Jürgen Kuhlmann

Dreieinige Indifferenz

Ein Brief (1990) an Ludwig Frambach,
Autor von "Identität und Befreiung" (1993)

Lieber Ludwig, hier das Ei des Kolumbus: Schluß mit der vergeblichen Mühe, alle Polaritäten auf ein einziges Grundmodell der Indifferenz zurückzuführen. In Wahrheit kommt - selbstverständlich - jedem der dreieinigen Grundprinzipien die Würde zu, indifferenter Quellpunkt von Polaritäten zu sein, fruchtbares Nichts in der (immer wieder neu zu findenden) Mitte des "ursprünglichen Menschen". Es sind deshalb folgende drei Grundweisen von Polarität zu unterscheiden:

I. Das DU balanciert die Polarität von Eins und Ich. Ein rätselhafter Hinweis Jesu kann uns auf die rechte Spur setzen. "Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben" (Mt 10,16), rät das Wort Gottes in Person. Was heißt dieses scheinbar unmögliche "und" unseres Herrn ? Versetzen wir uns in die Stimmung der Zeit seines Auftretens zurück. "Das Reich Gottes ist nahe," war der Grundton der Bergpredigt. Weil die Welt dann wider Erwarten doch nicht unterging, weil die Christen sich in der weiterlaufenden Zeit einrichten mußten, deshalb müssen wir stets fragen: Welche "innere Zeit" gilt für mich in dieser Situation? Ist jetzt die geschichtliche Schöpfungszeit "dran", soll ich mich schlangenklug meiner, unserer Haut wehren? Oder ist "jetzt die Zeit der Gnade" (2 Kor 6,2), "die letzte Stunde" (1 Joh 2,18), da meine Gewaltlosigkeit ein göttliches Zeichen dafür sein soll, daß alle irdischen Konflikte entmachtet sind? Es heißt Ernst machen damit, daß dies zwei grundverschiedene göttliche Dimensionen sind. Das Leben der Einzelnen und Gemeinschaften wird von einem dreieinigen Rhythmus bestimmt: "Es gibt eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden" (Pred. 3,8), d.h. der Kairós (die gültige Zeit) des Ich-Vollzuges unterscheidet sich vom Kairós der Wir-Einheit. Beide Situationen aber sind, wenn sie nach Gottes Willen jeweils dran sind, in sich gut. Gott will sowohl die klare Kontur, die bestimmt leuchtende Farbe eines jeden besonderen Ich, als auch die Einheit des Großen Friedens, aus dem niemand störend ausbricht. Kurz: Unser Gott will das Ego, aber nicht den unfriedlichen Egoismus, will auch den Frieden, aber keinen ichlosen Einheitsbrei. Weil beide Wahrheitsakzente göttlich sind, deshalb bilden sie an sich eine wunderbare Stereo-Balance. Allerdings sind die meisten von uns im Rahmen der alten Mischehe von Kirche und Obrigkeitsstaat großgeworden; dieser ist mehr an braven als an konfliktlustigen Bürgern interessiert, deshalb hat die Predigt gegen den Egoismus ein solches Übergewicht erlangt, daß viele sie für die christliche Wahrheit halten.

Das ist aber falsch. Gott hat die Welt als einen Kampfplatz geschaffen, er will den Wettbewerb, das gnostische Ideal undifferenziert friedlicher Einheit ist von der Kirche als Irrglaube verworfen worden. Wo der Kampf scheinbar verboten ist, statt seiner "Harmoniezwang" herrscht (wie in manchen Häusern, die geistlich sein wollen), da gilt tatsächlich nicht der göttliche, sondern ein fauler Friede, der stärkste Faktor würgt alle Eigenständigkeit der schwächeren ab. Bei einer unkirchlich-weihevollen Hochzeitsfeier saßen im Sommer 1986 die Gäste in einem weiten Kreis unter Bäumen und jeder hatte etwas Geistliches mitgebracht. Eine der geladenen Damen sagte, statt ein Gedicht oder einen Bibelvers vorzutragen, dem Brautpaar nur einen einzigen Satz: "Ich wünsche Euch Mut zum Konflikt." Einige wirkten irritiert - das bei solchem Anlaß? Erfahrene Eheleute aber stimmten ihr zu.

Im Großen ist dies die Polarität Europa/Ostasien, Deine physikalische Spannung Korpuskel / Welle illustriert ebenfalls dieses Muster. "Ihr seid das Licht der Welt"; was ist jetzt für mich dran? Soll ich auf meiner (unserer) Besonderheit als Ding neben Dingen bestehen: als Einzelner, Gruppe, Volk, Konfession ... oder mich einschwingen in den friedlichen Schwung aller Schwünge? DU, weiseloses LICHT vor und nach dieser Differenz, leite unser Herz!

