Jürgen Kuhlmann

Was liegt an Adams Mutter!

Dogmatismus am Werk

Nach der Quelle eines Hume-Zitats suchend, stoße ich in alten Papieren auf einen Vorgang, den ich ganz und gar verdrängt hatte: meinen ersten Zusammenstoß mit der Inquisition. Ein paar Sätze des namenlosen Zensors von 1970 scheinen mir wert, dem Staub ihrer Aktenexistenz entrissen und zu unser aller Warnung ans Licht gebracht zu werden; nicht oft zeigt der psychische Apparat des Dogmatismus sich so unverhüllt.

Im Aprilheft der Katechetischen Blätter (1970,233-237) hatte ich "Das ewige Leben" veröffentlicht, die Skizze "eines neuen eschatologischen Vorstellungsmodells". Sein Kern war die Idee, daß die Ewigkeit nicht nach der Zeit kommt, vielmehr werde die Zeit selber vollendet: "Gegenstand der Verewigung ist also weder eine leibfreie Seele, noch gar ein Leichnam, vielmehr die gesamte durchlaufene Lebensgestalt des leibseelischen Menschen."

Dies Prinzip bezieht sich auf die ganze Vergangenheit der Erde. Deshalb brauchen wir nicht mehr jenen naturwissenschaftlich so problematischen Begriff des ersten Menschen. Denn die ganze Zeit der Evolution, mit all ihren unzählbar vielen Schrittchen hin zum Menschen, ist insgesamt in Gottes aktueller Erinnerung wirklich, aufgehoben, gerettet. Für diese Sicht spreche auch folgende Überlegung: "Wäre Adam als erster Mensch eine historische (wenngleich uns nicht mehr erkennbare) eindeutige Wirklichkeit, wie ertrüge seine unsterbliche Seele die ewige Trennung von seiner ins Nichts zurückgesunkenen tierischen Mutter...?" (233)

Dazu notierte der (vom Aachener Bischof bestellte) Gutachter: "Soll man lachen oder weinen? Was es nicht für Sorgen gibt! Wahrscheinlich wird es der Mensch, die Dinge einsehend, so für recht halten, wie es Gott geschaffen und gewollt hat. Ceterum, ist über das tierische Lebewesen nicht Endgültiges gesagt. Es gibt Auffassungen, nach denen in der kommenden Welt sogar die Tiere (wenn auch in specie...) vorhanden sein werden..."

Hier zeigt sich auf erhellende Weise die Mechanik des Dogmatismus. Auch der Zensor weiß natürlich, daß der biblische Adam keine Mutter hat. Das traut er sich aber nicht zu sagen. Insofern hat er den Weltbildwandel zwischen Genesis und Darwin mitgemacht.

Angesichts dieses Problems hatte ich gefordert, radikal umzudenken, auf den Begriff "erster Mensch" zu verzichten, damit der tiefe Sinn des Dogmas gerettet werde, nämlich Gottes Liebe zum Menschen; aus ihr folgt ja, daß ein verewigter Mensch seine Mutter bei sich haben will. Immerhin hat Pius XII. mit eben diesem Argument das Dogma des 15. August untermauert. Um des Geistes des Dogmas willen (Gottes Liebe) sollen wir einen bestimmten Buchstaben ("erster Mensch") opfern.

Dieses Verhältnis kehrt der Schlechtachter zynisch um. Zu seinem System gehört der Satz, daß es einen Adam = ersten Menschen historisch gegeben habe. Also war - in der evolutionären Perspektive, die er nicht zu leugnen wagt - Adams Mutter ein Tier. Da solche in der kommenden Welt höchstens in specie, als Art, vorhanden sein werden, muß Adam auf das Individuum, das seine Mutter war, eben verzichten. Was liegt daran? Was liegt überhaupt an irgendetwas, außer daß wir die Wahrheit haben?

So wird jemand, der sich für einen christlichen Dogmatiker hielt, ohne es zu merken zum unchristlichen Dogmatisten. Das alte Dogma zeigt das Bild eines menschenfreundlichen Gottes, der den Menschen hoch über die Tiere erhebt und für ewig bewahrt. Mein Vorschlag zeigt (im Anschluß an Teilhard de Chardin) das Bild eines tier- und menschenfreundlichen Gottes, der das Universum Schritt für Schritt höher leitet und als ganzes ewig bewahrt. Das alte Dogma kannte noch nicht die Evolution, der neue Vorschlag berücksichtigt beide. Der Dogmatist hingegen kombiniert die moderne Wissenschaft mit einem bestimmten Buchstaben des Dogmas, unbekümmert darum, daß dessen Geist dabei zum Teufel geht; denn eben dies wäre ein Gott, der dem ersten Menschen seine Mutter ewig nähme.

Nun, Adams Mutter ist nicht das aktuellste Thema. Wichtiger für uns ist das Wesen der Kirche. Warum war ich gestern dermaßen überrascht, als ich unversehens auf diesen alten Vorgang stieß? Ich hatte ihn restlos verdrängt. Hätte mich jemand gefragt, ob ich schon einmal in Konflikt mit dem Lehramt geraten sei, wäre meine Antwort ein überzeugtes Nein gewesen. Und doch hatte jener Zensor einen Satz "schlicht und klar häretisch" genannt. Warum solche Verdrängung?

Wahrscheinlich liegt hier eine vergleichbare Struktur vor wie beim berichteten Beispiel. Dem Kind hatte man klar gemacht: Die Kirche ist der Ort des Heils. Dem Erwachsenen wird immer klarer: Die Kirche ist ein Stück dieser Welt und wird nach den Gesetzen von Macht und Lüge regiert, wie sie in dieser Welt gelten. So sagt (in Stendhals "Lucien Leuwen") der Bankier zu seinem Sohn: "Dies ist das Prinzip: Jede Regierung, sogar die der Vereinigten Staaten, lügt immer und in allem."

Um das kindliche Dogma trotz der Einsicht ins Wesen der Realität zu retten, schloß ich die Augen, vergaß den Konflikt. Das ist jedoch eine Konsequenz nicht des Glaubens, sondern des Dogmatismus. Der zieht aus dem Dogma "Die Kirche ist Ort des Heils" den Fehlschluß: Also geht es in ihr heilig, mindestens ordentlich zu. Mündiger Glaube würde stattdessen den Geist des Dogmas retten: Gott liebt seine Schöpfung, obwohl sie verdorben ist, und als Zeichen dafür die Kirche, obwohl sie verdorben ist. Eben darum kämpft er gegen die Verderbnis und erwartet von uns, daß wir offenen Auges dasselbe tun.

Juni 1988

[Ergänzung 2009, aus einer Hochzeitsrede am 2. September in Rom:] Neben Euch beiden grüße ich noch ein anderes Paar, über wer weiß wie viele Jahrhunderte und km hinweg: Euer beider Urahnen, den Mann und die Frau, von denen alle unsere drei Familien [deutsch, spanisch, italienisch] abstammen, ehe die Linien sich trennten. Im Darwin-Jahr kann einem so etwas schon einfallen. Ich stelle mir vor, wie jene beiden jetzt unsichtbar aber wirklich mit uns feiern, weil ihre fernen Enkel sich gefunden haben und eine neue Serie anfangen.


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