Jürgen Kuhlmann
Nicht mehr Oben noch Unten
Die gewaltlos gewaltige Weihnachtsrevolution
Was heißt Weihnachten, wer ist uns Christus? - Arbeiter und Praktikant haben den gleichen fleckigen Blaumann an und die Hände gleich schmutzig, aber der Arbeiter kommt von unten und bleibt dort, der Praktikant - Sohn des Direktors - kommt von oben, gehört die ganze Zeit über eigentlich nach oben und geht auch wieder nach oben, um bald wiederzukommen im Maßanzug und sich an den Chefschreibtisch zu setzen. Der Arbeiter, jetzt sein Kollege, tut gut daran, stets an diesen Fortgang der Geschichte zu denken. Er kennt das Leben, hat vom Vater und Großvater einiges über die Gebräuche "da oben" gehört. Wird er hinschmelzen, seine Reserve aufgeben, wenn der Praktikant von Solidarität redet: du und ich, wir gehören auf dieselbe Seite, verlaß dich drauf?
Zwei Christologien
Seien wir ehrlich: die "Christologie von oben" gilt weithin unbefragt als der christliche Glaube, bei Gläubigen und Ungläubigen. Steht es nicht genauso im Evangelium? "Ihr seid von unten, ich bin von oben; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt" (Joh 8,23). So spricht der unerschaffene Sohn des Allmächtigen zu uns Geschöpfen; die Theologie wird die Distanz später verdeutlichen: Er kommt aus der Unendlichkeit der Gottheit, wir aus dem Nichts. Kann, soll, darf noch so große Güte des Menschgewordenen uns über diesen Abgrund je hinüberhelfen?
Freilich kennt man auch die Gegenwahrheit. 1958 schreibt Aloys Grillmeier, daß man mit einer "Spannung zu rechnen hat, mit einer Christologie ,von oben' und einer solchen ,von unten'" (Lexikon für Theologie und Kirche, Bd 2, Spalte 1164). Die von unten wird dann allerdings derart rätselhaft formuliert, daß jener Arbeiter, läse er sie, bestimmt nicht auf den Gedanken käme, der Praktikant könnte etwa wirklich zu ihm gehören, tatsächlich keiner von "denen da oben" sein.
Deutlich wird die Christologie von unten zum Beispiel am Anfang des Römerbriefes, wo Paulus sich wahrscheinlich einer vorgeprägten Formel bedient Es heißt da über Jesus: "Geworden aus dem Samen Davids dem Fleische nach, eingesetzt als Sohn Gottes in Macht dem Geiste der Heiligkeit nach seit der Auferstehung der Toten." Diese Deutung spricht dem Arbeiter schon eher aus der Seele. Daß einer von unten es zu Rang und Einfluß bringt, ist eine Freudenbotschaft. Wohl kennt man Fälle, wo ein solcher Emporkömmling gegen seine früheren Genossen noch rücksichtsloser vorging als die geborenen Herren. Von einem wie Jesus ist derartiger Verrat gewiß nicht zu erwarten. Und doch hat der Zwiespalt zwischen dem geschichtlichen Jesus und dem Christus des Glaubens etwas Erschreckendes.
Jesus sagt: wenn ihr nur die grüßt, die euch grüßen, was tut ihr da Besonderes? - Christus grüßt nur, die ihn grüßen, erscheint allein seinen Freunden. Jesus verurteilt nicht die Ehebrecherin, betet für seine Mörder Christus droht: wer nicht glaubt, wird verdammt werden. Jesus zieht einen Strich zwischen Gott und dem Kaiser - Christus herrscht (auf dem Apsismosaik) als Himmelskaiser. Hat etwa auch die allerwahrste Revolution die Positionen nicht geändert, nur vertauscht? Dieses Problem stellen wir zurück und fragen erst nach dem Verhältnis der zwei Christologien. Es ist richtig, hier von Spannung zu sprechen, denn beide Pole sind verbindlich. Was soll der Glaubende aber mit solcher Lehre anfangen? Ist es vorstellbar, daß jemand zugleich von unten und von oben ist? Johann Straußens "Zigeunerbaron" scheint eine solche Geschichte zu erzählen; erst am Ende kommt auf, daß der schlichte Held in Wahrheit adligen Blutes ist Von dem hat er jedoch - das ist die Pointe - zur Zeit seiner Niedrigkeit gerade nichts gewußt, während Jesu höchste Abkunft schon bei der Empfängnis vom Engel verkündet wird, so daß die arme Krippe keinen täuscht, ihn selbst auch nicht: ich bin von oben. Und dennoch soll die Christologie von unten gleichfalls wahr sein. Wie kommt schlichter Glaube (schlicht glaubt ja, oder gar nicht, auch der Professor!) mit diesem Zwiespalt zurecht?
