Jürgen Kuhlmann
Es erfrieren nicht nur Spatzen
Wie man an die göttliche Vorsehung glauben kann
Vor kurzem gewann eine fromme Dame, Großmutter vieler Enkel, ein paar hundert Mark in der Lotterie und schrieb dazu: "Die Vorsehung Gottes ist groß, ich vertraue sehr auf sie." Als ich den Brief las, fiel mir eine Auseinandersetzung aus dem Jahr 1965 ein. Damals hatte (in den Katechetischen Blättern) Otto Betz die Vorstellung von Gott als dem großen "Weltverkehrsschutzmann" kritisiert. Klemens Tilmann berichtete dann in seiner Antwort: "Ich werde das Wort eines Freundes nicht vergessen, der bei einer solchen handgreiflichen Fügung (es handelte sich nicht um das ewige Heil, sondern darum, daß eine Jugendgruppe den Zug nicht verpaßte) ausrief: ‚Jetzt gebe ich es auf, an den Zufall zu glauben.'" Dem widersprach Otto Betz: "Ich muß gestehen, daß mich ein gerade noch und wider Erwarten erwischter Zug nicht an die Vorsehung glauben macht. Denn genauso häufig verpasse ich ihn ja wohl. Was dann? Dann kann sich herausstellen, daß auch das einen Sinn hatte. Aber wir müssen nicht unbedingt Gott ins Spiel bringen."
Hier geht es nicht um eine Randfrage, sondern um das lebendige Herz der Religion. Wie sehr sich in der Verkündigung die Gewichte verschieben, zeigt ein Vergleich des Lehrstücks 7 ("Gott sorgt für uns") in den Schulkatechismen. 1955 hieß es: "Wir sind in Gottes Hand. Er hat auch das Geringste in unserm Leben vorausbedacht und fügt alles zu unserm Heil ... Diese Sorge Gottes für uns nennen wir die göttliche Vorsehung" (S. 16). Seit 1969 wird die Vorsehung anders erklärt: "Seine Sorge bewahrt auch uns nicht vor Krankheit und Hunger, Not und Bedrängnis. Doch er gibt uns sein Wort und seine Verheißung ... Er ist mit uns" (S. 20).
Keiner Fassung ist Einseitigkeit vorzuwerfen. Auch früher wurden die Rätsel von Freiheit und Schmerz nicht verschwiegen; auch heute kommt zum Ausdruck, daß Gott in der Geschichte am Handeln ist. Doch ein Akzentwechsel läßt sich nicht leugnen. Die Wahrheit der göttlichen Vorsehung wird jetzt eher leise ausgesprochen. Es ist wohl kein Zufall, daß der Kernbegriff erst zum Schluß auftaucht, und zwar in einer Frage an den Schüler. Hofft man, daß das, was der Theologie unklar geworden ist, wenigstens im kindlichen Glaubenssinn noch zu finden sei?
Drei Ideologien
Wenn Gott allmächtig sei, könne auf der Welt doch nichts zufällig oder frei geschehen, auf diesen Einwand erwidert Thomas von Aquin (gestorben 1274): "Eben weil dem göttlichen Willen nichts widersteht, ergibt sich, daß nicht nur das geschieht, was Gott will, sondern auch, daß (je nachdem) zufällig oder notwendig geschieht, was er (so oder) so geschehen lassen will" (S. th. I q19 a8 ad2).
Diese Auskunft stützt den Glauben und wahrt das Geheimnis, läßt aber den Wissensdurst ungestillt. Wer die Vorsehung so ähnlich begreifen will wie ein Techniker oder Manager die Funktion eines Apparats, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich auf eines von drei Verständnismodellen festzulegen. Entweder regelt Gottes Vorsehung alles oder nichts oder einiges. Mehr Möglichkeiten scheint es logischerweise nicht zu geben. Jede widerspricht den beiden anderen, für jede aber gibt es Anhaltspunkte.
Wie bei einer Schreibmaschine?
