Jürgen Kuhlmann

Über das Warten

Werden Sie nicht nervös, wurde Einstein einmal gefragt, wenn Ihre Studenten dauernd auf die Uhr schauen ? O nein, erwiderte der Professor, das macht mir nichts. Nur wenn ich sehe, wie einer sie ans Ohr hält, ob sie überhaupt noch geht, dann werde ich etwas kribbelig.

Wie viele Lebensstunden sind schon ungeduldig verwartet worden! Wann ist die Schule endlich aus, wann die Arbeitszeit vorbei, wann werde ich aus dem Krankenhaus entlassen, wann kommt sie, wann läßt er mich bloß in Ruhe usw.? Viel müssen die Menschen warten.

Neulich bekam ich beim Warten ein schlechtes Gewissen. Das Leben ist so kurz, fiel mir ein, und eine jede Stunde ist unwiederbringlich. Entwerte, verschludere ich durch das Warten nicht die kostbare Zeit? Wenn ich wünsche, die nächsten zwei Stunden möchten doch schon vorbei sein: töte ich da nicht, soviel an mir liegt, einen Teil des einzigen Lebens, das ich habe? Kann ich während dieser zwei Stunden nicht auch atmen, mich über meine Gesundheit und die sonnige Stadt vor dem Fenster freuen, vielleicht sogar über die angenehme Arbeit? Ich könnte ja auch in einem KZ Steine schleppen müssen! Darf ich also überhaupt so ungeduldig warten wie ich es tue? Ist Warten nicht, insofern, unmoralisch, gewissermaßen ein partieller Selbstmord?

So redete die Stimme der Vernunft mir zu; doch obwohl ich ihr recht geben mußte, wünschte ich trotzdem weiterhin, die zwei Stunden möchten doch schon um sein. Wohl aber war mir nicht dabei.

Bis mir auf einmal tröstlich die Wahrheit aufging: Jawohl, ich darf warten. Nicht nur über die Gegenwart darf ich mich freuen, sondern auch auf die Zukunft. Natürlich kostet das ein paar Stunden, aber was liegt daran? Ich bin nicht arm an Zeit. Weil ich an Ostern glaube, gibt es für mich kein Vorbei. Jede scheinbar endgültig verronnene Stunde ist zur Auferstehung bestimmt, und DANN steht mir nicht bloß die Summe des eigenen Lebens offen, sondern dank der Liebeseinheit mit meinen Mitgeschöpfen auch alles übrige je auf Erden oder sonstwo gelebte Dasein, vor allem aber Gottes unerschöpfliche Ewigkeit.

Auf diese große Zukunft darf ich mich zuweilen freuen. Wer solche Vorfreude verwirft, weil sie nur Ausweichen und Flucht sei, dem ist zweierlei zu antworten: 1) Gegen die Idee der Flucht kann niemand etwas haben außer einem Gefängniswärter (C.S.Lewis).
2) Die Zuversicht, daß alles sich einmal als Teilchen eines unverlierbaren totalen Sinnes zeigen wird, läßt den Christen auch noch in Situationen durchhalten, wo der blinde Mut des Ungläubigen nur bei sehr viel stärkerem menschlichen Format die drohende Verzweiflung überwindet. Weil die Freude auf das ewige Leben uns diese Zuversicht stärkt, darum weicht, wer sich ihr zeitweilig überläßt, vor den Anforderungen dieser Zeit nicht aus, sondern stärkt sich für sie.

Warten wir also weiter, wenn uns danach zumute ist; nicht blind aber, sondern bei aller erlaubten Ungeduld doch immer mit der wenigstens halbbewußten Erinnerung, daß jede kleine Zukunft ein Sinnbild der einen großen ist, und demnach das Warten auf irgendein irdisches Vorbei unsere Hoffnung auf das Schwinden aller Vorläufigkeit und Isolierung bedeutet.

Und wenn die Weisheit dieser Welt uns das ungeduldige Warten mit dem Hinweis auf die Kürze des Lebens vermiesen will, dann stellen wir uns ruhig, gegen sie, auf die Seite der unzähligen gewöhnlichen, unweisen Menschen, die im Lauf der Jahrhunderttausende schon, gelassen oder mit Herzklopfen, gewartet haben. Denn wie so oft ist die Schlauheit der Schlauen auch hier nichts weiter als ängstlicher Geiz. Wer auf Gottes Aufstrahlen wartet, soll die Zeit zwar nutzen, so gut er kann - gewaltsam aus jedem Zeitkrümel möglichst viel Lebensinhalt herauszupressen brauchen wir nicht.

"Noch eine kleine Weile", und wir dürfen sehen, was wir jetzt glauben: auch wir werden schon mit herzlicher Ungeduld erwartet.

September 1974 (nach wenigen Tagen in einem neuen Büro-Job)


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sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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