Das gesellschaftliche Mißverständnis
Fragen gibt es, die lassen sich nur so beantworten, daß man sie als falsche Fragen entlarvt Berühmtes Beispiel: Haben Sie endlich aufgehört, Ihre Frau zu schlagen, ja oder nein? Diese Frage unterstellt in jedem Fall Unrichtiges und ist deshalb falsch. So ähnlich ist auch das Problem, ob Christus von oben oder von unten sei, eine falsche Frage. Ihre Formulierung unterstellt etwas, was nicht stimmt, nämlich die Anwendbarkeit dieser soziologischen Begriffe auf die Wirklichkeit im Ganzen. Gott ist jedoch die Liebe, und für die Liebe gilt kein Oben noch Unten. Genau gesprochen, ist weder die Christologie von oben noch die von unten die Wahrheit des Glaubens; beide weisen vielmehr von verschiedenen Seiten auf diese Wahrheit nur hin. Erst wenn die Spannung beider Pole das Bewußtsein so prägt;. daß (durch den offenen Widerspruch der gesellschaftlich unvereinbaren Gegensätze) der gesamte gesellschaftliche Verständnishorizont als irrig fortgeräumt wird, erst dann sind wir der göttlichen Wahrheit nahe.
Das weltliche Unten/Oben-Schema gleicht einem Doppeltank :für Wasserstoff und Sauerstoff. Solange beide Elemente getrennt bleiben, müßte der Astronaut verdursten; werden sie aber vermischt und angezündet, so ergibt ihre innige Verbindung etwas wesenhaft Neues: Energie für die Rakete und für den Menschen Wasser. Die leeren Tanks räumt er dann beiseite, im Augenblick braucht er sie nicht mehr. Später muß er sie aber wieder füllen; denn nur je und je als Ereignis, nicht aber als Dauerzustand vollzieht sich die Verbindung. Ähnlich ist der Gegensatz beider Christologien zwar wesentlich, muß sich aber immer wieder neu zum Inhalt eines einheitlichen Glaubens wandeln. Was also heißt es für uns, daß Christus von unten und von oben ist?
Christus von unten
Beginnen wir mit der Wahrheit des Unten. Jesus ist als Lebewesen, als Mensch, als Jude, eine Frucht unserer Erde. Er hatte eine bestimmte Blutgruppe, sprach die Sprache seines Volkes im Dialekt der Leute von Nazaret. Er teilte wohl auch - vor der Episode mit der kananäischen Frau - den Nationalstolz seines Volkes.- hätte er die Fremde sonst mit einer Hündin verglichen? Die Hunde bekämen aber doch die Brocken unter dem Tisch, antwortet sie; da läßt Jesus sich auf die Begegnung ein, sprengt die überkommene Enge und hilft der Ausländerin. Hunger und Durst hat er gekannt, Trauer über die Blindheit der Vielen, Todesangst, Gottverlassenheit. Wie wäre er nicht einer von uns? "Wahrer Mensch" nennt ihn das Dogma. Anders als frühere Christen wissen wir heute, wie das Leben sich aus niedrigsten Anfängen langsam zur Menschheit emporentwickelt hat. Erbe des biologischen Werdens ist jeder Mensch: auch Jesus stammt von unten.
Noch radikaler erscheint dieser Satz im Licht der Astronomie. Es gibt überhaupt kein Oben. Irgendwo weitab vom Erdstäubchen haben andere Planeten in der Wärme fremder Sonnen vielleicht Kulturen hervorgebracht, die uns immer unbekannt bleiben. Mögen etliche auch höher sein, sind sie für uns trotzdem kein Oben; denn wir verdanken ihnen nichts, am wenigsten den Menschen Jesus. Kein Sternkind war er, nicht als Weltraumtourist vom Himmel hoch kam er her zu uns Eingeborenen, Erdling ist er wie wir alle. Auch wenn unser frommes Kindergefühl sich kränkt, hat diese Tatsachenwahrheit Anspruch darauf, daß wir sie ernstnehmen. Einer von uns ist Jesus, die schönste Blüte des Planeten Terra, Sproß ihrer Amöben, Flughörnchen und Raubaffen.