In seinem Büchlein "Von der Hingabe an die göttliche . Vorsehung" schreibt der Jesuit de Caussade (gestorben 1751): "Sich zufrieden geben mit dem gegenwärtigen Augenblick: das heißt den göttlichen Willen kosten und anbeten in allem, was sich in den Dingen, die durch ihre Aufeinanderfolge die dahinströmende Gegenwart ausmachen, zu tun und zu leiden findet ... Solche Seelen haben keine größere Konsistenz und Festigkeit als geschmolzenes Metall. So wie dieses alle Gestalten der Form annimmt, in die man es einströmen läßt, so bilden und gestalten diese Seelen sich ebenso leicht nach allen Formen, die Gott ihnen geben will. Mit einem Wort: sie gleichen der Luft, die jedem Windhauch nachgibt, und dem Wasser, das sich jedem Gefäß angleicht. Sie bieten sich Gott dar wie eine in sich vollkommen gleichförmige und vollkommen einfache Leinwand, ohne daran zu denken, ohne nachzuforschen, ohne nachzugrübeln, was es Gott gefallen wird, darauf zu malen" ("Ewigkeit im Augenblick", Freiburg 1955, S. 31; 80). In allen Dingen findet sich der göttliche Wille, ich bin die Leinwand, welche Gott seinem Wunsch gemäß bemalt. Übertragen wir das vortechnische Bild, dann bietet sich als Modell die Schreibmaschine an. Sie verhält sich passiv. Keine Initiative geht von ihr aus, allein der Schreiber bestimmt, wann und was geschrieben wird. Einzig die Treue im Kleinen obliegt ihr: jedem Tastendruck hat sie gefügig zu sein.
Ähnlich schreibt Gott auf der unermeßlichen Weltmaschine seinen gewaltigen Roman. Milliarden von Elementen fügen sich zu immer neuen Worten, Szenen, Episoden zusammen, und der Verfasser persönlich weiß sich für alles verantwortlich, was geschieht: "Jakob habe ich geliebt, Esau gehaßt ... Über Pharao aber sagt die Schrift: Gerade deshalb habe ich dich erweckt, daß ich an dir meine Kraft zeige und daß mein Name verkündet werde auf der ganzen Erde. Also: wem er will, ist er gnädig und wen er will, verstockt er ... Hat denn nicht der Töpfer Macht über den Ton" (Röm 9,13-21)?
Wer Gottes Vorsehung derart massiv auffaßt, will mit einem Schlag alles erklären. Das mag in manchen Situationen das (jetzt) einzig Richtige sein, aber die Wahrheit ist es nicht.
Oder wie beim Uhrwerk?
Genau den Gegenstandpunkt nimmt der aufgeklärte Wissenschaftsgläubige ein. Nicht der Wille eines Oberherrn bestimmt den Weltlauf, sondern die Naturgesetze tun es. Jede Gesamtheit von Erscheinungen hat ihre Ursachen-Verbindungen und steht mit anderen Komplexen in Wechselwirkung. Je nachdem, ob man ein bestimmtes Geschehen innerhalb eines Systems oder als Begegnung unabhängiger Systeme versteht, herrscht entweder die Notwendigkeit oder der Zufall. Für die Zebras ist ihr Fliehen ebenso notwendig wie für den Löwen sein Verfolgen; welches Zebra er schließlich erjage, ist dem Löwen Zufall, nicht aber dem Wildhüter, dem das halblahme Tier schon aufgefallen war.
Ob beim Menschen die Kompliziertheit seiner Regelkreise so weit gehe, daß sie den Namen Freiheit verdient, ist fast nur eine Frage der Wörter. Fest steht, daß niemand ohne Motive will; das jeweils stärkere Motiv gewinnt. Bei menschlichen Taten sind somit Zufall, Freiheit und Notwendigkeit nur die Namen verschiedener Sichtweisen. Zu fragen, wie es wirklich sei, ist sinnlos. Deshalb sollen wir nicht beten, sondern handeln. Gott wirkt nicht als Wirkursache, sondern höchstens als Zweck, nämlich als Hilfsmotiv für Schwache, denen die Reife unberechnender Rechtheit noch abgeht: "Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch soweit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: du brauchst einen Gott" (B. Brecht, Kalendergeschichten). Auch hier wird alles mit einem Schlag erklärt: die umfassende Sinnfrage sei sinnlos. Wer so denkt, verliert zwar den Trost kindlicher Illusionen, gewinnt aber dafür die Nüchternheit des heilsam Ent-täuschten. Gewiß ist auch sie zuweilen das (jetzt) einzig Richtige. Mit der ganzen Wahrheit aber sollten wir sie ebensowenig verwechseln wie ihr frommes Gegenteil.
Oder wie beim Computer?
