Hochmut fällt, Auftrag bleibt
Eine tröstliche Bibeldeutung
Im Sommer 1963 war ich beim theologischen Schlussexamen über vier Studienjahre durchgefallen, weil ich bei zwei (von vier) Professoren nicht exakt das von ihnen Dozierte wiedergab, vielmehr – in allzu naiver Kollegialität – ihren tristen Alltag durch die neuesten Ergebnisse deutscher Forscher etwas beleben wollte. Das halbe Germanikum lachte, ich nicht. Zornig stürmte ich im langen roten Talar auf der Terrasse hin und her; als ich dann ins Zimmer kam, fiel mein Blick auf das Foto der heiligen Therese von Lisieux, das ich selbst im Labor mit einem zarten Heiligenschein versehen hatte. Impulsiv bat ich sie um einen Kommentar zu dem Vorgefallenen, blätterte wild in der großen Bible de Jérusalem herum, bis mein Finger auf einer Stelle ruhte, ich hatte keine Ahnung, wo.
Als ich hinsah, zeigte der Finger auf eine Zwischenüberschrift im Propheten Amos (9,10/11). Über dem Finger stand: »Alle Sünder meines Volkes sollen durch das Schwert umkommen, alle, die sagen: Das Unheil erreicht uns nicht, es holt uns nicht ein.« Nach dem Finger ging es weiter: »An jenem Tag richte ich die zerfallene Hütte Davids wieder auf und bessere ihre Risse aus, ich richte ihre Trümmer auf und stelle alles wieder her wie in den Tagen der Vorzeit.«
Ich lachte, bedankte mich bei meiner verewigten Freundin, stellte die Bibel ins Regal zurück und fing allmählich an, die hundert Thesen nochmals wiederzukauen, so dass ich die Prüfung im Oktober bestand. – Ein späteres Erlebnis war einschneidender, hat mein ganzes Leben verändert, geht allerdings die Welt nichts an.
September 1993
Nachschrift am 3. Juli 2008. Wohl aber, scheint mir jetzt, die Kirche. Es geschah am 9. Februar 1971 mit derselben Bible de Jérusalem, diesmal traf mein Finger die Stelle 2 Kön 11,1-16, da wird die Rettung und Krönung eines Prinzen berichtet, wider die Machenschaften einer Herrscherin, die ihn dem Tode bestimmt hatte. Auch an jenem Abend war die Botschaft mir klar und wurde bald verwirklicht. (Ob die thema-identische Blutwurstballade vorher oder nachher entstand, weiß ich nicht mehr.)
[Inzwischen habe ich meine abgründige Naivität 1963 eingesehen: Man stelle sich vor, dass ich mitten in den Konzilswirren dem US-amerikanischen Professor Sullivan auf seine Frage, ob Jesus die Kirche gegründet habe, zur Antwort gab, das stehe nicht fest. Schon aus Vorsicht konnte der Prüfer mir das nicht durchgehen lassen.]
Siehe auch des Verfassers alten und neuen Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de
Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann