Jürgen KuhlmannLaßt das Seil nicht los!
Kirchliche Spannungen sind auszuhalten
Zwischen den Kirchen sind die Spaltungen, mindestens an der Basis, kaum mehr spürbar; unbefangen gehen katholische und evangelische Christen miteinander um. Die ehedem so bitteren konfessionellen Widersprüche scheinen auf dem besten Weg, sich nach dem Modell gegensätzlicher Ordens-Spiritualitäten auszurichten. Auch zwischen benediktinisch, franziskanisch und jesuitisch gestimmten Katholiken lagen geistliche Welten; dennoch wußte man sich eins.
Ernster sind die neuen Abgründe quer durch dieselbe Kirche. Der eine katholische Bischof wird in die Wüste verstoßen, weil er mit Homosexuellen spricht und für Asylbewerber eintritt - recht geschehe dem Geisterfahrer, freut sich der andere katholische Bischof, der seinerseits bei den Anhängern des Verbannten nicht als Zeuge Jesu gilt, des Freundes der Verrandeten und Sünder, viel eher als heutiger Vorkämpfer von Jesu damaliger Gegenpartei, der rechthaberischen Hohenpriester. Diese Kirche soll Jesus gegründet haben, die in so vielem für das Gegenteil dessen steht, was Er wollte? Der Zweifel daran wächst, ergreift auch solche, die treue Katholiken sein wollen.
Ist dies eine vorreformatorische Situation? Einerseits anscheinend ja. Zwischen den Sympathisanten von Boff-Drewermann-Gaillot und den Verfechtern der harten offiziellen Linie herrscht längst keine brüderliche Stimmung mehr; Wörter wie Verachtung, ja Haß treffen genauer zu. Ähnlich empört, vermuten wir, haben sich die christlichen Standpunkte um 1500 widereinander gekehrt, nicht selten in derselben Brust.
Anderseits verheißt eine neue Kirchenspaltung nichts Gutes. Damals hat sie ihr Ziel nicht erreicht. Die Macht des Vatikans ist ungebrochen, und was ist aus Luthers Bewegung geworden? Auch wieder eine Amtskirche mit Schriftgelehrten, Hohenpriestern und manchem Verfechter einer ausgrenzenden Orthodoxie. Auf meinen Spott, auch in ihrem prächtigen neuen Gesangbuch fehle das Wort »Göttin«, erwiderten evangelische Christinnen lachend, das werde in der bayerischen Landeskirche auf absehbare Zeit auch so bleiben. Andere, Frauen wie Männer, mögen darüber nicht lachen, fehlt dem offiziellen »Gottes«-Bild, besser: dem Symbol des Ganzen überhaupt, doch nach wie vor die Dimension des Weiblichen, zur Unehre sowohl der Frauen als auch des weiblichen Anteils im seelisch reifen Mann.
Was ist die Kirche? Arche des Heils - oder geistlose Großbürokratie? Volk Gottes auf Erden - oder klerikale Zwingburg wider Gottes Volk? Sakramentales Weinglas - oder bigottes Essigfläschchen? Gar beides? Diese dialektische Antwort ist zwar traditionell, hat jedoch den Nachteil, daß der gesunde Menschenverstand mit ihr nichts anfangen kann. »Casta Meretrix«, keusche Hure, dieses Etikett war im Mittelalter üblich; genau besehen findet die Doppelantwort sich bereits im Neuen Testament: Man vergleiche im 16. Kapitel des Mattäusevangeliums die Verse 16 und 23. Derselbe Jesus nennt denselben Petrus abwechselnd Grundstein und Stolperstein, selig und Satan. Offenbar ist der künftige Papst beides! Was folgt daraus für das Kirchenverständnis? Im konfessionellen Zeitalter tat man sich leicht. Petrus den Grundstein verherrlicht in riesigen Goldlettern die Inschrift der Peterskuppel zu Rom; den Papst als Teufel und Antichrist beschimpfte Martin Luther. Wie können wir - ein halbes Jahrtausend später - die Kirche denken?