Bei einem Pionier der Kybernetik (der Wissenschaft von den Regelungs-, Steuerungs- und Informationsprozessen), Norbert Wiener, lesen wir über Gott: "Er ist tatsächlich in einen Kampf mit seinem Geschöpf verstrickt, den er sehr wohl verlieren kann. Und doch wurde sein Geschöpf von ihm aus seinem eigenen freien Willen geschaffen: müßte es nicht all seine Handlungsfreiheit von Gott allein beziehen? Kann Gott ein wichtiges Spiel mit seiner eigenen Kreatur treiben? Kann jeder Schöpfer, selbst einer, dem Grenzen gesetzt sind, ein Spiel von Bedeutung mit seinem eigenen Geschöpf spielen? Durch den Bau von Maschinen, gegen die er spielt, hat der Erfinder sich die Funktion eines begrenzten Schöpfers angemaßt, ganz gleich, welcher Art die von ihm konstruierte Spielvorrichtung ist. Dies ist ganz besonders bei Spielautomaten der Fall, die durch Erfahrung lernen."
Als Wiener dies schrieb ("Gott & Golem Inc.", Düsseldorf 1965, S. 34f.), gab es im Kaufhaus noch keine Schach-Automaten mit einstellbarer Spielstärke. Seither ist sein Gleichnis allgemeinverständlich geworden. Die Welt gleicht also jetzt einem unendlich komplizierten, lernfähigen Elektronenrechner. Von Gott entworfen, hat er ein einziges Programm mitbekommen: erfinde möglichst viele möglichst verschiedene und interessante Spiele! Sodann beginnt der Weltenlauf. Immer verwickelter werden die Spiele, unabsehbar ausgreifend die sie stabilisierenden Regelkreise. Auf physikalische Sinnweisen folgen chemische, dann biologische, bis endlich der Sprung hinein ins Selbstbewußtsein gelingt. Bald haben viele Unterschaltkreise des Computers eine solche Innenseite. Anders als in seinen früheren Phasen weiß er in ihnen von sich selbst und seinem Programm.
Überdies tritt nun zur ersten Grundregel eine zweite, an jedes Einzelspiel gerichtete: "Störe keine fremden Sinnkreise!" Seither ist der Verwicklungen kein Ende mehr. Denn beide Regeln wirken häufig gegeneinander. Zudem begnügt der Erfinder sich nicht mit dem Zuschauen. Er wirkt mit, greift ein, füttert die Maschine mit überraschend neuen Unterprogrammen, fördert hier einen leerlaufenden Sinnkreis, hemmt dort einen, der rücksichtslos wuchert Doch nicht immer greift er ein. Oft genug läßt er es zu, daß ein Versuch nach dem anderen scheitert und sich in Sackgassen verläuft, daß langwierige Mühe doch zu nichts Sinnvollem führt Sogar jene Jesus-Episode, bei der er sich in eigener Person engagierte, schien zu mißlingen - bis er sie auf ungeahnte Weise doch noch gewonnen hat. Diese Denkart bringt es fertig, beiden anderen - den Frommen wie den Gottlosen - anstößig zu sein. Beide können nicht einen Gott anerkennen, der nur hin und wieder in den irdischen Betrieb eingreift. Gut dagegen paßt diese Sicht bestimmten Sektenleuten. Sie wissen sich als Gottes Erwählte, von ihm beauftragt und geleitet, während der Rest der Welt gottverlassen im Finstern tappt. Auch diese Sicht mag mitunter die (jetzt) einzig richtige sein, ist aber ebenfalls nicht die Wahrheit.
Knäuel der Widersprüche
Im Zusammenhang ideologischen Denkens zeigt die Vorsehungsproblematik sich als ein Schlangenknäuel unentwirrbarer Widersprüche. Nach Paulus ist es Gott selbst, der die Menschen verstockt oder erwählt. Hatte Hitler, einer der Pharaonen unseres Jahrhunderts, also gar recht, wenn er heiser "die Vorsehung" brüllte? Hätte Gott wirklich auch in Auschwitz "so herrlich regieret"?
Nein, lehrt das Konzil von Trient, wir dürfen gerade nicht denken, "daß der Verrat des Judas nicht weniger Gottes eigenes Werk sei als des Paulus Berufung". Das Gute, "weiß" die Theologie, wird von Gott bewirkt, das Böse nur zugelassen.
Ein Gott, der mich mit dem Vorrecht seiner persönlichen Zuwendung beschenkte und irgendeinen meiner (und seiner!) Mitmenschen leer ausgehen ließe, wäre .mir kein lieber, sondern ein arger, vor allem aber ein gar zu kleiner Gott. Ihn schuf tatsächlich, Feuerbach hat recht, der beschränkte Mensch nach seinem Bilde. Jesus weiß es anders: um jeden Spatz kümmert Gott sich persönlich. Und dennoch erfrieren nicht bloß Spatzen, sondern auch Menschen, Gottlose wie Fromme. Kein Wunder, daß nicht nur Schüler ins Stottern geraten, wenn es den Begriff "göttliche Vorsehung" zu erklären gilt. Ist dies am Ende gar kein Begriff, sondern der Name für eine unbegreifliche Erfahrung?
