Jürgen Kuhlmann
Besessenheit in Mittelfranken
Drei in der Stadt. A fragt B "wo stehst du?" C (zu Besuch aus Schwarzafrika) wundert sich. B antwortet: "Drüben im Parkhaus steh ich." Sein Auto ist er selber, staunt da C und weiß plötzlich das langgesuchte Thema seiner völkerkundlichen Doktorarbeit: Magische Dingbesessenheit bei den Eingeborenen von Mittelfranken.
Eva fragt ihren Freund: "Liebst du wirklich mich oder bloß meinen Körper?" - Seltsames Geheimnis, das Ich. Der eine steht, während er mit Freunden unterwegs ist, zugleich vierrädrig im kalten Parkhaus, sein Ich erstreckt sich bis zum Auto. Die andere siedelt ihr Ich so weit innerlich an, daß es sich sogar von ihrem eigenen Körper unterscheidet. Wer hat recht? Die Pedantenfrage ist bei einem Geheimnis sinnlos.
Noch ungeheuerlicher wird die Sache mit dem Ich, sobald wir der uralten indischen Weisheit vertrauen. Ihr gelten sämtliche Lebewesen als Selbstvollzüge des einzigen göttlichen ICH. Ähnlich wie deine Ohren und Finger die Welt ganz verschieden erleben und doch in deinem Ich geeint sind, so meint jeder, der "ich" sagt, letztlich dieses gemeinsame tiefe ICH überhaupt. Ich kenne einen indischen Christen, der übersetzt das Hauptgebot nicht mit "wie", sondern so: "Liebe deinen Nächsten als dich selbst!" Morgens im überfüllten Bus, zwischen scheinbar Fremden eingezwängt, läßt diese innerste Selbigkeit sich heilsam meditieren ganz ohne kostspieligen Guru.
Aus der wunderbaren Hoffnung des Paulus "auf daß Gott sei alles in allen" (1 Kor 15,28) folgt in solcher Sicht: Also auch du in dir und ich in mir. Sogar das lebloseste Stück Materie leuchtet dann im Lichte des ewigen ICH. Im Grunde ist deshalb die Frage des Beifahrers "wo stehst du?" gar nicht so falsch.
Januar 1985
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