Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Zwei berufene Frauen

Die doppelte Zölibats-Wahrheit


Welch überwältigendes Stereo-Signal dringt da ans Ohr meines Herzens! Mit dem Osterheft von "Kirche In" (April 2003) ist der Wiener Redaktion ein Meisterstück gelungen. Eine Art Zungenreden vernimmt der aufmerksame Leser. "Ist aber kein Ausleger da" (1 Kor 14,28) - wie läßt das Gelesene sich verstehen? Hilft mein Versuch, den Widerspruch in belebende Spannung zu wandeln?

Auf S. 14 schreibt Christl Picker mit guten Gründen, sie glaube "nicht an eine ‚zölibatäre' Berufung, weil diese sinnlos ist", das schreibe sie "als Mensch, als Frau, als Therapeutin und als Christin". Auch als Katholikin? fragt der Leser. Dies ist der linke Stereo-Kanal.

Als rechter ergänzt ihn auf S. 42 f. das strahlende Zeugnis der ungarischen Schwester Angelika. "Du hast mich, Herr, gerufen, ich bin nun da," jubelt "die glückliche Freundin und Mitarbeiterin Jesu Christi". Ein Blick in ihr leuchtendes Antlitz überzeugt: Auch diese Frau weiß, was sie sagt, und daß sie ihre Wahrheit sagt.

Widersprechen die Wahrheiten beider Frauen einander? Ja. Muß demnach eine irren? Nein. Als verheirateter Priester, dem sein Zölibat jahrelang die sinnvolle Lebensform gewesen ist, bis ihre Zeit um war, kann ich beide Wahrheiten aus Erfahrung bestätigen: die gelebte Verbundenheit der Ordensfrau mit ihrem himmlischen Verlobten ebenso wie das skeptische Nein der anderen, die a) als Psychologin und b) als nicht zum Zölibat aber zur Ehe berufene Christin von dieser Lebensform nichts halten kann. "Wer es fassen kann, fasse es", laut Jesu Wort (Mt 19,12) wäre es überraschend, könnten solche, die den Sinn des Zölibats nicht selbst existentiell erfahren, ihn theoretisch als sinnvoll auffassen! Jene antisexuelle Reinheitsideologie, die solches Verständnis lange vorgetäuscht hat, ist in der Kirche inzwischen - hoffentlich für immer - als Irrtum entlarvt.

Deshalb ist Frau Pickers Anliegen wichtig und verdient Entfaltung wie Verbreitung, obwohl die kategorische Allgemeinheit ihrer These mit dem Bade das Kind ausschüttet und nicht als katholisch durchgehen kann. Dagegen steht ein Konzilsbeschluß. Er wird freilich oft mißverstanden. Unter gebildeten Christen gibt es die Meinung, das Konzil von Trient habe gegen die Protestanten ausdrücklich definiert, Ehelosigkeit sei besser und seliger als Ehe. Das ist aber falsch. Im Kanon 10 der 24. Sitzung wird zu sagen verboten, "der Ehestand sei dem jungfräulichen Stand oder der Ehelosigkeit vorzuziehen, und es sei nicht besser und seliger, in Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit zu bleiben als eine Ehe einzugehen". Wer so sagt, sei ausgeschlossen! Anathema sit!

Derart harte Bestimmungen sind ebenso streng auszulegen wie sie klingen; man darf von den Gläubigen nicht mehr fordern, als die Texte tatsächlich enthalten. Jene Theologen verstanden etwas von Logik, mit der hatte jeder sich zu Beginn seines Studiums herumschlagen müssen. Lesen wir also genau, indem wir das eine Wort hervorheben, auf das alles ankommt: Katholiken dürfen nicht behaupten: "der Ehestand ist dem jungfräulichen Stand oder der Ehelosigkeit vorzuziehen, und es ist nicht besser und seliger, in Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit zu bleiben als eine Ehe einzugehen". Unkatholisch ist es mithin, beides zu sagen. Wer nur das Zweite behauptet aber nicht das Erste, fällt nicht unter den Bann! Mit dem Nein zur einen prinzipiellen Überlegenheit ist nicht notwendig ein Ja zur anderen verknüpft; man kann - und sollte - gegen beide sein, denn die Frage, welcher Stand der bessere sei, ist eine je-existentielle, läßt (unter Christen und vernünftigen Psychologen) überhaupt keine allgemeine Antwort zu. Damit ist dem Kanon von Trient Genüge getan.

