Jürgen Kuhlmann
WAS IST WAHRHEIT?
Überlegungen zur Unfehlbarkeit
Zwei Probleme:
1) a) Abgesehen von leicht aufdeckbaren Fehlschlüssen und Verwechslungen - Irrtümern an der Oberfläche der Dinge - sowie ausgeschlossen eine ausdrückliche Lüge, hat jeder Mensch recht, wenn er von etwas überzeugt ist und dafür mit seiner Person einsteht. Hätte nicht solcherart jeder immer recht, dann hätte nie jemand recht; denn eben das ist Wahrheit: daß die Wirklichkeit in einem wahrhaftigen Menschen sich ausspricht. Nicht Übereinstimmung von Sätzen mit irgendwelchen Dingen ist Wahrheit, sondern Sprache des Seins in uns.
b) Es gibt die Wahrheit in der Kirche, der gegenüber jeglicher Häretiker tatsächlich nicht recht hat; sondern, auch wenn er gutgläubig ist, also nicht lügt, ist er doch der Kirche gegenüber im Unrecht.
2 a) Die Kirche ist da, nicht zu herrschen, sondern zu dienen.
b) Nun gibt es aber keine größere Macht als den festen und sicheren Besitz der Wahrheit. Wenn wir als Glieder der Kirche also für uns diesen Besitz bis hin zur Unfehlbarkeit des Papstes in Anspruch nehmen, so herrschen wir doch, und zwar in einem Punkt, wo der Mensch am empfindlichsten ist. Nicht mehr sind wir, wie die anderen, suchende, pilgernde Menschen, sondern wir haben gefunden und stehen mit verschränkten Armen in der Tür, während sie draußen fronen. Darum sind auch die Protestanten so böse auf unsere Unfehlbarkeit, von den noch Ärmeren an Wahrheit gar nicht zu reden.
Lösungsversuch: Angenommen, die beiden Probleme hängen zusammen, so daß eines die Lösung des anderen enthält, dann sieht das Ergebnis vielleicht etwa so aus:
Wahrheitserkenntnis ist wesentlich Sehen und Hören. Für den Sohn Gottes ist es beides gleichermaßen unendlich, er hört, indem er klar seine eigene Natur sieht, und sein Sehen ist ganz und gar nur Hören auf den Vater. So auch für uns in der Ewigkeit. Inzwischen aber tritt beides auseinander: der Rationalist meint zu sehen, ohne hören zu müssen, und der Traditionalist schließt die Augen und hört nur zu; dieser Gegensatz ist ein Anzeichen dafür, daß Sehen und Hören für uns hier nicht dasselbe ist und daß keines von beiden allein das Erkennen ausmacht.
Wahrheit ist also entweder gesehene oder gehörte. Und jede von uns wirklich besessene, d.h. ausgesprochene Erkenntnis enthält beide Arten von Wahrheit: Denn ein Satz hat für mich keinen Sinn, wenn ich nicht irgendwie verstehe, also sehe, was ich mit ihm sage. Und andererseits bin ich nicht allein aufgewachsen; jede Faser meines geistigen Lebens, meiner Sprache und Denkrichtungen habe ich irgend jemandem zu verdanken, von dem ich sie gehört habe.
Es ist nun leicht einzusehen, wieso jeder Mensch recht hat, wenn er etwas überzeugt sagt: was er sieht, darin hat er recht. Und darin gibt es auch keinen Fortschritt; denn das Sehen ist das Ziel der ganzen Wahrheitsbewegung, über Sprechen und Hören hin. - Damit sind schon manche Probleme gelöst: denn wie oft sieht von zwei Streitenden jeder ein Richtiges und nur darum kommen sie nicht zusammen, weil sie verschiedene Sprachen sprechen, weil die nämlichen Wörter jeweils verschiedene Begriffe meinen. Doch sind mit diesem Schritt keineswegs alle Schwierigkeiten ausgeräumt: denn nie wird die Kirche zugeben, ein Anathema sei nur Sprachregelung in diesem billigen Sinn. Wohl scheint mir zwar dieses unumgreifbare Vielerlei der verschiedenen Seiten der einen gewaltigen Wahrheit das letzte Wort zu sein, wo es um die gesehene, also vom Einzelnen besessene Wahrheit geht:~ was einer sieht, wird dadurch nicht falsch, daß er es unglücklich und mißverständlich ausdrückt. Wir sahen aber schon, daß keiner zum Sehen ohne Hören kommt: die Brücke aber vom Sehen des A zum Sehen des B ist, vor dem Hören des B, das Sprechen des A, das heißt die Sprache; und zwar jetzt nicht als Auslegung des Seins gefaßt, sondern als Mitteilungsbahn.
