Jürgen Kuhlmann

Dem Himmel verzeihen ?

Zu einem abgründigen Satz von Simone Weil

"Am Grunde jeder Sünde liegt Zorn auf Gott. Wenn wir Gott sein Verbrechen gegen uns verzeihen, dass er uns zu endlichen Geschöpfen gemacht hat, wird er uns unser Verbrechen gegen ihn verzeihen, dass wir endliche Geschöpfe sind" [Simone Weil, La connaissance surnaturelle (Paris 1950), 40].

Gegen diesen extremen Satz der Mystikerin wendet (in einem Brief an mich) Philipp Stoellger ein: "Ist es ein Verbrechen Gottes, uns zu endlichen Geschöpfen gemacht zu haben - oder ist nicht die Endlichkeit auch eine gnädige Entlastung von den Unendlichkeitsprätentionen des Menschen? Daher wäre das auch einer Vergebung weder bedürftig noch fähig, oder?" Das stimmt natürlich. Versuchen wir, beide Facetten der einen Heilswahrheit "stereo" zu vernehmen.

Dass wir endliche Geschöpfe sind, ist gut für uns Menschen. Keiner muss alles können, allein die Last des Ganzen tragen. Wir dürfen verschieden sein, mit den eigenen Gaben den anderen dienen und so im Ganzen leben als gesunde Glieder des einen Leibes, in dessen "Haupt" (gemeint ist: in dessen Ich; den Begriff "das Ich" gab es im Altertum noch nicht), nämlich in Christus, wir wahrhaft "einer" sind (Gal 3,28). Dem stimmt Simone Weil zu, fährt sie doch fort: "Wir sind von der Vergangenheit befreit, wenn wir es annehmen, Geschöpfe zu sein." Die nach Gottes gutem Willen geschaffene Verschiedenheit vieler Glieder gelte uns als der eine Pol der Stereo-Lebenswahrheit. Eine seiner geschichtlichen Wirkungen ist unser Europa, welches individuelle Besonderheit hochschätzt, Diskriminierung verurteilt und jeden Unendlichkeitswahn auslacht.

Sobald dieser Pol aber mono auftritt, von der ihn ausbalancierenden Großen Einheit des Sinnleibes aller Sinnorgane nicht nur methodisch abstrahiert sondern ausdrücklich nichts wissen will, verkehrt er sich in den westlichen Unsinn individualistischer Lüge. Ein solches endliches Wesen durchschaut sich irgendwann als nichtigen Hobelspan der Evolution, sinnlos unterwegs zwischen Anfangsschleim und Enddreck, und müsste seinen Schöpfer grimmig verfluchen, käme es nicht entweder - ungläubig - auf Stendhals Einfall ("Gottes einzige Entschuldigung ist, dass es ihn nicht gibt") oder - gläubig - zur Selbst-Freude eines Sinnorgans, das sich bei aller Winzigkeit doch als "Mitinhaber" des lebendigen Großen Ganzen weiß (2 Petr 1,4), ähnlich wie meinen dies schreibenden sterblichen Fingern meine unvergängliche Menschenwürde zusteht.

Den Glaubenssprung aus einer durch Stendhals Sarkasmus erledigten kindlichen Gläubigkeit, weg von titanischem Größenwahn hinein in den noch größeren Stolz eines in Gott geschaffenen und erlösten SELBST: nichts anderes meint Simone Weils paradoxer Begriff wechselseitiger Verzeihung von Kreatur und Gott. Hätte nämlich (was nie der Fall war, denn Gott ist Liebe!) ein großer Jemand uns zu nur endlichen Wesen gemacht, dann wäre er unserer Verzeihung tatsächlich bedürftig, wie auch die göttliche einem Geschöpf nottut, das leider immer wieder darauf besteht, nur es selbst zu sein, nicht Mit-Glied der anderen Glieder im Gott-menschlichen Ganzen.

Februar 2007


Der Satz steht im Zusammenhang eines Simone-Weil-Essays und einer Vater-Unser-Predigt.


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