Jürgen Kuhlmann

Befreiung der Sklaven

Das Jesus-Ereignis im Schulaufsatz

  • Die folgende Nacherzählung stammt (um 1970) von einer Schülerin der 6. Klasse des Gymnasiums. Aufgegeben waren mindestens zweieinhalb Seiten, das Mädchen schrieb freiwillig mehr als acht. Etliche Varianten aus den Heften anderer Kinder vervollständigen die Geschichte, ja zeigen schon, wie die Interpretationen sich verzweigen. Am Schluß meiner Erzählung hatte ich noch bemerkt: Und wißt ihr, was das Tollste an der Geschichte ist? Sie ist jetzt, im Moment, in dieser Stunde weitergegangen. Und sie wird, so hoffe ich, viel später noch weitergehen, wenn ihr sie einmal euren Kindern erzählt!
  • Ein Gleichnis

    Es war ein König, dieser besaß ein wunderbares Schloß. Eines Tages saß er im Thronsaal, der im 1. Stock gelegen war und schaute aus einem seiner Fenster. Er erschrak, denn er sah Sklaven, die spärlich bekleidet und wie Tiere schufteten, die böse zueinander waren und die zum Schlosse fluchten. Als die Mittagszeit kam, und Essen herbeigetragen wurde, stießen die Starken die Schwachen weg und diese mußten die Blättersuppe essen oder was übrigblieb. Da ließ der König durch einen Diener seinen 21-jährigen Sohn zu sich rufen und sagte: "Schau einmal zum Fenster hinunter!" Der Sohn tat es und sah auch das Übel der Sklaven. Daraufhin sprach der Vater: "Was können wir tun, um aus ihnen gute, freie Menschen zu machen, mit Gewalt kann man sie nicht bessern." Sie dachten darüber längere Zeit nach. Endlich hatte der König eine Idee. Der Sohn wollte sie auch wissen und darum sagte der König: "Es ist ein schweres Los, aber anders kann man die Sklaven nicht bessern. Du weißt, daß du gut erzogen bist und auch die besten Lehrer hattest, die dir viel beigebracht haben. Die Sklaven denken immer, wir wären böse, jedoch das sind wir nicht. Darum mußt du heimlich, in der Nacht, dir vom Sklavenbrenner ein Brandmal mit dem Namen deines Besitzers einbrennen lassen und dir alte Kleider besorgen. Dann mußt du mit unter die Sklaven gehen. Sie werden nicht merken, daß du der Sohn des Königs bist, denn täglich kommen neue Sklaven. Du mußt mit ihnen dann leben und sie bessern. Wenn sie Böses tun, nicht mitmachen, wenn sie dich schlagen, nicht zurückschlagen.

    (Var.: Du müßtest ihnen mit der Zeit klarmachen, daß man ohne Haß und Fluch viel glücklicher leben kann, und daß ich es bloß gut mit ihnen meine.) Du darfst aber niemals sagen, daß du der Sohn des Königs bist. Es ist schwer, mein Sohn." Der Sohn tat wie ihm geheißen. Es fiel niemandem auf, daß er ein Prinz war. Er hatte auch noch ein Sprechfunkgerät von zu Hause mitgenommen. Er arbeitete wie die anderen. Jedoch, als die Essenszeit kam und wiederum die Starken die Schwachen verdrängten, da bahnte er, denn er war stark, für einen Schwachen den Weg, damit jener auch etwas zu Essen bekäme. Derjenige wurde nun sein Freund. Durch seine Menschlichkeit gewann er immer mehr Freunde. Einmal schlug ihn ein sklavenSklave, doch er schlug nicht zurück und der Feind war so überrascht, daß er ihn liebgewann. [Zeichnung: Peter W. Koenig (1971)]

    (Var.: Als die anderen wieder einmal auf den König schimpften, schimpfte er nicht mit. Darüber wunderten sich die anderen Sklaven und fragten ihn, warum er nicht mitmache. Der Prinz antwortete ihnen: "Wieso soll ich mitschimpfen? Ich weiß doch nicht, ob der König wirklich so schlecht ist." Manche sahen das ein und wurden auch seine Freunde.)

    Er lehrte seine Freunde, daß sie es ihm gleichtun sollten und niemals Böses mit Bösem vergelten. Die Anführer haßten ihn, doch das war ihm gleich. Er stellte sich einmal abseits, wo ihn niemand beobachten konnte und rief seinen Vater mit dem Sprechfunk an und sprach: "Laß einen Wagen voll guter Lebensmittel aus dem Schloß kommen, damit meine Freunde und die anderen sich daran laben können." Der König aber verneinte es und erwiderte: "Nein, mein Sohn, die anderen Sklaven würden sonst neidisch werden, wenn sie sehen, daß du Beziehungen zum Schloß hast." Der Sohn wirkte stetig das Gute. Doch eines Tages erzählte ihm einer seiner Freunde, was er von den anderen Sklaven gehört habe: "Sie wollen dich umbringen, denn sie hassen dich, weil du nur Gutes tust!"