Nicht mehr so, wie die heute Älteren als Kinder gelehrt wurden. Die überkommene Ideologie der Exklusivität ist - Gott sei Dank - kraftlos geworden. Spätestens seit dem letzten Konzil ist es nicht länger katholische Lehre, daß Gott die Kirche zur einzigen Arche des Heiles gemacht habe, so daß alle, die nicht in ihr leben, in der Unheilsflut auf ewig verloren wären. Diese Auffassung hat sich als Mißverständnis der Offenbarung herausgestellt. Als der Papst im Herbst 1994 die 6. Weltkonferenz der Religionen für den Frieden mit eröffnete, da trat er mitten unter Buddhisten, Hindus, Juden, Muslime, Bahais, Christen und Gläubige anderer Traditionen, nicht als Reicher zu Armen, sondern als Repräsentant eines menschheitlichen Sinn-Organs zu den Delegierten anderer solcher. ("Die Religion des Heiligen Geistes, zu der ich mich bekenne, ist weiter und gleichzeitig inhaltsreicher als alle Einzelreligionen: sie ist weder ihre Summe noch der Extrakt aus ihnen, so wie der ganze Mensch weder die Summe noch der Extrakt seiner einzelnen Organe ist," schreibt Wladimir Solowjew in einem Brief vom 27.November 1892.) Mehr oder minder ausdrücklich waren die anwesenden Religionsvertreter erfüllt von dem Bewußtsein, daß wir alle zusammengehören, miteinander für das Wohl der Erde verantwortlich sind, mag auch niemand genau wissen, wie unser Zusammenwirken sich vollzieht, d.h. wie die Funktionen der verschiedenen Sinn-Organe einander zum Gesamtleben jenes SINNes ergänzen, der auf griechisch Logos heißt und dessen Menschwerdung als Jesus die Christen glauben.
Der fundamentale Paradigmenwechsel im Kirchenverständnis, weg von der einzig rettenden Arche hin zu einem Sinn-Organ, das zusammen mit anderen für alle wirkt, er bringt eine wichtige Folgerung mit sich, was das Verhältnis der Kirchenglieder zueinander betrifft. Für die Arche taugte ein hierarchisches Modell; auf jedem Schiff steht dem Kapitän klar die Autorität zu. Anders beim Sinn-Organ. Ein solches hat zwei gegensätzliche Aufgaben: a) Selbst-Erhaltung, sonst könnte es dem Ganzen nicht dienen, müßte verkümmern; b) Selbst-Relativierung, sonst würde es gleichfalls nicht dem Ganzen dienen, sondern als Krebsgewucher das Ganze wie sich selbst zerstören. Jede Zelle des Sinn-Organs muß sich zwar für beide Aufgaben verantwortlich fühlen, funktionale Akzentverteilung ist aber zu erwarten und seit jeher üblich. Wie läßt sie sich genauer verstehen?
Das Geheimnis des Zeichens
Es geht um ein Sinn-Organ. Sinn wird bedeutet. Ich schlage deshalb vor, einen vertrauten Würdetitel der Kirche nicht länger als zusätzlich schmückende Beschreibung, sondern als jene Wesens-Definition zu verstehen, die er in Wahrheit ist. Meine These heißt: Die Kirche ist wesenhaft ein von Gott gestiftetes Zeichen des Heils für alle und kann deshalb nie ohne die Spannung leben zwischen dem Ausgrenzend-Bestimmten, was sie äußerlich-institutionell ist (ihrem Sein), und dem Umfassend-Offenen, was sie (geistlich, d.h. je konkret-existentiell) bedeutet (ihrem Sinn).
Der Gegensatz von Sein und Sinn bestimmt jedes Zeichen; wer den Grund dafür einsehen will, muß wohl Semiotik studieren, hier mögen einige Beispiele genügen: Der Tourenzähler im Auto sollte nicht rotieren, der Backherdschalter darf nicht 250° heiß sein, der Schriftzug »alle Buchstaben« bedeutet seinen Sinn nur, solange er nicht ist, was er heißt; täten wir dazwischen auch noch x, y, m usw. hinein, so ginge der Sinn verloren.
