Jürgen KuhlmannWie war Jesus wirklich?
Zu Hans Conrad Zanders Anti-Jesus-Buch
In einer Menge pseudo-religiöser Bücher werden allerlei kühne Thesen über Jesus und seine Zeit aufgetischt, damit möglichst viele Leser schockiert werden und so der Verlagsgewinn steigt. Weil ich glaube, daß Hans Conrad Zanders Anti-Jesus-Buch nicht zu dieser Sorte gehört, stelle ich es hier vor und versuche eine christliche Antwort. »Warum ich Jesus nicht leiden kann,« nennt der Schweizer Ex-Dominikaner sein Buch (rororo, Reinbek 1994). Mir hat es den Glauben gestärkt, obwohl ich seiner Hauptthese scharf widerspreche - nur im Ganzen aber. In vielem sieht der Blick des leidenschaftlichen Kritikers die Dinge richtig. Wenn das Jesusbild des Durchschnittschristen einer Kinderzeichnung des Eiffelturms gleicht, so Zanders Schmähschrift einem exakten Foto - bloß steht der Turm verkehrt herum im Häusermeer. Welches Bild ist besser?
Jesus wird uns als größenwahnsinniger Zimmermann gezeigt, der ein Jahr lang blau macht. Aufgeregt zieht er im Lande umher und läßt sich von allerlei Damen aushalten, den eigenen Leuten erscheint er als Spinner. Weil seine Attraktivität in Galiläa schon nachläßt und die Kasse leer ist, zieht er nach Jerusalem und heizt die dort grassierende Intifada-Stimmung mutwillig an, warum? Um das schwerste Opfer zu vermeiden, »so unerträglich, daß ihm sogar der Opfergang ans Kreuz leichter fiel. Jesus hätte nicht nach Nazareth heimkehren können, ohne seinen Größenwahn zu opfern« (117).
Die Schilderung der letzten Tage Jesu liest sich überzeugend. So könnten, gesehen mit den Augen der jüdischen Verantwortlichen, die Dinge sich ereignet haben: Man baute Jesus Brücken, er aber hat jeglichen Kompromiß abgelehnt, so daß dem Hohenpriester zuletzt nichts anderes übrigblieb, als »aus politischer und religiöser Verantwortung ... Jesus den Römern zu übergeben und damit dem furchtbaren Tod am Kreuz« (136).
Als Exeget hat Zander sorgfältig gearbeitet. An einer Stelle sieht seine Verachtung genauer hin als der Respekt von Theologenkommissionen: »Das Ungeheuerliche mittendrin bei Lukas« (67) gibt er so wieder: »... und noch viele andere Frauen, die mit ihrem Vermögen für ihn sorgten« (8,3). Einheitsübersetzung wie griechisches NT entscheiden sich, mit vielen alten Handschriften, hier für den Plural: Mit ihrem Vermögen dienten die Frauen ihnen (Jesus und den Jüngern), während andere Handschriften ihm haben. Nach den Regeln der exegetischen Kunst scheint ihm aber die anstößigere, d.h. vermutlich echte Lesart; hätte es ursprünglich ihnen geheißen, wäre kein Antrieb zur Korrektur dagewesen.
Was Zander über selbsterlebte indische Wunderheiler berichtet (46), klingt glaubhaft und erschütternd; ebenso, was ein mittelalterlicher Franziskaner bezeugt (49): wie da Krüppel, die mittags ihre Krücken weggeworfen hatten, diese abends jammernd auf allen Vieren wieder suchten. Jesu Wunder ähnlich einzuschätzen ist kritischer Unglaube geneigt; ebenso kritisch ist freilich ein Glaube, der dem Schöpfer des Alls zutraut, daß er nicht bloß wundersam sinnvolle Zufälle, sondern auch wunderbar dauerhafte Heilungen wirkt.
Eine Stoßrichtung der Kampfschrift ist der »religiöse Kitsch« der psychologisierenden Jesusbilder von Leuten wie Franz Alt und Eugen Drewermann. Dieses Thema klammere ich aus; allzuleicht stolpert man dabei, statt ordentlich stereo zu denken, in die Mono-Falle sei es jenes neumodischen Psychologismus, sei es eines neuestmodischen Antipsychologismus à la Zimmer und Zander. Daß beides Quatsch ist, läßt sich kurz nicht zeigen.
Kommen wir zum Kern. Um ihn möchte Zander sich mit der Rede von »theologischen Eselsbrücken« (24) zwar elegant herummogeln, das sei ihm jedoch verwehrt. »Das Dogma beider Kirchen, 'Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch'« - nur um diese Glaubenswahrheit geht es. Vor mir liegt ein sehr anderes Jesusbuch von 1958, des kanadischen Jesuiten Bernard Lonergan lateinische Abhandlung über »Christi ontologische und psychologische Konstitution«. Die Kernsätze lauten: »Durch ein wahrhaft und eigentlich menschliches Bewußtsein ist eine göttliche Person einer göttlichen Person bewußt. Das ist die Schwierigkeit! Das ist der Knoten des Problems!« (109). So ist es. Nichts anderes besagt der christliche Glaube. Nimmt es da wunder, daß diese Person sich keinem verständlich machen kann, der an ihre Innen-Erfahrung nicht glaubt? Unserem Glauben kommt es allein auf das diamanten absolute »Daß« an: Daß Gott in Jesus war und daß diese Tatsache an Ostern göttlich beglaubigt worden ist.
Nur dann und deshalb ist Jesu Verheißung an Marta (»Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit«) die all-umstürzende Wahrheit - andernfalls wäre sie allerdings bloß »die verlogene Schönrednerei eines Dreißigjährigen, der einer leichtgläubigen Verehrerin weismacht, er könne alles, alles. Vor allen Dingen könne er die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraftr setzen« (12). Ach, es stimmt schon: »Gott bereitet dir nicht nur das Leben, sondern auch den Tod« (142). Aber, und diese Botschaft schulden Christen jedem, Gott bereitet dir auch in Leben wie Tod das ewige Leben. Das zu glauben oder nicht: das macht einen schneidenden Unterschied.
Theologiestudenten wurde es schon vor Jahrzehnten als Selbstverständlichkeit beigebracht, daß Jesus bestimmt nicht das war, was man einen normalen Menschen nennt: entweder stimmt sein Anspruch und er ist Gottes Sohn, oder aber er war verrückt. Bestenfalls war er beides: Gottes Sohn und deshalb ver-rückt hin auf einen Selbst-Punkt, den niemand sonst wirklich verstehen und nachfühlen kann! Da Zander kein Christ (mehr?) sein will, sondern sich zum Glauben des Alten Bundes bekennt (»Gott ja, Jesus nein«; 137), darf ihm Jesu Papi-Sagerei zu Recht »schamlos« vorkommen (139), das ist nicht anders zu erwarten: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich« (Joh 14,6). Zum erstenmal kann ich diesen anstößigen Satz jetzt auch auf den historischen Jesus beziehen (nicht nur, wie bisher, auf den ewigen SINN in Person, ohne den es freilich keinen Zugang zu Gott gäbe): Zanders Ekel vor ehrfurchtslosem Papi-Geplärr ist - angesichts des schauerlichen Geheimnisses von Jubel, Schmerz und Grausen der Welt - tatsächlich die wahrhaftigste Reaktion, außer jemand teilt im Glauben Jesu Erfahrung und nennt jenes Geheimnis deshalb mit Recht unseren Vater.
Dieser Gegensatz wirkt sich bei der Lektüre als Schock aus. Zander macht das Vater Unser als langweiliges, verlogenes Gebet herunter (9 f.) - ich habe es immer als erhebend empfunden, egal in welcher Sprache die Gemeinde sich in die Spannung dieser Worte einfügt, die seit zwei Jahrtausenden schon so viele Menschen durchpulst hat, auch jene - überaus männlichen! - abgeschossenen amerikanischen Flieger in Frankfurt (mein Vater war dabei), die mitten im alliierten Bombenhagel an der Wand lehnten und langsam beteten: »Our Father who art in Heaven ...«
Weil das Christentum eine (dem Christen die) überpolare absolute Wahrheit ist, deshalb verschafft es, selbstkritisch, auch seinen Gegenpolen noch ihr relatives Recht! Zander nimmt Jesu Antwort an jenen Schmeichler ernst, der ihn »guter Meister« nannte: »Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein« (Mk 10,18). Schon Mattäus hielt diese Wahrheit nicht mehr aus (»Was fragst du mich nach dem Guten?« - 19,17), erst recht hat die Christenheit sie vergessen - bis von außen her ein Mohammed und heute wieder Leute wie Zander sie der Kirche ins Ohr schreien. Zitiert hat er die Stelle bezeichnenderweise nirgends: ein selbstkritischer, der eigenen Endlichkeit bewußter Jesus paßt dem eifernden Enkel der Inquisition nicht ins Konzept. Hier fehlt - im Gleichnis von vorhin - dem Foto des Eiffelturms ein wesentliches Stück!
Recht hat Jesus. Niemand ist gut als Gott allein. Das Gesetz der Schöpfung ist die Endlichkeit. Sämtliche Pole des in sich schwingenden guten Sinn-Mobile kann ein Mensch glauben, bejahen, ahnen, in etwa sogar, aber nacheinander! je konkret zu vollziehen suchen, unmöglich aber allein darstellen. Nicht einmal der Mensch hat das gekonnt, der in Person Gott selbst gewesen ist - und bleibt. Alle Punkte der Geigensaite müssen schwingen, nur an einem jedoch wird sie zum Schwingen gebracht, der kann nie allein sein, was alle zusammen bedeuten. Christen glauben an Jesus, nicht an ein abgetrenntes Individuum aber, sondern an Jesus Christus, eine Person in Haupt und Gliedern, und ganz nicht ohne die Glieder. Ist es Zufall, daß Zander - gegen jeden Brauch deutscher Theologenzunft - die biblischen Kapitel (lat. caput = Haupt) durch einen Strichpunkt von den einzelnen Versen trennt, statt Kapitel und Vers mit einem Komma zu verbinden? Das stört auf jeder Seite, drückt aber exakt Zanders Überzeugung aus: Das Haupt sei von den Gliedern getrennt und werde scheinbar zu Recht geschmäht, weil es nicht Fuß, Hand oder Herz ist. In Wahrheit ist das Haupt aber mit den Gliedern so innig verbunden, daß es ohne sie nicht wirklich ist, also auch nicht beurteilbar. Wer Jesus von seiner jüdischen Vergangenheit und seiner kirchlichen Zukunft trennt, kritisiert nicht ihn, vielmehr ein selbstgewähntes Monstrum, das es nie gab: des Nazareners geschaffene Person.