Warum sagt er dann aber: ich bin von oben, nicht von dieser Welt? Gibt es über die Handgreiflichkeit der Tatsachen hinaus einen ganz anderen Wahrheitsbereich, in dem eine solche Selbstaussage stimmen kann?
Christus von oben
Dieser Überzeugung ist nicht allein das Christentum, nicht nur jede andere Religion oder geistliche Tradition der Menschheit, sondern überhaupt jeder, dem die Frage nach dem Sinn des Ganzen nicht von vornherein sinnlos, das heißt unstellbar ist. Kein lebendiger Mensch hat sich je mit wissenschaftlichen Wahrheiten begnügt. Sogar wer behauptet, daß es keine anderen gebe, überschreitet damit ihren Bereich; denn die Sinnlosigkeit des Ganzen ist keine feststellbare Tatsache, sondern eines (Irr-)Glaubens Inhalt. Seit es Menschen gibt, seit Lebewesen den Begriff "Alles" denken können, seither ist jegliches Wirkliche nicht nur die endliche Antwort auf eine endliche Frage, sondern auch ein Ausdruck der unendlichen Frage nach dem Sinn des Ganzen. Die Antwort auf diese Frage ist nicht mehr im selben Sinn "von dieser Welt" wie die Frage, auch wenn sie natürlich, um uns verständlich zu sein, in dieser Welt aufklingen muß.
Wir Christen glauben: "Christus das Ja" (2 Kor 1,19) ist diese Antwort. Ja, dein und mein Leben hat Sinn, ist nicht nur verwehendes Teilchen der kosmischen Staubwolke, sondern Szene im Film, Farbtupfer im Gemälde, Ton in der Sinfonie des Ganzen und deshalb wert, möglichst intensiv gelebt zu werden. Jeder von uns ist diese Sinnfrage und also von unten; in Christus hat die irdische Frage ihre äußerste Schärfe erreicht und zugleich ihre Antwort gefunden, deshalb ist er von unten und von oben. Ein Gleichnis aus der Bio-Informatik verdeutliche den Gegensatz. In meinem Gehirn sind zahllose Signale gespeichert, die sich auf Teilfunktionen meiner selbst beziehen. Sie alle sind "von unten", weil sie nur einen umschränkten Sinn haben, zum Beispiel eine Tastzelle meiner rechten Daumenhaut bedeuten oder das Wort "Löwenzahn". Ein solches Signal aber gibt es, das steht gleichfalls für ein bestimmtes, von anderen Wörtern abgegrenztes Wort, ist also auch von unten, aus Gehirnmaterial konstruiert. Zugleich ist es aber von oben; denn es bedeutet jenes einfache, intensive Ganze, welches alle Teilfunktionen zusammenfaßt, innerhalb dessen sie überhaupt nur da sind. Ich meine das Wort "ich". Ähnlich wie es (seinem Sein nach) im Gehirn neben allen übrigen gespeichert ist und doch (seinem Sinn nach) sie alle zusammenhält, so steht Christus als ein anderer neben uns und kann doch sagen: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Fürchtet euch nicht, ich bin ich. Trotz eurer Winzigkeit seid unverzagt, kein Element des Ganzen braucht für sich allein sinnvoll zu sein, die Antwort auf eure Sinnfrage bin ICH.
Nicht nur in mir aber, sondern auch in euch! ICH bin das Licht der Welt: ihr seid das Licht der Welt. Diese geistliche Erfahrung kann bei unserem Gleichnis jeder leicht machen; ich (der vom Wort "ich" Bedeutete) bin auch im Daumen ich selbst und überhaupt in jeder meiner Zellen. So ist das ewige Wort ("ICH") in Jesus auf besondere Weise, weil dieser Mensch außer seiner Christusbedeutung nichts Eigenes war (keine geschaffene Person). Derselbe Christus lebt aber nach dem Maße unserer Lebendigkeit auch in uns: "Ich lebe, aber nicht mehr ich, Christus lebt in mir" (Gal 2,20). Oder wie es der Cherubinische Wandersmann sagt: "Ach, könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden, Gott würde noch einmal ein Kind auf dieser Erden."