Ich darf also sagen, was ich im Herbst 1971 einsah und bald darauf verwirklichte: es ist nicht (allgemein und mithin auch für mich) besser im Zölibat zu bleiben als zu heiraten - solange ich nicht (ebenso allgemein) behaupte, der Ehestand sei der Gott geweihten Ehelosigkeit vorzuziehen. Das zu sagen hüte ich mich, keineswegs aus dogmatischem Zwang, vielmehr aus Überzeugung: wegen eigener jahrelanger Erfahrung und aufgrund der Freundschaft mit Menschen, die dem evangelischen Rat ehrlich folgen und - indem sie um der Taube auf dem Dach willen den Spatz aus der Hand lassen - unsere gemeinsame Hoffnung bezeugen, daß dieses Leben nicht alles ist.

Kommen wir zum Kern. "Gelebte Sexualität gehört zum erwachsenen Menschen," sagt Frau Picker und hat grundsätzlich recht. Solange "aber der Richtige, wenn's einen gibt auf dieser Welt," nicht dasteht, was dann? Wenn das Partner-Ideal, das mir im Herzen lebt, von niemandem um mich her erreicht wird - sei das wegen meiner Unreife oder weil auf geheimnisvolle Weise ER oder SIE selbst diesen Platz besetzt hat, dann darf ich auf diese Sinn-Dimension im Fleisch verzichten. Als aufgeklärter Mensch dieser Zeit werde ich einem strengen Psychologen lächelnd zugeben, daß ich allerdings "eigentlich auf seine Couch gehöre" - lege mich dort aber nicht hin sondern gehe mit offenen Augen meinen Weg, ohne meinen Mangel zu verdrängen, wissend, daß sogar gemäß Sigmund Freud Sublimierung eine der besten Weisen ist, einen Mangel zu ertragen.

"Liebt doch Gott die leeren Hände
und der Mangel wird Gewinn.
Immerdar enthüllt das Ende
sich als strahlender Beginn."

(Werner Bergengruen)

Und wenn dieser Weg böse endet? Père Duval ("O Herr, Du mein Freund") wurde Alkoholiker, Soeur Sourire starb im Elend, nicht wenige alte Priester verbittern. Es gibt aber Gegenbeispiele. Fast hundert war Pater Wilhelm Klein SJ schon, als einige Germaniker ihren alten Spiritual besuchten. Nicht unkokett meinte er: "Manche vergleichen mich mit Sokrates - ein Sokrates ohne Xanthippe, ja ..." Während ich leise Wehmut heraushörte, vernahm mein zölibatärer Freund grimmige Zufriedenheit. Fragte wer den jungen Münchner Priester Hans Medele (1974 vom Matterhorn gestürzt) "wie kommst du denn ohne Frau aus?", erwiderte er gern: "Wie kommst du denn mit bloß einer Frau aus? Ist doch egal, welche Wand jemand hochgeht." Philip Roth, der von Sex einiges versteht, stimmt ihm zu: "Sehen Sie, heterosexuelle Männer, die in den Stand der Ehe treten, sind wie Priester: Sie legen ein Keuschheitsgelübde ab, nur wird ihnen das anscheinend erst drei, vier, fünf Jahre später bewußt" ("Das sterbende Tier" [München Wien 2003], 76). Na also, verehrte Psychologin, laßt uns denn, statt alles in den Staub psychischer Apparate herunterzuziehen, lieber jedes Charisma "zu einer göttlichen Berufung hochjubeln"!

Vielleicht ist die kat-holische Wahrheit dies: Die Gnadengabe besteht darin, daß eines berufenen Menschen Ja um des Himmelreiches willen zur (evtl. zeitweiligen) Unfähigkeit, sich an einen Menschen zu binden, von Gott zum Heils-Zeichen für diesen Menschen und andere gemacht wird. Ob hier Berufung oder Unfähigkeit das erste sei, dürfte eine falsche Frage sein. Bei der kanonischen Vernehmung im Ordinariat konnte und wollte ich keine Gründe finden, die mein Priestertum als Irrtum hätten erscheinen lassen. Im Gegenteil, gab ich amtlich zu Protokoll, ich käme mir vor wie ein halb ins Wasser getauchter Bleistift. Alle Welt spricht von gebrochener Existenz, das ist aber eine optische Täuschung.

April 2003

Veröffentlicht in Kirche In 06/2003, S. 48


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