Vor Jahren war Zander Dominikaner, einer der »Domini canes«, jener Hunde des Herrn, die von Scholastik gar viel, von Entwicklung und zeitgenössischem Bewußtsein weniger verstehen. Ist es eine Art mißglückter Reue dieses Ordens der Inquisition, wenn ein solcher Hund sich einmal nicht auf Ketzer stürzt, sondern von einer anderen »rabies theologorum« befallen wird (d.h. tollwütig wird) und sich haßerfüllt wider seinen Herrn kehrt? Mag sein. Auf dem Titelbild des Büchleins weist eines anderen Johannes Hand auf Jesus hin, dabei stehen des Täufers Worte: »Er muß wachsen, ich kleiner werden« (Joh 3,30). So wird es kommen. Zander wird, wie Julian oder Kelsos, in die Fußnoten der Kirchengeschichte eingehen, während das Bild Jesu Christi die Menschheit weiter geleiten wird, mag ihr Weg noch länger währen oder nur mehr kurz.
Zum Schluß berichte ich - zögernd aber doch - von einem seltsamen Computer-Fehler. In der ersten Fassung dieses Essays standen noch folgende Sätze, die ich - als allzu indiskret - wieder gestrichen hatte: »Weil der Haß fast so gut sieht wie die Liebe und weit besser als die Mode, deshalb sollten Jesu Freunde sich vor diesem Buch nicht fürchten. Denn was erblickt das gläubige Auge? Einen Menschen. Einen, der wie wir seinen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen trägt. Zander schüttet den Wein aus und schmäht das Glas; hat er es vielleicht (vgl. 1 Joh 2,19) immer nur leer gekannt, bloß vom späteren Kirchenglanz bestrahlt?« Mit dem neuen Computer spielend, gab ich dem Datei-Finde-Programm den Auftrag, nach »Zander«zu suchen. Doch siehe da: Das Wort fand sich nur in der alten Datei, nicht in der neuen. Die war aber da, das ergab die Gegenprobe: »Lonergan« wurde in beiden Dateien gefunden.
Angenommen, die DV-Kapriole gehöre in die Schublade »signifikante Koinzidenz« was soll ich mir dabei denken? Daß mir ein scharfer Hinweis zuteil wurde, dessen bin ich fast so gewiß wie der Radfahrer, den der Blitz einer Lichthupe trifft. Bedeutet sie aber »aus dem Weg!« oder »nur zu!«? Eindeutig sind solche Zeichen bloß dem Aberglauben. Nach dem ersten Schrecken (vgl. Mt 10,33!) deute ich das Rätsel so: Wer so voller Haß über Jesus schreibt, gehört nicht zu dem Neuen Bund, den Christus gestiftet hat. Doch soll ein christliches Herz hoffen, daß er zu jenem Ersten Bund gehört, der weiterhin gilt. Der Grundsatz des Gamaliel (Apg 5,38 f) hat eine bisher übersehene Kehrseite: Besteht eine scheinbar überholte Glaubensweise kraftvoll weiter, dann bleibt sie von Gott! Das hat, hinsichtlich der Juden, die katholische Kirche beim jüngsten Konzil endlich anerkannt.
Deshalb habe ich zwar volles Verständnis für das Urteil eines Freundes, der Zanders Büchlein ein unseriöses, böswilliges Pamphlet schimpft. Ich werde es niemandem schenken und keinem unreifen Gemüt empfehlen. Wer sich aber für einen mündigen Christen hält, dem kann es gut tun, mit der Nase abseits von allem Seelenquark wieder auf den harten Kern des Glaubens gestoßen zu werden. Verdient Zander dafür nicht sogar kirchlichen Dank? Mir gilt er jedenfalls nicht als verlorener Sohn, sondern als getrennter Bruder hoffentlich unterwegs zum selben Ziel. Er selbst sieht sich (24) als Neuen Hiob und dürfte wissen, daß der Schluß der Geschichte offen ist. Hiob erkennt zuletzt, daß er »unweise geredet« habe; dennoch (42,7) lobt Gott ihn mehr als den Klüngel der ach so rechtgläubig Frommen. Erzählt also dankbar weiter Eure sehr andere Geschichte. Aber: Richtet nicht!
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