Jürgen Kuhlmann

Das Geheimnis des Spiegels

Monstranz in Granada: Symbol der Vergottung

In der Sakristei der Königlichen Kapelle zu Granada steht der Besucher staunend vor einer prachtvollen Monstranz, gefertigt - aus dem Handspiegel der "Katholischen Königin" Isabel von Kastilien. Ich stelle mir vor, wie die Fürstin sich darin prüfend betrachtet hat, vielleicht an jenem Tag im Januar des Schicksalsjahres 1492, als Granada, letztes islamisches Bollwerk, sich nach langer Hungerzeit endlich seinen christlichen Belagerern ergab ... Oder am Morgen des anderen Tages, als der Name eines gewissen Colón auf der Audienzliste stand, eines Abenteurers mit seltsamen Ideen, aber interessant auf jeden Fall. Und eben da, wo die hohe Dame so oft ihr eigenes Antlitz erblickt hatte, leuchtet später, umglänzt von Kerzenschein und in Weihrauch gehüllt, die weiße Hostie zum Zeichen der Gegenwart des Königs aller Könige. Und Prälaten wie Barone, die Herzogin wie die Küchenmagd, sinken auf ihre Knie.

Ein halbes Jahrtausend später läßt die überstarke Aura dieses einzigartigen Kosmetik- und Kultgeräts den Betrachter nicht mehr los. Ganz verschieden kann ein Christ es deuten. Der eine sieht ein Symbol der noch ungespaltenen Christenheit, der Harmonie von Staatsmacht und Glaube, da alle Welt klar wußte, wie die Wahrheit des Ganzen ist. Ein anderer findet es unerträglich, wie hier Christus zur Verherrlichung einer irdischen Monarchie buchstäblich "eingespannt" wird: Wer Gott gibt, was bloß des Kaisers ist, stiehlt den Menschen ihren wahren Gott, der die Gewaltigen vom Throne stürzt und die Niedrigen erhöht. Beide Denklinien sind berechtigt; ein Kunstwerk mag viele Vorzüge haben, nur eindeutig ist es nie - oder kein Kunstwerk.

Mir beleuchtet die edle Monstranz plötzlich eine andere Wahrheit: unsere Vergottung in Christus. Der neue Katechismus nennt uns zwar lieber "vergöttlicht" (Nr. 398), das ist aber sprachlich ungenau. Göttlich, d.h. wie Gott, kann niemand sein; als der Teufel solches versprach, hat er gelogen, nicht zu viel aber versprochen, sondern zu wenig. Nicht vergöttlicht werden wir, wohl aber vergottet; nicht wie Gott, vielmehr eins mit Ihm dem Einzigen, weil Glieder seines Leibes. Ein Bibelsatz, den meisten Christen unbekannt, drückt diese Wahrheit deutlich genug aus: "Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradiese Gottes steht" (Offb 2,7). Keine andere Natur als der Weinstock haben seine Reben; "einer in Christus" dürfen wir sein (Gal 3,28). Der ewige Sinn aller Welten hat in Person das Ich nicht nur Jesu, des Hauptes, sondern auch unser, der Glieder seines Leibes, werden wollen. Eine erhabene Wahrheit ist das, nicht für den Marktplatz tauglich: manchen Leuten könnte es ungut zu Kopfe steigen, daß sie selber Gott sind. Wären vielleicht, um davor zu warnen, 1329 Meister Eckharts kühne Thesen vom Papst auch dann verurteilt worden, wenn zu Köln und Avignon die Bürokraten sie verstanden hätten?

Stimmen tun sie. Auch wir dürfen mit Paulus "unter den Vollkommenen Weisheit verkündigen" (1 Kor 2,6). Mündige Christen, die ihre Lektion Demut gelernt haben und ihr sündiges Alltags-Ich von seinem vergotteten Urgrund zu unterscheiden wissen, sie haben ein Recht, auch in äußeren Worten von jenem innersten Bewußtseinslicht zu erfahren, in welchem das Christentum mit der Ahnung der Brahmanen übereinkommt: tat tvam asi, das bist du. Daß aus dem Spiegel die Monstranz wurde, bedeutet mir den Durchbruch jenes individuellen Menschengesichts zu seinem personhaft-allgemeinen Tiefen-Ich, jene eigentliche Wandlung, auf die alles ankommt.

Die linde Brise, die mir in diesen letzten Stunden am Meer gerade die Wange fächelt: meine Haut spürt sie als angenehmen Reiz, doch plötzlich vertieft sich das Erlebnis. Meine Haut fühlt den Hauch, gewiß, nicht nur sie aber, sondern in ihr fühle ich ihn, ich selbst, der auch aus meinen Augen den fröhlichen Wellenschaum sieht, mit seinen Ohren dem Chor der Brandung lauscht und mit seinen Fingern diese Sätze schreibt. Ich, eine Person, einfach-ausdehnungsloser Punkt gewissermaßen, zugleich aber die gemeinsame Person all meiner Sinne, so gegensätzlich die wahrnehmen. Ich bin über jedes bestimmte Organ erhaben, werde von ihren Grenzen nicht eingeschränkt und bin doch in jedem von ihnen ganz da.

So ähnlich also (denn der Mensch, der leibseelische, ist Gottes Bild), wie meine Sinne leben, nicht sie aber im Grunde, sondern ich in ihnen, so "lebe ich, nicht mehr ich aber, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,20): Diese Umschaltung des Bewußtseins nach innen wird von der Umarbeitung des Spiegels zur Monstranz bedeutet, wie auch von der Wandlung in der Heiligen Messe. Denkst du hin und wieder daran, wenn du - ob Königin oder nicht - zu Hause in den Spiegel schaust?

September 1993

(Leicht gestutzt) abgedruckt in: Christ in der Gegenwart


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