Jürgen Kuhlmann
Der Jakobs-Stempel
Auch amtlich kann die Kirche
Symbol für Freiheit seinWarum haben Sie sich auf den Jakobsweg gemacht? fragte der Mann mit dem Stempel. Als die Tochter meines spanischen Bekannten ihren christlichen Glauben als Grund angab und daß sie sich der Jahrhunderte alten Tradition religiöser Pilgerschaft verbunden fühlt, da lächelte der Kirchenbeamte freundlich und drückte auf ihr Pilgerzeugnis den offiziellen Stempel. Als aber - berichtet sie weiter - der nächste junge Mann auf dieselbe Frage erwiderte, religiös sei er eigentlich kaum, wolle vielmehr die großartige Natur erleben und die eigenen Grenzen kennen sowie erweitern: da ward ihm der Stempel versagt. Für bloße Touristen, so beschied man ihn, sei der nicht bestimmt, nur für echte Pilger.
Zuerst hat diese kirchliche Exklusivität mich empört. Später empfand ich Verständnis für sie. Müssen wir wirklich allen alles nachwerfen? Wozu braucht der Junge zu Naturerlebnis und Selbsterfahrung hinzu auch noch das kirchliche Siegel, wo die Kirche ihm doch nichts bedeutet?
Inzwischen bin ich überzeugt: Im Tautropfen der Ministory funkelt das Sonnenlicht des Gottesheils. Derselbe Heilige Geist, der sich im Pfingststurm allen Pilgern zu Jerusalem offenbart, hat zuerst in der Stille von Nazaret den Leib Jesu geformt: ein eindeutig Reales, mit nichts anderem verwechselbar. Zwischen beiden Taten des Pneuma, des Gotteshauchs, dem Setzen wie dem Sprengen von Grenzen, muß die Kirche wach balancieren, sonst verfällt sie entweder grenzenlosem Relativismus oder beschränktem Fundamentalismus.
Hätte ich in der Kurie von Santiago de Compostela etwas zu sagen, dann wären auf dem Zeugnis zwei Siegel-Stellen vorgesehen, die eine für bewußt christliche, die andere für sonstige Pilger. Jeder entschiede selbst, wohin er den Stempel haben will. Fragt ein Pilger nach dem Sinn des Gegensatzes, könnte der Stempelbeamte ihm den Hoffnungsglauben der heutigen Kirche erläutern, etwa so: "Diese Unterscheidung ist zum einen nur vorläufig, zum andern letztlich belanglos. Laut dem heiligen Augustinus gibt es Wölfe drinnen und Schafe draußen. Sollten Sie irgendwann das Gefühl haben, der Pilgerstempel sei mittlerweile an der falschen Stelle, schneiden Sie ihn getrost aus und kleben ihn um, notfalls öfter. Der Gültigkeit schadet das nicht. Wie Sie, hofft auch die Kirche: Am Ende unserer irdischen Pilgerreise ist der Stempel, egal wo er dann sitzt, den Pförtner-Engeln willkommen."
Juli 2006
Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" Nr 7/2007, am 18. Februar, S. 55
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