Jürgen Kuhlmann

MULTIFORMIS SAPIENTIA II

Antrittsenzyklika des Papstes Albin I.

Seit Jesus von Jonas und seinem Walfisch sprach, ist science fiction eine christliche Denkform. Deshalb darf es mich geben.
(Albin I.)

[Der Name, von lat. albus (weiß), soll vermutlich auch an Albino Luciani, den liebenswerten "Septemberpapst" Johannes Paul I. erinnern.]

Verehrte Mitbischöfe, liebe Schwestern und Brüder in aller Welt !

DIE VIELBUNTE WEISHEIT Gottes hat dem neugewählten Papst eine erschreckende Vollmacht übertragen: er muß das Steuer der Kirche ergreifen und beherzt in die Richtung lenken, die sein Gewissen ihm weist. Deshalb wenden wir uns heute an euch alle.

Wir - vielleicht wundert ihr euch, daß der neue Papst das überkommene "Wir" beibehält. Nicht Hochmut spricht aus solcher Redeweise, vielmehr wissen wir uns - wie jeder Mensch - als eine Balance vielfältiger Antriebe, die zuweilen nur mit Mühe gelingt. Schenke Gott uns allen immer wieder neu die Kraft, dieses bunte Vielerlei zu zielstrebiger Harmonie zu sammeln.

Unsere Kirche heißt römisch-katholisch. Der Name "römisch" weist sie als historisches Gebilde aus. Es entstand vermutlich, als ein paar hauptstädtische Sklaven von der Botschaft des Auferstandenen ergriffen wurden; durch Krisen und Aufschwünge wuchs ihre Gruppe zu einer Gemeinde heran, die dank Petrus und der Nähe des Kaiserhofes bald die anderen an Rang überwog, bis sie von ihnen als Schiedsrichter angerufen wurde. Später war aus der Vorsitzenden des Liebesbundes die hochfahrende Zentrale eines durchverwalteten Riesenreiches geworden; ganze Provinzen fanden in deren Maßnahmen sich selbst nicht wieder und scherten enttäuscht aus. Nicht nur Tintenbäche sind im Namen des Glaubens geflossen, auch entsetzliche Ströme von Blut. Gott sei Dank hat die römische Kirche im II. Vatikanischen Konzil verbindlich festgestellt , daß in Glaubensfragen das Gewissen frei und jegliche Gewalt vom Bösen ist. Dennoch: Gestritten werden muß weiterhin, von, zwischen und in den Kirchen. Denn den allumfassenden Überblick hat Gott allein, wir Menschen können nur, jeder auf seinem Wege, treu dem jeweiligen Licht folgen. Irrtümer und Einseitigkeiten provozieren ihre Gegensätze, nur dadurch wird Erstarrung verhindert. Tröstliche Wahrheit: Keiner braucht alles zu sein, nur das Ganze ist alles.

Und doch, obwohl unsere Kirche eine christliche Gemeinschaft ist, die weder alle Christen noch gar alle Menschen umfaßt, nennt sie sich kat-holisch, allumfassend. Rätselhafter Name! Bewirkt er nicht sein Gegenteil? Trennt sein anmaßender Anspruch uns nicht erst recht von vielen guten Menschen, die von unserer Kirche gerade nicht umfaßt sein-wollen?

Lange Jahre haben wir über dieser Frage zugebracht. Nicht unser Werk und Verdienst ist es, daß wir zum Papst gewählt wurden; darum fassen wir Mut und legen euch die Überzeugung vor, zu der wir gelangt sind. Nicht als unfehlbares Dekret freilich; wie euch bekannt ist, bindet nicht des Papstes erstes Wort, sondern allein sein letztes, wenn er eine Kontroverse entscheidet. Wenn möglich, wollen wir es wie unser seliger Vorgänger Johannes XXIII. halten, von dem berichtet wird, eines Morgens habe er einer Seminaristengruppe freudestrahlend bedeutet, er sei gar nicht unfehlbar. Wie das, Heiliger Vater, habe man ihm betroffen erwidert, das verstehe man nicht. Darauf er: Ganz einfach; nur wenn der Papst ex cathedra spreche, sei er unfehlbar, auf diesem Stuhl werde er persönlich aber nie Platz nehmen, also sei er nicht unfehlbar. So denken wir heute auch, können freilich der Geschichte nicht vorgreifen. Was wir euch jetzt zu sagen haben, ist jedenfalls kein letztes, sondern ein erstes Papstwort zu dieser Frage. Was heißt kat-holisch?

"Ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen." Des Herrn Methode sei auch dem Diener erlaubt. Als anschauliches Modell möchten wir euch die Prisma-Lampe zeigen. Der Name stimmt nicht genau, hat sich aber so eingebürgert. Sie ist leicht herzustellen; geht es nach unserem Wunsch, dann hängt sie bald in vielen Kirchen, Wohnungen und Sälen des Erdkreises. Man nimmt eine oben offene Hohlkugel aus kräftigem, farblosem Glas und bemalt mit transparenten Glasfarben ihre Außenfläche. Recht bunt muß sie werden, sonst wäre sie kein Abbild jener "vielbunten Weisheit Gottes", die der Apostel rühmt. Außerdem sollen, überall verteilt, winzige Punkte frei von Farbe bleiben. Die bemalte Kugel ist bunt, aber noch nicht hell. Deshalb kommt in die Mitte eine Glühbirne. Sobald Strom fließt, leuchtet die Lampe in allen Farben. Je nach dem, wo der Betrachter steht, erblickt er ein rotes, grünes, blaues, goldenes oder sonstiges Zentrallicht.

Zunächst läßt die Prisma-Lampe uns begreifen, wie leicht es zu Fanatismus und Intoleranz kommt. Optikern wie Autofahrern ist Rot das Gegenteil von Grün. Nehmen wir nun an, beide Farben auf unserer Kugel seien bewußte Wesen. Dann sprächen sie etwa so: Ich bin rot und weiß mich hell. Du, o Grün, bist mein Gegenteil und mithin finster, wie man ja sieht (denn durch die rote Brille erscheint alles Grüne schwarz). Umgekehrt, o Rot, erwidert empört das Grün. Ich bin hell, du finster. Jedes hat darin unrecht, das andere sei finster, und darin recht, daß es selbst hell ist. Wo steckt der Fehler? Ein nachdenklicher Blick auf die Lampe zeigt uns: Die Gegensätze der Farben haben mit dem Widerspruch zwischen hell und finster so lange nichts zu tun, wie man jede Farbe unmittelbar selbst sieht. Nur der schwärzt eine fremde Farbe an, der mit anders gefärbtem Auge auf sie blickt.

Was tun? Jeder ist nun einmal so oder so gefärbt! Wie entgehen wir dem Fanatismus? Nun, zwar können wir oft nicht sehen, wie der uns Widersprechende anderseits auch recht hat - daran hindert uns die eigene Farbe. Wir können jedoch hoffen, der Gegensatz möge in Wahrheit nur der zwischen Rot und Grün sein, und nicht zwischen hell und finster. "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Sooft eine Gruppe, deren Lehren uns falsch scheinen, trotzdem gute Früchte bringt, immer dann sollen wir das eine Licht auch dort als anders gefärbte Helle hoffen, wo unser Auge schwarz sieht. "Selig die nicht sehen und doch glauben" - gilt diese Mahnung des Auferstandenen auch hier? Uns scheint: Nur in der Kraft solch mutiger Hoffnung entgehen wir der Gefahr, unsere Überzeugung - dadurch, daß sie fremde Überzeugungen als Irrtümer verdammt - selbst zur farbenblinden Ideologie zu erniedrigen. So triebe aber unser mangelnder Glaube an das Licht in fremden Farben gerade die wachsten unserer Mitmenschen in Zweifel und Langeweile hinein; rings von Ideologien umkläfft, hielten sie schließlich alles für gleichgültig statt, wie die Hoffnung lehrt, für gleich gültig. - Soviel zur Frage des Pluralismus.

Sehen wir nun von den Gegensätzen zwischen den Farben ab. Wie verhält eine Farbe sich zum Licht? Wüßte sie von sich, dann würde sie dem Licht von Herzen danken, denn ohne es wäre sie finster. Nicht aus sich leuchtet die Farbschicht, ihre Helle stammt allein vom innen strahlenden Licht. So aufgefaßt, erläutert unser Modell das Wesen aller Religion: demütig kehren wir Farben uns zu Gott, dem wir uns selbst und alles verdanken. Nicht als arme Farben erleben sich jedoch viele Menschen, sondern sogleich unmittelbar als hell. Kein Abhängigkeitsgefühl erfüllt sie, sondern der Stolz, selbst wer zu sein. Ich brauche keine Erlösung, ruft ein solcher Mensch aus. Sollen wir Christen ihm widersprechen? Wahrscheinlich staunt ihr jetzt, aber der Papst meint: nein. Warum nicht? Seht: diese Menschen haben nicht unrecht. Finster wären sie ja nur dann, wenn das LICHT zum Erlöschen käme; das ist aber undenkbar, das LICHT ist Gott selbst, dessen Wesen das Sein ist. Ein Schalter, dieses Licht zu löschen, ist weitaus unmöglicher als ein quadratischer Kreis. Folglich wollen wir den Widerspruch solcher Menschen gegen die Kirche nicht mit unserem ebenso einseitigen Widerspruch beantworten, sondern mit dem geduldigen Zeugnis unseres kat-holischen Glaubens, der ihre Position ein-schließt, nicht aus.