    (Var. 1: Die Sklavenführer wurden unwillig, denn sie wollten nicht, daß sich Rücksicht, Hilfsbereitschaft usw. einbürgere und so beschlossen sie, den Prinzen aus dem Weg zu schaffen, am besten umzubringen.

    Var.2: Eines Tages belauschte ein Freund des Prinzen ein Gespräch der Feinde: "Das geht nicht mehr so weiter mit diesem Kerl. Zu viele laufen über: Vorgestern waren es 5, gestern 7; wie viele werden es heute und morgen sein?" Also beschlossen sie, ihn zu ermorden. Die einen wollten ihn erschießen. Es war ein guter Vorschlag, aber sie hatten keine Schußwaffe. Schließlich einigte man sich auf Köpfen. Der angsterfüllte Lauscher rannte Hals über Kopf zum Prinzen, berichtete alles mit zitternder Stimme und brach in Tränen aus. Lange konnte er sich nicht beruhigen. Der Gedanke, ohne den geliebten Freund zu sein, war ja auch zu schrecklich!)

    Da bekam der Prinz Angst und rief seinen Vater abermals an, der Vater jedoch sprach zu ihm: "Du mußt alles, was auf dich zukommt, über dich ergehen lassen. Ich habe gute Ärzte, die dich heilen können." Und der Sohn gehorchte.

    (Var.: Dennoch hatte der Prinz große Angst.)

    Seine Feinde fingen ihn, köpften ihn, spießten seinen Kopf auf eine Stange und trugen diesen umher, so daß alle sahen, daß er tot war. Nun glaubten die törichten Feinde, daß es jetzt wieder wie früher wäre, jedoch da hatten sie sich getäuscht. Die Freunde des Königssohns befolgten immer noch seine Lehre. Sie waren nun immer sehr traurig, denn sie hatten keinen, der ihnen Trost zusprechen konnte.

    (Var.: Die Freunde des Prinzen waren nun sehr traurig. Sie waren schon nahe daran, das altgewohnte Fluchen und böse sein wieder aufzunehmen.) Als sie wieder einmal so beisammen standen, hörten sie eine Stimme, es war die des Prinzen: "Seid nicht traurig, ich bin nicht tot, sondern ich bin gesund gepflegt worden, denn mein Vater, der König, hat gute Ärzte." Plötzlich waren sie wieder frohen Mutes und sagten: "Nimm uns doch mit ins Schloß! Doch er erwiderte ihnen: "Nein, das geht nicht, ihr müßt die anderen auch zu freien guten Menschen machen. Ihr seid keine Sklaven mehr, ihr seid frei, doch ihr müßt hier bleiben!" Er gab ihnen sein Funkgerät und sprach: "Ich werde euch vom Schloß aus zusehen; ich werde einen Boten schicken, der trägt eine schwarze Uniform und er wird nach und nach immer einen von euch holen. Er wird sagen, daß ihn der Prinz schickt und dich rufen läßt.

    (Var.: Ab und zu werde ich einen Polizisten schicken, vor dem die anderen Angst haben, weil er schwarz ist. Aber ihr könnt euch freuen, weil er immer einen von euch zu mir holt.)

    Im Schloß wird alles für euch bereit sein, das Essen wird auf dem Tische stehen, das Wasser wird in die Badewanne plätschern und ihr könnt bei mir bleiben. Jedoch eure alten Hütten werde ich niederreißen lassen und eine neue Stadt darauf bauen!

    (Var. 1: Jedoch bis dahin ist es noch lange. Sogar noch heute wird das Werk des Prinzen fortgesetzt. Aber eines Tages wird er zu uns kommen. Dann ist sein Werk vollbracht.

    Var. 2: Sie freuten sich so, daß der Prinz mit seinem Vater sprach, und sagten, daß er ihm doch gleich einen ganzen Lastwagen voll Zigaretten und Wein und lauter feiner Sachen schicken soll, damit sie einmal richtig fröhlich sein konnten. Aber der Vater antwortete: Das geht nicht, mein Sohn, dann würden ja auch die anderen merken, daß ihr ja nie so viel Geld aufbringen könntet um solch gute Sachen zu kaufen. Danach ging der Königssohn wieder und alles war wie ein Wunder. Aber er kam von Zeit zu Zeit immer wieder, um sich zu erkundigen, wie es ihnen gehe. Natürlich erzählten sich das, was geschehen war, auch die Sklaven untereinander, die einen glaubten es, die anderen nicht. So geht nun die Geschichte zu Ende. Wer sie richtig gelesen hat, hat sicher gemerkt, daß sie nichts anderes ist, als das Leben Jesu.

    [Mein österreichischer Freund Peter berichtet (2012) eine originelle Variante der Schülerphantasie: Man errichtete zwei Essensausgabe-Stellen, "eine schmale, wo die ausgefressenen Aufseher schon gar nicht durchkönnen und die ausgemergelten Arbeiter aufgepäppelt werden, und die andere für die Aufseher, dahinter gibt's nur Wassersuppe, wenn die abgemagert sind, können sie wieder durch die andere ... also eine Art selbstregelndes System."]


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