Jürgen Kuhlmann
Ein Stern des Südens
Der große Gedenktag rückt näher. Bald ist es ein halbes Jahrtausend her, daß eines Tages jemand in Amerika den Kolumbus entdeckte. Hätten unsere Ahnen, seufzt ein heutiger Indianer, die Eindringlinge doch bloß sofort wieder zurückgeschickt! Am Geschehenen ist aber nichts zu ändern, nur aus ihm lernen sollen wir.
Von Indiogruppen stammen die folgenden Sätze; blitzartig erleuchten sie eine Finsternis, die vielen überhaupt noch nicht bewußt ist: "Die Indios heißen die Ärmsten der Armen. Den Armen hat immer die Vorliebe der Kirche gegolten. Der Andere aber, der Andersdenkende oder kulturell Andere wurde von ihr nie angenommen; er war und ist ein Feind der Kirche. So muß zur Option für den Armen heute die Option für den Anderen kommen."
Das ist eine starke Formel. Fast zweitausend Jahre ist das Christentum schon alt und findet erst jetzt, in Lateinamerika, diesen Begriff, der doch aus seinem Wesen notwendig folgt. Er reinigt die "Nächstenliebe" von heimlichem Egoismus. Ich will nur dein Bestes, sagte zu Amerika die europäische Christenheit und nahm es sich: Gold, Land, Blut. Doch ist dies Thema zu gewaltig für eine Glosse.
Frage sich aber jeder selbst, wie die geforderte Vorliebe für den Anderen sich im eigenen Alltag verwirklichen soll. Behandeln Eltern ihr Kind als ein Stück von sich selbst oder als unableitbar Ursprünglich-Neues? Läßt die Vorgesetzte ihren Mitarbeiter spüren, daß seine Sicht eine gleichwertige Blüte ist, auch wenn sie wegen der Enge am Zweig nicht zur Frucht reifen kann?
Dein Anderer war ich, und du hast meine Würde geachtet: Wenn das Evangelium stimmt - und es stimmt - dann ist dies die Prüflampe für den ewigen Sinnstrom unserer Tage. Wo jemand wirklich lebt, da leuchtet sie auf.
Dezember 1991
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