Bisher hatten wir von der Lüge abgesehen. Jetzt geht es nicht mehr. Denn die Lüge ist in der Welt. Die Lüge besteht (im Bereich unserer Frage!) darin, etwas vor anderen (einschließlich sich selbst als anderem) als gesehen auszugeben, was man nicht gesehen hat (sei es, daß man das Gegenteil, sei es, daß man nichts gesehen hat). Bei nichts, was wir hören, können wir sicher sein, keine Lüge zu hören. Denn, über die Schwachheit des Einzelnen hinaus, verderben die häufigen Lügen die Sprache selbst, und folglich auch die des besten Menschen; denn jeder übermittelt ja in dem, was er sagt, nicht nur, was er gesehen hat, sondern jeweils dies Gesehene, durchtränkt mit dem, was er gehört und angenommen hat, ohne es bisher nachprüfen zu können. In diesem Erbe seiner geistigen Ahnen aber schleppt er tatsächlich auch eine Menge Lügen mit; denn all seine Ahnen waren, wie wir auch, mehr oder minder verlogen. Dies ist also unsere Lage: Jeder von uns sieht ein bißchen etwas von der Wirklichkeit; dafür kann, wird und muß er einstehen. Um es jedoch anderen zu zeigen, muß er sprechen und um selbst weiter zu kommen, muß er den anderen zuhören. So gleichberechtigt nun alle Menschen sind, was die gesehene Wahrheit angeht so wenig gilt diese Gleichberechtigung für die gesprochene und gehörte Wahrheit: denn hier kommt fremde Lüge ins Spiel und ändert alles gründlich.
Noch weit bedeutsamer ist aber: es kommt auch die Wahrheit von oben ins Spiel und ändert alles noch gründlicher. Einen Ort gibt es auf Erden, da ward die Wahrheit ohne Lüge gesprochen, weil die Wahrheit selber dort sprach, zuerst zu uns und dann unter uns. Immer schon hat alle Menschen das WORT erleuchtet und sie sahen viel und Großes in diesem Licht. Aber nie sagte es einer ohne Lüge, mindestens nicht ohne die seiner Väter. Für Jesus aber war die Sprache von Gott Jahrhunderte lang sorgsam gereinigt worden und er selbst war die Wahrheit selbst und der Tod jeder Lüge. Wir alle nun kommen nicht zum Sehen ohne Hören. Wohlan, wenn wir auf Ihn hören, hören wir die lautere Wahrheit. Verwechseln wir nun nicht wieder Sehen und Hören! Natürlich, was wir heraushören, d.h. darin verstehen, d.h. sehen, das kann, sobald wir es uns vorsagen, bereits wieder von unserer und unserer Väter Lüge verschmutzt sein. Was wir aber zunächst hören, das ist die lautere Wahrheit.
Auftrag und Verheißung der Kirche ist es, diese wahre Sprache für jeden, der hören möchte, rein und bereit zu halten. Dies ist eine ungeheure Berufung für uns, aber nicht das wünscht sich unser Fleisch! Wir möchten so gern den anderen vorrühmen, wir sähen die Wahrheit und sie hätten sie von uns, die sie sähen, so zu übernehmen, wie wir sie sehen: Das aber ist Tyrannei und Sünde. Wir können keineswegs sicher sein, daß wir einzelnen DER WAHRHEIT näher sind, sie besser sehen als unser Partner: denn viele Seiten hat die Wahrheit. Und, hat Jesus auch keine Lüge gebracht und gilt es für uns, Seine Sprache der verlogenen Welt zu bewahren und in die Ohren zu schreien: so gibt es doch vieles, was er uns noch nicht sagen konnte, was Er aber vielleicht jemandem draußen - nicht historisch sagt aber - zeigt, und das zu einer Zeit, wo die drinnen es noch nicht tragen können! Wenn also der Herr Prälat den jungen glühenden Kommunisten belehrt, dann darf er sicher sein, seinen Auftrag zu erfüllen, die eine, so bitter notwendige Wahrheits-Sprache auf Erden zu erhalten: doch muß er sich hüten, zu meinen, DER WAHRHEIT näher zu sein als der andere, oder auch, die andere Wahrheit schon erfaßt zu haben. Freilich gilt dasselbe auch mit umgekehrtem Akzent: Ein besoffener katholischer Matrose, der von Christus radebrecht, hat mehr recht [im christlichen Akt des Großen Welttheaters, versteht sich jetzt, 2001] als ein unschuldiges Muselkind, das uns von Mohammed vorschwärmt - mag dieses in seiner Treu-herzigkeit tausendmal mehr von der Wahrheit erfaßt sein als jener. Ähnliches wäre zu sagen zum Verhältnis: wohlwollender abständiger Philosoph / wohlmeinender inständiger Kaplan.
Sprich also die dir anvertrauten Worte, vergiß aber nicht, daß dein Herr größer ist als du.
Unterscheiden wir also abschließend klar zwei Arten von Unfehlbarkeit: Unfehlbar ist jeder Ehrliche im Aussprechen von Gesehenem, mag ihn selbst sein Bruder schon nicht mehr verstehen. Ganz anders unfehlbar, nicht im Besitz, sondern im Geben, ist die Kirche, weil sie die Sprache bewahrt, in der Gott selbst uns erzählt, was Er in der Ewigkeit gesehen und uns bereitet hat. Geht in das Schlagwort: "Lehramt heißt autoritative Sprachregelung" der Unterschied zwischen sicher wahrer und sicher mehr oder minder verlogener Sprache ein, dann dürfte dieser Satz katholisch annehmbar sein.
Extremfall: Häretiker mit wahrer Sicht wider blind hörenden Papst. Dann hat der Ketzer recht (er sieht) und der Papst nicht (er sieht nichts). Und doch spricht der Papst unfehlbar und der Ketzer [will er katholisch bleiben (2001)] muß sich unterwerfen: seine Stunde ist noch nicht da; daß aber die wahre Sprache bleibe, zählt mehr, als daß meine Wahrheit zur Sprache kommt.
Die Haltung der Kirche muß sein: Festigkeit im Bewahren des Gehörten, Demut vor der eigenen Blindheit und Ehrfurcht vor dem, was die anderen sehen.
Rom, Februar 1963
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