Entsprechend vermute ich und wünsche mir über dieses Denkmodell eine heiße innerkirchliche Diskussion: Jede Kirche muß, um »Heil für alle« zu bedeuten, einen großen Teil ihrer Sinnmenge aus ihrer Seinsmenge ausschließen - was für die Ausgeschlossenen keinen Nachteil oder Würdemangel mit sich bringt, denn für die Wirklichkeit entscheidend ist der Sinn; d, o und r sind voll gleichberechtigte Buchstaben, obwohl sie beim Zeichen »alle Buchstaben« fehlen müssen, dafür gehören sie zur spanischen Variante »todas las letras«, wo B, n und u nicht vorkommen. Selbst ein Buchstabe, der in gar keiner Sprache zum Zeichen gehört, wird dennoch in jeder Sprache vom Sinn mit gemeint und hat keinen Grund zu Scham oder Klage.
Könnte ein solches »semiotisches Kirchenverständnis« in der gegenwärtigen Krise hilfreich sein? Nähmen beide Parteien es an, so wäre zwar noch kein konkreter Streitpunkt bewältigt, doch hätte man eine Sprache, in der man zueinander, nicht bloß aneinander vorbei reden würde; das Gift der Spaltung wäre insofern verdünnt, als jede Seite zwar nicht alles Handeln der anderen bejahen, wohl aber deren Prinzip anerkennen dürfte. Törichte Illusion? Gültige Hoffnung? Gott weiß es.
Daß die Kirche Zeichen des Heils ist und sein soll, lehrt das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich. Schon im Vorwort der Liturgiekonstitution (2) wird die Verheißung von Jes 11,12 auf die Kirche bezogen: das »Zeichen, das aufgerichtet ist unter den Völkern«. Wer richtet es auf? Gott selbst; Martin Buber übersetzt: »Ein Banner hebt er den Weltstämmen zu.« In der Kirchenkonstitution lesen wir: »Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (1). Solch ehrenvolle Aufgabe wird sodann näher entfaltet: Die Kinder der Kirche sollen sich läutern und erneuern, »damit das Zeichen Christi auf dem Antlitz der Kirche klarer erstrahle« (15). »Jeder Laie muß vor der Welt ... ein Zeichen des lebendigen Gottes sein« (38). Die christliche Ehe ist bestimmt »zum Zeichen und zur Teilhabe jener Liebe, in der Christus seine Braut geliebt und sich für sie hingegeben hat« (41). Als »Zeichen und Antrieb für die Liebe« wird der Zölibat hochgeschätzt (42). In den Heiligen redet Gott »selbst zu uns, gibt uns ein Zeichen seines Reiches« (50). Maria endlich, schon verherrlichtes Urbild der Kirche, »leuchtet als sicheres Hoffnungs- und Trostzeichen dem wandernden Gottesvolk voran« (68). - Soweit das Konzil.
Schmerzliche Spannung von Sein und Sinn
Wie bei allen Zeichen gilt auch bei der Kirche die unaufhebbare Polarität von Sein und Sinn: Das Sein ist nicht Selbstzweck, dient vielmehr allein dem Sinn; doch kann ohne Sein der Sinn sich nicht zeigen. Weil es demnach grundsätzlich stets um beides geht, hört das Tauziehen zwischen Rechts und Links in der Kirche nie auf. Die »Rechten« kümmern sich um das Sein des Zeichens, die »Linken« um seinen Sinn.
Ohne klar konturiertes, d.h. abgegrenztes Sein verschwände das Zeichen, seine grenzsprengende Botschaft »Heil für alle« verlöre sich im Grau in Grau der unheilen Realität, so daß allein sie, d.h. die Anti-Botschaft »im Grunde ist alles heillos« vernehmbar bliebe. Jesu Schlemmereien mit Huren und Sündern z.B. wären nichts Besonderes gewesen, ein Thema höchstens für den Klatsch von damals, hätte er sich nicht als Rabbi ausgewiesen, als echter Gottesmann im Sinn der geltenden Religion, die sich im Namen Gottes von den Huren und Sündern abgrenzen mußte. Wer den Sinn von Jesu Gestalt ohne sein Jude-Sein erfassen wollte, würde ihn auslöschen, ähnlich wie wenn Bert Brechts schöne Wolke (»sie war sehr weiß und ungeheuer oben«) statt im blauen Septemberhimmel inmitten wolkiger Trübnis geschwebt wäre.
