Jürgen Kuhlmann

Die Todesprobe

Folgendes geschah 1896 in Indien. Sri Ramana Maharishi wird es später sein einziges mystisches Erlebnis nennen:

"Venkatarama zählte damals sechzehneinhalb Jahre. Er war Vaterwaise und lebte mit seinem älteren Bruder Nagasami bei einem Onkel in Madura. Dort besuchte er die Schule und begab sich jeden Tag mit seinem Bruder zum Kollegium, das unter der Leitung der amerikanischen protestantischen Missionare stand. Eines Morgens kam ihm plötzlich der Gedanke, er werde bald sterben. Diese Idee packte ihn mit einer zutiefst aufwühlenden Gewalt, und eine schreckliche Angst kam über ihn. Und doch war nichts in ihm oder um ihn, das auf besondere Weise Anlaß zu einem solchen Gedanken oder solchem Schrecken hätte geben können. Bald war das ganze Feld seines Bewußtseins von dieser einzigen Idee erfüllt: Ich könnte sterben, ich werde bald sterben; in den Begriffen des Existentialismus: Ich bin ein Sein zum Tode.

Die Stellung, die Venkatarama bezog, bestand nicht darin, daß er den Gedanken als lästig oder ungereimt abwies, wie man es normalerweise von diesem jungen Mann voller Lebenslust erwartet hätte. Nein, er griff die Herausforderung kühn auf, blickte der Möglichkeit seines Todes ins Auge und beschloß, sich mutig mit ihr auseinanderzusetzen. Um das Drama des Todes wirklichkeitsgetreuer durchzuspielen, legte er sich auf den Boden und hielt gewissermaßen eine Probe seines Hinscheidens. In seiner Vorstellung fühlte er , wie Bewegung und Leben sich schrittweise aus seinen Gliedern entfernten, die Todesstarre allmählich seine innersten Teile erreichte, wie Gesicht, Gehör, Tastsinn schwanden, sein Denken verschwommen und dunkel wurde, der Fluß seiner Gedanken stockte, sein Selbstbewußtsein schwand, wie es in dem Augenblick geschieht, in dem man in den Schlaf sinkt.

Genau in dem Augenblick, als dieses Bewußtsein schwand und ihn gewissermaßen verließ, machte sich das Bewußtsein des Seins mit einer überwältigenden, befreienden Klarheit und Kraft geltend. Alles ist verschwunden, alles ist entronnen - und trotzdem bin ich. Weder Leib noch Empfinden noch Denken noch Selbstbewußtsein im gewöhnlichen Sinne dieser Worte sind da, um das Erlebnis zu tragen, wohl aber das Erlebnis selbst, strahlend, blitzend, wie aus sich selber hervorquellend, in seiner eigenen, einzigartigen Klarheit leuchtend, von nichts gestützt und an nichts geknüpft: Ich bin. Das war ein reines Licht, blendend wie die Mittagssonne, und ließ nichts anderes mehr unterscheiden. Alles strahlte in seinem Glanz. Alles erschien nur mehr in seiner Strahlung; besser noch, nichts war mehr da außer einzig diese Strahlung. In diesem Entschwinden von allem war auch der Tod entschwunden. Was für ein Tod könnte je den erreichen, der einfachhin ist."

[Die Todesprobe von Sri Maharishi wird berichtet von Dom Le Saux, Indische Weisheit - Christliche Mystik, Luzern 1968, S. 53 f.]


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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