Jürgen Kuhlmann

Das Zeichen des Trafo

Himmel! Was ist das für ein rotes Licht? Jäh aus dem Schlaf gerissen, erbebe ich im Innersten. Bin ich in die Kapelle geraten? Aber die ist doch gegenüber! Oder, noch erschreckender, hat die allgewaltige Macht, die der Katholik im Tabernakel anbetet, sich gar in dieses Zimmer begeben, wo ich - bei einer Ordensgemeinschaft zu Gast - übernachte? Soll ich aufstehen und niederknien? Aber das wäre grotesk, Gott ist kein Despot, ein solch sklavisches Benehmen müßte ihn kränken. Überhaupt - langsam wache ich auf - kann der rote Schein dort kein ewiges Licht sein, er flackert kein bißchen. Ach so, das Radio-Netzteil zeigt seine Aktivität an, ich habe ja für die Frühmesse den Wecker gestellt.

Das kleine Erlebnis stimmt nachdenklich. Jenes Mysterium fascinosum et tremendum, das Heilige, welches vergangene Menschengeschlechter so gewaltig ergriffen hat, daß sie Tempel auftürmten und das Blut der Opfer strömen ließen, auch der Menschenopfer, jene uralt-wilde Übermacht von innen ist weder für moderne Heiden noch für Christen eine überwundene religiöse Etappe. Verirre dich nur ein wenig unter die Oberfläche des kritischen Verstandes, verlaß nur kurz die Mitte des Glaubens an Gottes Menschenfreundlichkeit, und schon zitterst du, wie nur irgendein Urmensch, bis in den Grund deiner Seele vor dem unheimlichen Rätsel, dessen Lösung niemand wissen kann.

Aber dem glauben, der es uns gelöst hat, weil er von dort stammt und dorthin heimgekehrt ist, um dort - immer bei uns zu sein. Bei der Kommunion am Morgen ist das nächtliche Grauen weg, nur die gott-menschliche Klarheit gilt: Das ist Mein Leib, und auch deines Leibes Leben, wenn du willst. Menschenopfer braucht es, auch das deine, du weißt, wie: Deine Lebenskraft gebührt immer gerade dem oder der anderen, in denen Ich dir begegne. Nicht unheimlich, sondern von Mensch zu Mensch. Nicht unverbindlich, sondern mit eben der Wucht des lebendigen Ganzen, an die dein nächtlicher Schrecken in der letzten Urlaubswoche dich heilsam erinnert hat. Fürchte dich nicht. Du bist mein Transformator, wo göttliche Energie Menschlichkeit schaffen will. Sind deine Kontakte blank?

August 1995

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Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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