Ebenso heute. Wäre Angelo Roncalli nicht Papst geworden, Chef der katholischen Kirche, die auf seine Unfehlbarkeit »ex cathedra« Wert legt, dann wäre seine Weigerung, auf diesem Sessel Platz zu nehmen, unmöglich gewesen, hätte kein Zeichen für die Wahrheits-Würde der anderen werden können. Nur weil Jacques Gaillot als untadeliger Bischof zu denen am Rande geht, ist er, auf den Spuren seines Meisters, »ein Licht zur Erleuchtung der Heiden« (Lk 2,32). In der Renaissance, als die Mehrheit der Fürst-Bischöfe bis hinauf zum Papst keinerlei Berührungsängste vor Sex und anderen Weltlichkeiten hatte, damals war solche Offenheit kein Heilszeichen, galt zurecht als Verderbnis der Kirche: Weil des Zeichens Sein nicht mehr klar begrenzt war, drohte sein Sinn zu verwischen.
Ein extremes Gedankenexperiment helfe zur Klarheit. Stellen wir uns - per impossibile - vor, nicht nur ein einzelner Bischof, sondern alle gingen in den Redaktionsstuben halbseidener Blätter ein und aus; damit die Frommen denen nahe seien, die laut Jesu Auskunft doch »vor euch ins Himmelreich kommen« (Mt 21,31), sei jedem Kloster ein Bordell angegliedert; weil der Atheismus auch einen wahren Kern hat (denn so wie den Bodensee gibt es Gott nicht, auch der Schöpfer Verdi ist innerhalb seiner Schöpfung Aida keine wirkliche Figur), deshalb machen viele Pfarrer Sonntag für Sonntag ihren Gläubigen klar, daß es Gott eigentlich gar nicht gibt - was wäre all dieser Grenzüberschreitungen Folge?
Die Zeichenhaftigkeit der Kirche wäre dahin, mit ihrem wohlabgegrenzten Sein hätte sie auch dessen all-heilenden Sinn verloren, zum unheilbaren Schaden eben »derer da draußen«, die jetzt bloß mehr Huren oder Gottlose wären, ohne Hinweis auf jenes Himmelreich, das doch - gemäß dem Sinn der erlösenden Botschaft derselben Kirche, die sie von ihrem Sein fernhalten muß - gerade ihnen, die mit Gott nicht rechnen, am weitesten offen steht! Anscheinend gilt mithin eine fundamentale Struktur, die beide Streitpositionen als notwendig aufeinander bezogene Pole enthält. Ohne Steckdose mit Plus- und Minuspol ist kein Gerät »am Netz«; ohne Dauerspannung von ausgrenzendem Sein und all-bergendem Sinn könnte die Kirche keinem Menschen, sei er drinnen oder draußen, dazu helfen, sich »in Christus« zu hoffen. Wie jeder Körper braucht auch Christi mystischer Leib rechte und linke Glieder. Dostojewskis Großinquisitor und seine heutigen Nacheiferer dürfen in der Kirche nie allein das Sagen haben, sonst würde sie zum Irrzeichen. Doch auch die undogmatisch Großzügigen würden, für sich allein, zum Ruin der Kirche; wo jeder Sinn gleich gilt, ist bald alles gleichgültig.
Jetzt kommt, von der einen wie der anderen Seite, vermutlich der Vorwurf, derlei Neutralität sei schäbige Feigheit: man dürfe gerade nicht so tun, als ließe alles sich verstehen und somit rechtfertigen. Wie damals an Erasmus, geht diese Anklage aber auch an meiner These vorbei. Ich leugne nicht, behaupte vielmehr ausdrücklich: Es kann in einer bestimmten Situation falsch, ja böse sein, sich jetzt auf den Sinn oder hier auf das Sein des Zeichens Kirche zu berufen, obwohl nach den Regeln zur Unterscheidung der Geister hic et nunc der andere Pol dran ist. Darf ein Mann ins Frauenkloster? Nein, der Seinspol des Zeichens verbietet es. Ist der Mann aber ein römischer Jude, hinter dem die Nazis her sind, dann gilt (und galt wirklich) ausnahmsweise der Sinn-Pol: Komm herein! Dürfen Protestanten die katholische Kommunion empfangen? Ja; denn Jesu Jünger sind eins. Findet die Messe aber bei den Focolarini statt, dann nicht; denn ihre Spiritualität verlangt gerade, daß die Trennungswunde offengehalten, nicht überkleistert wird.
