Jürgen Kuhlmann
Wie katholisch sind die Teil-Identifizierten?
Auszug aus meinem Katechismus-Kommentar von 1993.
24. August 1993. Heute vor fünfzig Jahren ist Simone Weil gestorben, offiziell ungetauft, heimlich doch, von einer Freundin "aus dem Wasserhahn". Packen wir mit ihrer Hilfe das m.E. schlimmste Ärgernis an, das der Katechismus enthält: "Wen ihr aus eurer Gemeinschaft ausschließen werdet, wird Gott auch aus der Gemeinschaft mit sich ausschließen ... Die Versöhnung mit der Kirche läßt sich von der Versöhnung mit Gott nicht trennen" (1445). Wie hat Simone diese Denkart gehaßt! Jesu Gemeinde als exklusiv-arrogante Supersekte? Nein, da trat sie nicht ein. Wer will schon mit Menschen, die so denken, Gemeinschaft haben - Gott doch bestimmt nicht ... Doch sollten wir auch für diese Aussage des Lehramts die goldene Interpretationsregel aus dem Exerzitienbüchlein gelten lassen: "Jeder gute Christ muß mehr dazu bereit sein, die Aussage des Nächsten für glaubwürdig zu halten, als sie zu verurteilen" (2478). Immerhin ist der anstößige Satz ja eine korrekte Exegese von Mt 16,19. Was ist mit der Vollmacht des Bindens und Lösens gemeint, die dem Petrus und allen Aposteln übertragen wird? Welches Schloß sperrt der Schlüssel des Himmelreichs?
Die Liturgie des vergangenen Sonntags bringt uns auf die Spur. Zur Einstimmung auf eben dies Evangelium wird aus dem Propheten Jesaia vorgelesen, wie Gott in Jerusalem einen hohen Beamten einsetzt: "Ich lege ihm den Schlüssel des Hauses David auf die Schulter. Wenn er öffnet, kann niemand schließen; wenn er schließt, kann niemand öffnen" (Jes 22,22). Solch innerweltliche Vollmacht ist unproblematisch. Wer an der Spitze eines Apparates steht, dessen Ja und Nein bindet diesen, das ist auch heute auf der ganzen Welt so. Anders ist ordentliche Verwaltung nicht möglich. Auch nicht - das ist der Schritt zum Neuen Testament - wenn der Zweck der Behörde darin besteht, die Information von Gottes Menschwerdung der Welt vor Augen zu halten, Christus durch alle Zeiten hin vor der Menschheit zu repräsentieren. Wenn es eine solche Organisation geben soll - und Mt 16,19 wird ihre Stiftung berichtet - dann muß Christus der Verherrlichte, sofern Er ihr Herr ist, die Entscheidungen seiner irdischen Repräsentanten für sich gelten lassen. Sofern Er ihr Herr ist - was meint diese nähere Bestimmung?
"Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen" (Joh 14,2), die streng katholische ist eine davon. In ihr ist eine besondere Idee menschlichen, gesellschaftlichen Lebens verwirklicht, der kein Mündiger seine Achtung versagen wird. Jene Millionen, deren Gewissen sie voll mit dieser Lebensform identifiziert, so daß sie (für sich) alle Sätze unseres Katechismus gern unterschreiben: ihre irdisch-himmlische Wohnung sperrt der Schlüssel des Petrus zu und auf. Es sind aber weit, weit weniger Menschen, als die kirchliche Statistik zu Katholiken erklärt.
Beispielsweise gehören zu ihnen nicht jene Katholiken, die
- (fast) regelmäßig die Sonntagsmesse versäumen (2181) und das nie mit echtem Besserungsvorsatz beichten (1456)
- ihre Homosexualität guten Gewissens leben (2357)
- nach Erreichen der gewünschten Kinderzahl eine Sterilisation oder sonstige künstliche Empfängnisverhütung (2370) nie bereuen
- mit ihrem evangelischen Partner zusammen das Abendmahl empfangen (1400)
- in einer zweiten, kirchlich ungültigen Ehe leben und weder diese Verletzung des Bundeszeichens bereuen noch Enthaltsamkeit üben (1650), weil ih- rem Gewissen das neue Leben göttlicher scheint als das tote Zeichen
- als Priester ohne päpstliche Dispens heiraten
- jedes Dogma glauben, außer einem bestimmten, mit dem sie durchaus nicht zurechtkommen
- z.B. mit manchen Forschern annehmen, daß Papst Pius IX. aus krankhaftem Ehrgeiz das I.Vatikanische Konzil zur Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit so sehr gedrängt hat, daß die Konzilsväter nicht mehr frei waren und jenes angebliche Dogma (891) folglich gar keines ist
- nicht alle hier genannten Katholiken für schlechte halten.
Anscheinend unterteilen sich die Christen somit in Vollkatholiken, Nichtkatholiken sowie, zwischen ihnen, die bisher namenlose Gruppe der teilidentifizierten Katholiken. Sind sie verlorene Söhne und Töchter der Kirche, weil "in der Liebe nicht verharrend" (837)? Doch darüber urteilt Gott allein. Oder schon getrennte Brüder und Schwestern, kirchenlose Protestanten also? (Ein mir bekannter verheirateter Priester erhielt von Pius XII. seine Dispens nach einem Brief mit der Bitte, der Heilige Vater möge doch nicht über den getrennten Brüdern die verlorenen Söhne ganz vergessen.) Aber nein, ohne Kirche gibt es keinen Christen, wie keinen Menschen ohne Volk. Was sollen wir denken?
Ich fühle es so: Erwachsene Kinder sind jene Katholiken, die (anders als ihre ebenso erwachsenen Geschwister) der elterlichen Wohnung entwachsen, aus ihr in eine andere der "vielen Wohnungen" umgezogen sind, weil ihr innerer Lebensweg es so mit sich gebracht hat, vielleicht gar ihre "besondere Berufung, die von Gott kommt" (2232). Doch lieben sie ihre Mutter Kirche, achten auch - mehr oder minder - deren "Heiligen Vater" (obwohl sein Titel dem glasklaren Verbot Jesu stracks widerspricht: Mt 23,9). Sie fühlen sich der großen katholischen Familie zugehörig und nehmen an deren Leben unbefangen teil, wobei - wie das in guten Familien so ist - über die jeweiligen wunden Punkte in gemeinsamem Einvernehmen nicht gesprochen wird. Fallen diese irgendwann fort, dann spricht nichts gegen eine Generalbeichte. Ein kluger Seelsorger wird darauf hinweisen, daß nur Sünden zu bereuen sind, nicht Taten, die seinerzeit guten Gewissens geschahen. Für den unaufklärbaren Rest zuständig ist allein Gottes grundlose Barmherzigkeit.
Wenn man es so sehen darf, wenn um die katholische Hauptwohnung herum viele andere teilkatholische Wohnungen sich befinden: welchen Sinn hat dann das katholische System? Sehr einfach: "Die Kirche ist ... Zeichen" (775). Ein Zeichen verlangt Klarheit; verwischte, unentzifferbare Zeichen taugen nichts. Die Realität ist allerdings oft nicht so eindeutig, wie ein Zeichen sein soll.
Nie vergesse ich mein Gespräch mit Pater Hürth SJ, anfangs der 60er Jahre in Rom. Er galt als der ehrwürdigste katholische Moraltheologe, hatte an der Ehe-Enzyklika Pius XI. einen Hauptanteil gehabt. Mit schlohweißem Haar saß er mir gegenüber und sagte wörtlich: "Wer leugnet, daß es Ehen gibt, die keine Ehen mehr sind, der leugnet Tatsachen." Dennoch sei eine Scheidung ausgeschlossen: Gott sieht diese Ehen, die keine Ehen mehr sind. Er sieht aber auch die vielen jungen Eheleute, die sich miteinander auf den Weg machen. Bald kommen die Krisen. Wüßten die beiden nun, daß eine Scheidung möglich ist, dann würde die Möglichkeit schnell die Wirklichkeit herbeiführen, es gäbe kein Halten mehr. Weil sie aber wissen, daß harte Treue der einzige Ausweg ist, deshalb reifen sie zu einer glücklichen Familie. Das alles bedenkt Gott. Und deshalb gibt es in der wahren Kirche keine Ehescheidung, aus Liebe zu den vielen gesunden Ehen. Soweit P.Hürth, wenige Monate später ist er gestorben. Von einem gereiften Ehemann wurde mir seine Sicht bestätigt: Hätten wir nicht beide gewußt, daß eine Scheidung unmöglich ist, wären wir nicht beisammen geblieben.
Ja, das katholische Zeichen hat seinen guten Sinn, hilft auch vielen, die es nicht voll oder gar nicht mit bilden. Es darf sich jedoch nicht selbst mißverstehen. Insofern bedarf unser Ausgangssatz (1445), um wahr zu sein, einer überaus einschränkenden Auslegung: "Wen ihr aus eurer Gemeinschaft ausschließen werdet, den wird auch Gott" aus jener Gemeinschaft mit sich ausschließen, der ihr vorsteht: "Hört er auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder Zöllner" (Mt 18,17). Gott bestätigt den Rausschmiß aus der katholischen Hauptwohnung, weil sie sein leuchtendes Zeichen für die Vielen sein soll, das Er sich nicht verschmieren lassen will.
Doch verstößt Gott eine solche Person nicht aus Seiner herzlichen Gemeinschaft, läßt sie auch nicht unbehaust, lädt sie vielmehr in eine andere seiner vielen Wohnungen ein und lebt dort mit ihr zusammen, wenn sie nur will. "Die Versöhnung mit der Kirche läßt sich von der Versöhnung mit Gott nicht trennen" (1445), aber auch nicht mit ihr vermischen, gemäß dem goldenen Schlüssel von Chalkedon, ihn sollte ein Katechismus nicht halbieren. Weil beide Beziehungen ungetrennt sind, deshalb muß ein Katholik die katholische Wohnung lieben; weil sie aber auch unvermischt sind, deshalb kann er notfalls mit Gottes Segen in eine andere Wohnung umziehen, und wenn er an Jesu Wort festhält, werden der Vater und Er "zu ihm kommen und bei ihm wohnen" (Joh 14,23).
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