Demut heißt nicht Unterwürfigkeit
Nichts hat der Kern des Weihnachtsgeheimnisses also mit weltlichem Oben und gesellschaftlichem Unten zu tun; unser Anfangsgleichnis von Arbeiter und Praktikant ist durch und durch falsch, paßt nicht auf den Inhalt des Glaubens. Gottes Herrschaft und Herrlichkeit darf nicht in der Verlängerung irdischer Obrigkeiten gedacht werden, geschöpfliche Demut nicht als Extremfall sozialer Knechtschaft. Dieser Zusammenhang führt total in die Irre. "So sollt ihr beten: Vater unser!" Und eben nicht funktionieren: "Herr Direktor!" Und auch "Vater" nicht rufen wie der rivalitätsverwirrte Halbwüchsige, sondern ("Abba!"), wie das kleine Kind sich zu seinem Papi gehörig und von ihm geliebt weiß. Zwischen Gottvertrauen und Selbstvertrauen ist dann kein Gegensatz, wenn ich nicht auf mein berechnendes Ich vertraue, wohl aber auf das wahre Selbst, das "nicht aus dem Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott gezeugt" ist (Joh 1,13). Ausdrücklich sagt der Evangelist hier, daß auch wir von oben sein dürfen; im nächsten Satz steht, daß auch Christus von unten sein will: "Und das Wort ist Fleisch geworden."
Wir Menschen sind immer versucht, uns knechtisch entweder vor Gott zu fürchten oder gegen ihn aufzulehnen, weil wir - in der Welt vielfach geduckt - die Rede von oben und unten automatisch als gesellschaftliche mißverstehen. Wahrscheinlich kann eine Volksreligion nie ohne diesen falschen Ton auskommen, zu viele haben, seit Konstantin, dem Kaiser zu Gefallen bei ihr mitgemacht und Gott folglich als eine Art Überkaiser verehrt. Es ist aber ein wichtiger Tag im Leben eines Christen, wenn ihm aufgeht, daß Gott gerade nicht die höchste Instanz des universalen Apparates sein will, sondern, weitab von Oben und Unten, die Liebe des Ganzen: innig bergend, total fordernd. "Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen: Ihr nicht so!" (Lk 22,26)
Die flackernde Vision aus Galiläa
Die Kirchengeschichte, bis hin zur aktuellen, gegen dieses Prinzip zu halten tut weh. Einer der größten Denker war Alfred N. Whitehead; mit 66 Jahren urteilte er 1928: "Als die westliche Welt das Christentum annahm, siegte der Kaiser; und den überkommenen Text westlicher Theologie gaben seine Advokaten heraus. Das Gesetzbuch des Justinian und die Theologie des Justinian - beideBände drücken eine einzige Bewegung des Menschengeistes aus. Die kurze galiläische Vision von Demut flackerte unsicher durch die Jahrhunderte. In der offiziellen Formulierung der Religion hat sie die triviale Form angenommen, als hätten die Juden ein Mißverständnis über ihren Messias gehegt. Der tiefere Götzendienst aber, sich Gott nach dem Bilde der ägyptischen, persischen und römischen Herrscher zu modellieren, er wurde beibehalten. Die Kirche gab Gott die Attribute, die ausschließlich dem Kaiser gehörten" (Process and Reality, 520/342).
Das ist ebenso hart wie wahr. Doch fürchte ich: eine äußere Änderung, die mit der herrschenden Irrlehre des Herr-Gotts aufräumte, kann es institutionell nicht geben. Es wird dabei bleiben müssen, daß die galiläische Vision durch die Zeiten flackert. Wem sie sich gezeigt hat, der hüte die Flamme und reiche sie weiter. In alten Trambahnen gibt es noch den Schaffnersitz, obwohl längst schon kein Schaffner mehr mitfährt. Zuweilen sitzt dort ein Ausländerkind und markiert den großen Herrn, lachend, weil ja jeder weiß, es ist ein Spiel. Die Kameraden verneigen sich, voller Freude, daß einer der Ihren dort oben ist und dadurch offenbart, daß die Gewalt wenigstens dieser Obrigkeit vorbei ist. -
Der schneidende Widerspruch zwischen Jesu Demut und Christi Herrschaft läßt sich, glaube ich, nur so auflösen: es ist die Demut selbst, die im Grunde herrscht. "Jesus ist der Herr", dieses ehrwürdige Bekenntnis hat zuerst zu den Martyrien in der Arena geführt, später zu Tausenden von Scheiterhaufen und Millionen gequälter Gewissen. Sollte sein wahrer Sinn nicht eher im gelösten Kinderspiel aufscheinen als im blutigen Ernst der Großen?
Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" vom 11. Dezember 1983
2003 wurde das Thema verdeutlicht: Warum Gott nicht herablassend ist sondern immer schon unten bei uns.
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