II. Das ICH balanciert die Polarität von Eins und Du. Das ist Erich Fromms Spannung von unbedingter mütterlicher und bedingter väterlicher Liebe: beider Indifferenzpunkt ist das einzelne Ich. Siehe seinen Text samt Bild in: Der göttliche Tanz, S. 66 f. Beispiele für diese Polarität sind: Unbedingter Glaube bei Paulus und Luther / Notwendigkeit der Liebeswerke (Jakobus, Befreiungstheologie). Ostasien / Israel, Zen / Buber, New Age / Fundamentalistische Fromme.

III. Das EINS balanciert die Polarität von Du und Ich. Häufiges Thema der Bibel: Juden / Heiden, Pharisäer / Zöllner, älterer / jüngerer Sohn. Heute das weltweite Ringen von Religion und Atheismus. Zu bewältigen ist die Spannung zwischen gebietendem Du und freiem Ich nur so, daß Gottes Heiliger Geist des EINS unser Herz aus Stein (das zwischen sklavischer Du- und rebellischer Ich-Fixierung pulsiert) in ein lebendiges Herz aus Fleisch verwandelt.

Ich vermute: jegliche existentiell bedeutsame Polarität hat an einem dieser Grundmuster Anteil, mindestens für unser Verständnis; tatsächlich hängt ja jedes konkret Wirkliche stets im ganzen Gefüge. Deshalb könnte diese Trinität der Polaritäten eine hilfreiche diagnostische Sonde sein, ein heuristisches Instrumentarium bieten, das uns die rechten Fragen stellen läßt.

Aufgabe der Kirche ist es, für alle drei Polaritäten das Bewußtsein zu schärfen und den Menschen durch Wort wie Beispiel zur kunstvollen Balance zu helfen. Erst in dieser christlich-trinitarischen Vollgestalt, scheint mir, kommt Friedlaenders tiefe Einsicht ganz zu sich. Die Bibel ist das Buch der Bücher und enthält das Lied der Lieder, Musils Bibliothekar legt dem wissensdurstigen General die Bibliographie der Bibliographien vor. Ähnlich ist die Dreieinigkeitswahrheit also die Polarität der Polaritäten; jeder Pol ist auch mal die Mitte: Perichorese heißt wörtlich auch "Umtanz"!

5. Mai 1990

Hier noch eine theologische Vertiefung von Implosion, Identitätsvakuum. Überhaupt vermisse ich die christlichen Parallelen. Aber wahrscheinlich gibt das den krönenden Schlußteil.

Wenn wir den Widerstreit der Prinzipien Konflikt und Harmonie in seiner letzten Tiefe verstehen, als Gegensatz zweier göttlicher Dimensionen, dann klärt sich das Rätsel der letzen Vater-Unser-Bitte. Einerseits ist es tatsächlich irgendwie Gott, der den Menschen in Versuchung führt: Denn auch jene Dimension, die jetzt nicht "dran" ist, bleibt trotzdem göttlich, d.h. es geht eine absolute Faszination von ihr aus und schlägt den Menschen in ihren Bann. Denken wir an einen Hitlerjungen; seine Erzieher, denen er vertraut, haben ihm die geschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes in leuchtenden Farben gemalt, so daß sie ihm zum unbefragten Ideal geworden ist, zum Schein-Gott. Daß der in Wahrheit ein Lügengötze, ja ein Teufel ist, das sieht sein verblendeter Sinn nicht ein. Einem Verstockten zeigt das Ganze sich als Fratze.

Ist solcher Faszination aber überhaupt zu entkommen? Welche gute Macht erlöst aus dem Bann einer göttlichen Dimension, die aber - nach Gottes Willen - jetzt nicht gilt? "Erschienen ist uns die Güte und Menschenliebe Gottes unseres Heilandes und hat uns gerettet" (Tit. 3,4). Dank Gottes Menschwerdung ist jeder unmenschliche "Gott" als Teufel entlarvt. Aus des Teufels Gewalt erlöst uns Gott nur durch Vermittlung des Menschensohnes, anwesend in jedes Menschen Kind dir gegenüber. Was wir einem dieser Geringsten tun, das tun wir unserem wahren Herrn. Dem Menschen erscheint nicht nur das Ganze, er begegnet auch seinem Mitmenschen. Lernen wir das Prinzip: Wo dein "Gott" dir die Verantwortung vor irgendeinem wirklichen Menschen verbietet, da kippt er zum Teufel um. Seiner Faszination darfst du dich nicht überlassen. Das bedeutet freilich: Du mußt bereit sein, eine Zeitlang den Anschein der Sinnlosigkeit des Ganzen auszuhalten. Denn so, wie es dir erscheint, darfst du ihm nicht glauben; anders aber erscheint es dir jetzt nicht, also fehlt der Sinn. Darin bestand Jesu furchtbare Versuchung am Kreuz. "Erlöse uns von dem Bösen" heißt deshalb: Setz uns nicht dem Bann des Bösen aus; tust Du es aber doch, dann stütze uns im Finstern der Sinnlosigkeit so lange, bis Du uns das Ganze in neuem Lichte zeigst [Ostern als "Explosions"-Motor der Erde], so daß es uns auf eine Weise ergreift, die nicht mehr gegen die Liebe ist.


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/3-polar.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers alten und neuen Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann