und da kommen immer noch Reformer? Ökumenische Beweger und Begegner? Una-sancta-Sirenen? Die Dialog-mit der Welt-Führer? Die das Evangelium-den-Atheisten-Bringer? Die Sich-Öffnenden-nach-links-und-rechts? Ja, als was kommen, als was fungieren sie denn? Doch als die Verlängerer des Unglücks, die Helfershelfer der Hierarchie, die gerade ihretwegen - wie noch nach jeder Reform - im Grunde ganz und gar genauso fortexistieren wird: mit der alleinseligmachenden Pfründe und der alleinseligmachenden Macht, mit Militärbischöfen und Feldgeistlichen, mit einem Heer assistierender 'Moral'-Theologen und einem, wenn alles fällt, ganz ergreifend 'Frieden! Frieden!' flehenden (und auf den Fahneneid pochenden!) Papst. Reformer? Kadaverkosmetiker bloß. Bestallte Konservierer einer Leiche, die schon riecht und nicht mehr der Reform bedarf, sondern nur noch des Abdeckers."

Die Extreme berühren sich; in einem werden der verstockteste Klerikalist und der rabiateste Kirchenfeind übereinstimmen: daß notwendigerweise die eine dieser Ideologien stimmt und die andere falsch ist. Eben diesem gemeinsamen Irrtum der Einäugigen aber müssen vernünftige Christen widersprechen. Wenig hilfreich scheint mir allerdings die verbreitete Redeweise, es handle sich um die zwei Seiten einer Münze. Denn niemand kann bei einer Münze beide Seiten zugleich im Blick behalten; immer wird er bloß die eine sehen, während die andere verdeckt, verdrängt sein muß. Dieses Denkbild führt mithin eben zu jener ideologischen Einseitigkeit, die es zu vermeiden gilt.

Ein Rätsel hilft weiter

Vielmehr müssen wir beide Sichten derart miteinander verbinden, daß keine ohne die andere sein kann. Denn zwar kann ich als glaubender Katholik nicht an dem göttlichen Licht zweifeln, das ich der Kirche verdanke; als ehrlicher Realist kann ich aber auch nicht die greulichen Finsternisse weglügen, welche die Kirche über die Menschheit gebracht hat, von der Frauenabwertung des Paulus bis zur neuesten vatikanischen Personalpolitik - um von Schlimmerem zu schweigen, bei Deschner steht es. Wie sind die lichte und die finstere Wahrheit so zu verbinden, daß sie einander nicht auslöschen, sondern verstärken?

2 * Kar...er =? Lassen Karlheinz Deschner und Kardinal Ratzinger sich so postieren, daß sie zusammen dem Glauben dienen? Schon war ich geneigt, dieses Unterfangen für ein (prinzipiell unlösbares) Zen-Koan zu halten, da ergab es sich bei einer abendlichen Plauderei, daß ich meinen Kindern das berühmte Logik-Rätsel von den beiden Wächtern aufgab:

Stell dir vor, du bist in einem Raum mit drei Türen gefangen. Du weißt: eine Tür führt in die Freiheit eines schönen Parks, hinter der anderen Tür lauern hungrige Löwen auf dich, durch die dritte Tür lösen zwei Wächter einander ab, von denen der eine immer lügt, der andere immer die Wahrheit sagt, du weißt nur nicht, welcher was tut. Du darfst nur einmal dem Wächter eine einzige Frage stellen. Was mußt du ihn fragen, damit du den Weg in den Park findest?

Natürlich brachten die Kinder es nicht heraus. Sogar ausgefuchste Mathematiker können sich an dieser Nuß ihre Zähne ausbeißen. Nicht so schnell vergesse ich das Leuchten im Gesicht des Zehnjährigen, als er die mitgeteilte Lösung plötzlich begriff. Sie lautet: "Wenn jetzt dein Kollege hier wäre und ich ihn fragte, ob die linke oder die rechte Tür in den Park führt, was würde er mir antworten?" Das ist der Trick. Beide Wächter müssen in der Frage vorkommen. Dann ist es egal, ob der Ehrliche die Lüge des anderen wahrheitsgemäß widergibt oder der Lügner die wahre Auskunft des Ehrlichen fälscht. So oder so ist das Ergebnis falsch. Weil ich das weiß, gehe ich getrost durch die andere Tür und bin frei.

Um bei dieser Knobelei und der Kirchenproblematik dieselbe Struktur zu entdecken, müssen wir uns allerdings auf einen hohen Abstraktionsgrad einlassen. Denn natürlich ist der Gegensatz Ehrlichkeit/Lüge nicht dasselbe wie der Gegensatz Anerkennung/Ablehnung. In beiden steckt jedoch (wie in Pudel und Spitz der Hund) der nämliche tiefere Widerspruch zwischen den Prinzipien Ja und Nein. Kein Wunder, daß die ganze Wahrheit einer Welt (und einer Kirche!), die zwar von Gott, aber aus dem Nichts ist, nur als Polarität der Prinzipien Ja und Nein sich einigermaßen fassen läßt. Lernen wir aus dem Wächterrätsel, daß auch das rechte christliche Fragen nach der Kirche (für Heiden gilt der Satz natürlich nicht) untrennbar ihre Göttlichkeit und ihre Nichtigkeit meinen muß, andernfalls ist es nicht vernünftig, sondern ideologisch verengt und führt, statt in die Freiheit, ins Ghetto des einen oder anderen -ismus.

Eben dies ist die - kaum je gewürdigte - Lehre des Matthäus-Evangeliums. Welch eine Stereo-Botschaft in wenigen Zeilen! Rechter Kanal: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen" (Mt 16,18 und golden in der Peterskuppel). Linker Kanal: "Geh mir aus dem Weg, Satan, ein Skandal (= Stolperstein) bist du mir, weil du nicht im Sinne Gottes denkst, sondern im Sinn der Menschen" (Mt 16,23).

Wenn je ein biblischer Schreiber - hoch über seine bewußte Einsicht hinaus - die Zukunft der Kirche prophetisch vorweggenommen hat, dann Matthäus in diesem Doppelsatz über Grund- und Stolperstein. Hier wird die Inspiration sozusagen greifbar. Kann das Papsttum zutreffender gekennzeichnet werden? Stellvertreter Christi oder Antichrist, dazwischen gibt es nichts. Wohl aber ist (nicht nur der Papst, sondern) jeder im eigenen Umkreis für die Kirche Verantwortliche - beides! Wie kann diese abstrakt-systematische Wahrheit aber in unserem Gefühl heimisch werden, so daß unsere Einstellung zur Kirche weder kindlich-naiv noch jugendlich-störrisch, sondern mündig-gespannt sei?

Die Vision eines Dichters

Hans Henny Jahnn erzählt, wie der junge Nikolaj eines Abends in einer unbekannten Wirtsstube saß:

"Er war nun am Ziel seiner Reise; aber er wußte es nicht. Wie hätte er wissen sollen, daß sich sein Schicksal entscheiden sollte - daß er hier die Rolle für ein langes Leben zugeteilt bekam. Während er so saß, in Wohlbehagen getaucht, und der Fremde versteckt in seinem Buche las, schritten zwei männliche Gestalten mitten im Raume behutsam aufeinander zu: ein Engel und ein dunkler Engel von jener Art, die man gemeinhin und etwas herabsetzend Dämonen nennt. Sie wechselten kein Wort miteinander. Aber der Dämon fand, daß es ein hübscher Engel sei, recht nach seiner Neigung, feierlich schön, mit mädchenhaften niedergeschlagenen Augenlidern, doch einem kräftigen jünglinghaften Mund und bebenden Nasenflügeln, wie aus einem Bilde Botticellis. Auch der Engel betrachtete verstohlen den dunkleren feurigen Kameraden und war überrascht, wie jung er war, wie wohlgewachsen, mit einer hohen Stirn voller Gedanken. Er hätte ihn für seinesgleichen, für ununterschieden von sich selbst gehalten, wenn jener nicht, das sah er erst, als der andere sich abwandte, einen winzigen Schwanz, wie den eines Hasen, gleich einer Blume aus Fell, besessen hätte. Der Engel fand, daß dies Zeichen der Abgründigkeit dem Dämon zur Zierde gereichte, seine Würde und Kraft mit einer unnennbaren Verheißung betonte. Beide beschlossen, jeder für sich, Freunde zu werden. Nach dieser ersten kurzen Begegnung entfernten sie sich, jeder nach seiner Seite." [3]

Diese Vision hat mich gepackt. Wie jedes Bild, ist sie allerdings vieldeutig, steht allen möglichen Auslegungen offen. Ein Übelwollender könnte sie als Aufruf zu Satanismus deuten, als Verherrlichung jener Faszination des Bösen, die soviel Schmerz über wehrlose Opfer gebracht hat. Angesichts des Gesamtwerkes von Jahnn wäre dies jedoch - beweisbar - ein Irrtum. Erst recht muß ein Christ sich darüber klar sein: Gut und Böse sind keine heilsame Polarität. Sondern für das Gute und gegen das Böse müssen wir uns mit aller Kraft einsetzen. Der dunkle Engel ist nicht mit dem Teufel zu verwechseln. Er ist vielmehr jene Seite des Guten, die das Böse erblickt, aushält, im Grenzfall auch sich und anderen zumuten muß; der lichte Engel hingegen bedeutet das Gute im ungetrübt strahlenden Glanz seiner selbst.