Weil jeder konkrete kirchliche Vollzug a) zum Sein gehört, b) den ihm widersprechenden Sinn ausdrücken soll, deshalb ist - von solchen Extremen abgesehen - eine grundsätzliche Zweideutigkeit unausrottbar. Darf die Kirche Geld haben? Ja, denn ohne Geld kann sie in dieser Welt nicht sein. Nein, denn »wehe euch, ihr Reichen!« (Mit Recht weisen homosexuelle Christen auf die luxuriösen Pfarrhäuser hin, aus denen ihnen die Bibelwidrigkeit ihrer Praxis vorgehalten wird. In mancher »halboffiziellen« Basisgemeinde gilt die umgekehrte Zeichen-Sprache: schwul ja, reich nein.) Darf bei der Messe einer Studentengemeinde ein Moslem die Kommunion empfangen? Ja, Jesus stieß keinen zurück - nein, die Eucharistie bedeutet die Einheit dieses besonderen Zeichens Christenheit, das mit dem Zeichen Islam als Zeichen unvereinbar ist (der gläubige Moslem denkt genauso). Dürfen Wiederverheiratete kommunizieren? Ja, eben für Gescheiterte ist Jesus gekommen (so sah es noch der Münchner Bischof Ratzinger in einem Wort an die Priester); nein, denn die gelingende Ehe ist ein wichtiges Zeichen für Gottes treue und schöpferische Liebe, wir sollten es nicht ins Undeutliche zerfasern lassen (so sieht es der im Zentrum für das Zeichen insgesamt verantwortliche Kardinal jetzt). Nicht gegen die geistlich sinn-volle Praxis, glaube ich, wendet er sich, nur gegen das Anti-Zeichen eines hochoffiziellen Hirtenbriefes. Doppel-Moral? Ach nein! Nur die unentrinnbare Dialektik zwischen Sein und Sinn des Zeichens Kirche.
Der Widerspruch wird dadurch, daß er als notwendig begriffen wird, nicht entschärft, aber entgiftet. Nur wo Polarisierung sich in wechselseitig anerkannte Polarität wandelt, streiten Erlöste. Wofern allerdings - wie es derzeit geschieht - die im Zentrum, statt die Spannung zu den Gegenpolen an der Peripherie zu ertragen, dort lauter angepaßte Funktionäre einsetzen, verpfuschen sie die Kirche zur beidseits geerdeten Steckdose. Wie soll ein heutiger Paulus dem (um so viel mächtiger gewordenen) Petrus »ins Angesicht widerstehen« können (Gal 2,11), wenn er vor dessen Schergen kuschen muß - oder gefeuert wird?
Doch hat unsere Kirche schon schlimmere Mißstände überwunden, auch der heutigen Gefahr ihrer Totalverapparatung wird sie nicht erliegen. Denn ihr Lebensprinzip Christus bleibt auch als Erhöhter jenes »Zeichen, dem widersprochen wird« (Lk 2,34), an dem sich die Geister scheiden müssen, damit sie miteinander zum Heil finden. Gott sei Dank ist die Beziehung Sein / Sinn zwar stets gespannt, nicht statisch aber, sondern wie die Hefe den Teig, so gestaltet der Sinn das Sein allmählich zu sich hin um. Vor tausend Jahren gab es noch Kirchensklaven (deren Freilassung verboten war), vor fünfhundert ließen christliche Richter noch foltern, vor vierzig durfte ein »abgefallener« Priester in Rom nicht einmal Trambahner werden. Wird es bald katholische Priesterinnen geben, irgendwann gar die Mamst Petra I. ? Warten wir ab und seien wir beim Tauziehen kräftig dabei, jede(r) in der Richtung, die das Gewissen zeigt. Ohne die andere Seite zu verteufeln. Denn auf ungespanntem Seil könnte Anima nicht tanzen.
Mai 1995
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