Gott wirkt von innen
Allen drei geschilderten Ansichten ist ein Irrtum gemeinsam. Gott wird als äußerlich, von außen wirkend vorgestellt. Alle benutzten Vergleiche - vom Töpfer und Maschinenschreiber über den Programmierer bis zum Uhrmacher, der sich draußen hält - sie kommen in einem überein: daß an einer belebten oder unbelebten Wirklichkeit jemand "von außen her" etwas tut. Sobald der Geist sich in dieser Falle verfangen hat, wird das helle Geheimnis der Vorsehung ihm zum finsteren, unlösbaren Problem.
Ein totalitärer Chef, der sich für unser aller Dasein bis ins Kleinste als alleinzuständig erklärt; ein ferner Himmelsherr, der um nichts sich kümmert; ein launischer Tyrann, der die einen überlegen herummanipuliert und die anderen ungerührt dem Zufall überläßt - keines dieser Bilder hat etwas Anziehendes. Und keines ist christlich. Ob theistisch, deistisch oder "spieltheoretisch" aufgefaßt - der "Gott von außen". ist unerträglich.
Heil ist allein in der wunderbaren Wahrheit des Gottes innen: "In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg 17,28). Zu diesem seinem inneren Lebensprinzip sagt der Glaubende Du; denn das göttliche Leben vor, in und über allen Geschöpfen läßt sich keinesfalls in die Schranken meines engen Ich einsperren, ist also insofern von mir verschieden. Du bist mein Gott, auf den ich vertraue. Du kümmerst dich um mich - kein Wunder, wo ich doch so ähnlich zu dir gehöre wie irgendeine meiner Körperzellen zu mir, dem lebendigen Ich dieses Leibes.
Bei meinem beschränkten Durchblick sind viele Situationen mir unüberschaubar, genau genommen alle, denn stets mag Unvorhersehbares einbrechen in meine ordentlichste Stunde. Ein Reifen kann platzen, ein Hexenschuß mich niederstrecken, ein blitzgescheites Kind durch eine Hirnhautentzündung geistig behindert werden. Ich weiß: Unser Leben wird von einem Punkt aus gesteuert, der mir unverfügbar bleibt. Statt dieses Wissen aber in einer "Ideologie" festzumachen oder es schwankend zu verdrängen, soll ich es in achtsamem Glauben lebendig halten, das heißt: in Gebet verwandeln.
Kein Vater gibt seinem Kind einen Stein als Ei, eine Schlange als Fisch, am wenigsten unser Vater im Himmel. Habe ich einen Herzenswunsch und bete um ihn, darf ich also der Erhörung gewiß sein. Entweder wird mir das Erbetene geschenkt - oder etwas Besseres. Besser freilich nicht für mein jetziges, beschränktes Verständnis, wohl aber im Gesamtsinn des Himmels. Und dieser ist mir kein fremder Wille, kein Entschlußzentrum mit anderen, mir äußerlichen Interessen. Sondern du, mein Gott, bist mir innerlicher als ich mir selbst, so weit innen allerdings, daß die harten Mauern meines Egoismus schmelzen müssen, damit ich mit dir eins sein kann. Habe ich dich, meine Tiefe, vergessen und es mir an der Oberfläche gemütlich gemacht? Dank dir, daß du mich aufstörst - auch wenn deine Art dem Weltkind grausam vorkommt.
Danken ist doch möglich
Damit sind wir beim schweren Thema Dank, das derzeit viele Christen so unfroh macht. Wie kann ein Glied der informierten Gesellschaft für eigenes Wohl dankbar sein? Für die Gesundheit unserer Kinder, wenn in der Nachbarschaft mehrere schwer behindert sind? Für unseren Festtisch, wenn ein paar Breitengrade südlich meine Geschwister sich vor Hunger krümmen? Für meine Lust auf dem Fahrrad, wenn nebenan im Krankenhaus anderen die Glieder verfaulen? Wäre solcher Dank nicht zynisch, lieblos, unchristlich? Einen Christen aber, der Gott nicht dankt, kann es doch auch nicht geben.