Da sehe ich nun, wie der lichte Engel des Ja und der dunkle Dämon des Nein zwischen sich ein Seil ausspannen, und dort hinauf springt, den Degen in der Hand, meine kirchliche Seele und ficht, je nachdem, wo der Gegner gerade steht, gegen die Partei des Ja oder gegen die Gefolgschaft des Nein. Denn nur als solche Spannung begegnet uns je die volle Wahrheit der Kirche. Solange das Seil gespannt federt, ist es keine letztwichtige Frage, in welcher Stoßrichtung und wo genau zwischen beiden Polen das Gefecht sich abspielt. Mal habe ich den lichten Engel im Rücken, der auf Petrus dem gottgewollten Grundstein seinen Stand hat, und wehre mich gegen (fremde oder nestbeschmutzende) Kritik an der Heilssendung der real existierenden Kirche. Mal erinnert mich umgekehrt der dunkle Engel daran, daß derselbe Petrus von Jesus "Satan" geschimpft wurde, und ich verteidige dieses kritische Nein gegen jeden, der (nah oder fern) vom "Katholizismus" auf eine Weise schwärmt, die mir unchristlich vorkommt. Weiß sich ein Katholik von seinem Gewissen an diese Front gestellt, dann darf er dem Kirchenhasser Deschner eigentlich wegen seines Buchtitels "Opus Diaboli" nicht gram sein, spricht der doch nur ein Wort des WORTes in der heute möglichen Schärfe nach.

Sieht eine solche offene Sicht aber nicht fatal nach Relativismus aus? Nur dann, wenn jemand sie bloß abstrakt-formal vollzieht und übersieht, daß konkret-existentiell jeweils Gottes verbindlicher Wille dem so oder so situierten Gewissen begegnet. Spätestens seit Ignatius von Loyola die ihm geschenkte Spiritualität gegen den Argwohn der Inquisitoren in der Kirche verankern konnte, muß der Katholik auf widersprüchliche Ausprägungen des göttlichen Willens gefaßt sein. Folgendermaßen schreibt Ignatius am 5.Juni 1552 in einer Tagesfrage an seinen Freund Franz von Borja: "Es gibt da keinen Widerspruch, denn es kann sein, daß derselbe Geist Gottes mich aus den einen Gründen zu dem einen drängt und andere, aus anderen, zum Gegenteil."

Aufs Innere geschaut, dürfte die beschriebene Spannung zwischen Engel und Dämon in beiden Protagonisten Kar...er wirken. Wahrscheinlich kennt ja keiner Abgründe wie Schäbigkeiten des Kirchenbetriebes genauer als der Kisi-Chef. Ebenso steht zu vermuten, daß die wütende Aggression des Pamphletisten (geboren ist er in Bamberg, das sagt dem Kenner viel!) sich aus einem grausam verletzten Kindheitsideal der herrlichen Kirche speist. Aber die Geheimnisse der Herzen gehen uns nichts an. Äußerlich gesehen, im Rampenlicht des Welttheaters, sind die Rollen klar verteilt; für die Spannung des Seiles besteht keine Gefahr. Trauen wir uns hinauf?

Ist das aber nicht sehr schwer, ständig am Vibrieren zu sein, sich nie in der "klaren und schlichten" Wahrheit ausruhen zu dürfen? Ich antworte mit unserem Spiritual Pater Wilhelm Klein SJ (er lebt 101jährig in Münster): "Schwer? Es ist nicht schwer. Es ist unmöglich - wenn du es aus eigener Kraft unternimmst. Aber das mußt du ja nicht." Ja: Gottes Heiliger Geist ist in Person die Harmonie der unendlichen Spannung. Wenn seine, besser (ruach!) ihre Energie uns erfüllt, finden wir mitten im Gefecht auf dem Hochseil immer wieder jenen Frieden, nach dem unser Herz sich sehnt.

Juli 1990

Anmerkungen

1 Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, hgg.v. Neuner-Roos, Regensburg 1938, 210.222

2..Opus Diaboli, Reinbek 1987, 115.129

3 Fluß ohne Ufer, Band III, Epilog, Hamburg 1986, 144 f.

Veröffentlicht in »GEIST UND LEBEN« 64/1991, 201-208


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