Auch dieses Problem ist so lange unlösbar, wie wir in der Falle der veräußerlichenden Spaltungsideologie festsitzen. Die getrennte Individualität für das Wirkliche zu nehmen und dafür zu danken, daß es gerade mir gut ergeht, anders als den anderen, die leiden müssen: das wäre allerdings nicht in Gottes Sinn. Daß viele es nicht mehr fertigbringen, ist ein geistlicher Fortschritt. Doch kann mein Dank auch anders gemeint sein. Ich preise dich dafür, was mein gegenwärtiges kleines Glück anzeigt und bedeutet, nämlich unser aller unzerstörbares Heil in dir. Irdisches Wohl ist die Spürbarkeit, das lebensvolle Zeichen für das Wohl überhaupt; immer auf dieses Ganze (heil = whole) bezieht sich der Dank des Glaubenden. Dabei gilt ein seltsam einseitiges Prinzip (gründend im Sieg des Seins über das Nichts): Zwar ist im Glück des Teils das Heil des Ganzen da (ähnlich wie ICH die Lust meiner Zunge, meines Ohrs voll mitlebe), nicht aber umgekehrt. Am Tod des einzelnen leidet wohl, stirbt aber nicht das Ganze.
Die Wirklichkeit gleicht einem Leib mit gesunden und kranken Gliedern. Weil aber alle miteinander ein Leib sind (und dieser, aufs Ganze gesehen, heil ist), deshalb können die gesunden ihr unmittelbares Wohl als Zeichen des totalen Heiles deuten und für dieses dem Ganzen dankbar sein. Und die kranken Glieder? Auch sie gehören zum gesunden Leib und sind für die Genesung bestimmt Im Tiefsten können darum auch sie dem Ganzen danken - wie Ijob tat -, auch wenn sie zur Zeit nicht seine Freude teilen, sondern sein Gericht.
Vorsicht aber! Jetzt sind wir mitten im Gestrüpp der Zweideutigkeit Fallen wir nicht in die Dummheit der Freunde Ijobs. "Erfolg ist keiner der Namen Gottes", Unglück muß nicht Strafe für Sünden sein. Nicht von moralischer Korrektheit wird der Weltlauf bestimmt; diese Ideologie ist ebenso falsch wie die übrigen drei. Wohl aber tut - je existentiell - die gläubig hoffende Liebe gut daran, Glück und Leid als gegensätzliche Heilszeichen sich zu deuten: das Glück als den Einbruch der totalen Freude in meine Enge, das Leid als Angebot und Chance, diese Enge immer radikaler zu sprengen und in die göttliche Einheit hineinschmelzen zulassen.
Allgemeine und besondere Vorsehung
Aus all dem ergibt sich eine klare geistliche Richtschnur. Versuche gar nicht erst, von dir aus den heilsgeschichtlichen Sinn sämtlicher Ereignisse zu erkunden. "Gott ist im Himmel, du auf der Erde." Doch darfst du, was dich freut, dir als Heilszeichen deuten. Und was dich schmerzt, ebenfalls. Denn das Heil ist kein Zustand, sondern der Prozeß der Befreiung aus dem Kerker des Egoismus, sie tut weh und wohl zumal und endet erst mit diesem Sterbeleben. Jegliche Situation bietet beide Gesichtspunkte dar - wem könnte es nicht gerade noch besser, wem nicht noch ärger gehen?
Nur eine Erscheinungsform der hellen Seite dieser allgemeinen Vorsehung ist jene besondere, die wir zuweilen als überraschenden, zeichenhaften, wegweisenden, bestätigenden oder tröstenden Spezialeingriff einer freundlichen Macht direkt in unseren Alltag erfahren. Anderen berichtet, klingt ein solches Geschehen dann oft lachhaft, nichtssagend, wird also besser verschwiegen. Gleichwohl weiß unser Herz ganz tief: es ist mir ein Zeichen gegeben worden als Licht für meinen Fuß. Solchen Spuren sollen wir vertrauend folgen, jedem hat die Liebe ja seine einmalige Bahn ausgesucht. Vom Lostreffer (Geld oder einen Studienplatz betreffend) reicht die Spannweite dieser Zeichen etwa über eine knappe Rettung auf der Autobahn bis hin zu massiven, notariell beglaubigten Wundern. In keinem Jahrhundert hat es den Menschen an Zeichen gefehlt.
Auch nicht an Grauen, Angst und Gottverlassenheit. Weil Gottes Vorsehung weltlich weder zu bewahrheiten noch zu widerlegen ist, deshalb kann sie nie Inhalt eines Wissens sein. Trotzdem ist diese Rede kein Geschwätz. Der Glaube weiß, wovon er spricht. In den Stunden von Blei und in den Stunden von Gold dürfen wir auch künftig überzeugt sein: Kein Haar fällt von unserem Kopf, ohne daß die ewige Liebe unser Bestes will - nicht um es uns wegzunehmen, sondern um es in ihr zu erfüllen.
Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" 1985, 53 f.
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