Auch auf den alten Zwist zwischen Glauben und Wissen wirft die Prisma-Lampe neues Licht. Betrachtet die Kugel und ihr merkt: die Farbschicht hat eine gewisse Dicke. In ihre Tiefe gräbt die Wissenschaft. So tief sie auch forschen möge, hat sie es stets mit der Oberfläche der Wirklichkeit zu tun. Die ist das Gebiet des Vielen, der reichen Sinnbezüge, der Spannungen, Konflikte, Farbmischungen. Wer aber als Archäologe in die Vergangenheitstiefen irdischer Kulturen hinabsteigt, hat deswegen noch keine Ahnung von dem glühenden Innern unserer Erde! Wer die Farbschichten der Kugel durchforscht, braucht gar nicht zu merken, daß mitten in ihr ein Licht leuchtet. Ja: so wenig könnte ein flächiger Wissenschaftler sich eine Mitte der Kugel vorstellen wie wir Wesen dreier Raumdimensionen eine Mitte des Kosmos! Die Helle darf ihm, wie gesagt, so selbstverständlich sein, daß er gar nicht auf den Gedanken kommt, sie könne einen Ursprung haben. Mehr noch: als Wissenschaftler muß ein Mensch die Quelle sogar leugnen. Denn sein Forschungsbereich ist alles, was es gibt; dem entspricht aber in unserem Gleichnis die grenzenlose Oberfläche der Kugel. Gott selbst. gehört nicht zu dem, was es gibt, "er wohnt in unzugänglichem Licht", ist weder über Sternen noch in Elektronen zu entdecken. Wissen und Glauben können sich darum nie streiten. Wo sie das scheinbar tun, hält sich entweder der Glaube irrtümlich für eine Art von Wissen (wie im beklagenswerten Fall Galilei) oder die Wissenschaft macht sich selbst zu einem Irr-Glauben.

Wieder anders wird die Beziehung zwischen LICHT und Helle von Indiens tiefsten Geistern aufgefaßt und auch bei uns von einigen Mystikern. Wenn du dich beim Anblicken der Lampe bewegst, dann siehst du ein Licht von Rot nach Blau und weiter wandern, nie gleich, doch stets dasselbe. Hängt deine Lampe in einem Kindergarten, dann schau jetzt den Kindern in die Augen, einem um das andere. Sehr verschieden erwidern sie dein Lächeln, kein Gesicht gleicht dem vorigen. Und doch: ist es nicht derselbe unendlich tiefe Blick, der dir aus allen Augen entgegenstrahlt? Die Mystiker sind überzeugt: wo jemand ich sagt, da bin es letztlich ICH, das ewige Selbst. Euch ist bekannt, Kirche und Mystik hatten ihre Schwierigkeiten miteinander. Schmerzlich gedenken wir etwa der Verurteilung von Meister Eckhart durch unseren Vorgänger Johannes XXII. im Jahre l329. Zur Förderung des Gespräches der Kirche mit Indien werden wir eine Kommission einsetzen mit dem Ziel, die Ehre dieses begnadeten Geistesmannes und damit auch das Schuldkonto der Kirche ihm gegenüber wenn möglich reinzuwaschen.

Aus tiefstem Herzen sind wir überzeugt: Nicht bloß eine Religion ist das Christentum, vielmehr die geheimnisvolle Einheit und Versöhnung von Religion, Atheismus und Mystik. Eine einseitige, dem platten Verstand unschwer faßbare Ideologie - und sei es die religiöse - kann nie und nimmer das Wesen des Christentums ausschöpfen.

Denn im Grunde ist das Christentum: Christus selbst. Der ewige SINN erleuchtet jeden Menschen, der in diese Welt kommt. Dank seiner sind die Farben aller Glaubensweisen hell. Eine dieser Farben ist auch das Weiß. Nicht ohne Zittern legen wir täglich den weißen Talar an; gewaltig ist der Anspruch dieser Farbe. Wieder helfe das Gleichnis unserer Lampe. An manchen Punkten bricht das Licht ungefärbt durch die Oberfläche. Egal von welcher Farbe sie umgeben sind, sehen sie alle gleich weiß aus. Sie bedeuten jene Menschen - sie wirken in allen ideologischen Verbänden - welchen das Gemeinsame der Menschen ihre Trennungen überwiegt. Jeder von ihnen fühlt sich in seiner Umgebung zuweilen isoliert, weiß sich aber dafür unsichtbar all denen verbunden, die inmitten anderer Farben ebenso von der Selbigkeit des Lichtes betroffen sind. Abrahamitische Minderheiten hat der hochverehrte Dom Helder Cámara sie genannt. Erleuchtet vom tröstlichen Innenschein des SINNes zieht jeder von ihnen seinen Weg. Treffen sie einander, so erblüht die gemeinsame Rast zum Fest.

Einmal in der Geschichte - so glauben wir Christen - ist Gott selbst ein solcher Mensch geworden. Auch dieses Ereignis können wir uns auf der Prisma-Lampe vorstellen. An einer Stelle der Oberfläche spiegelt ein winziger Kegel aus besonders geschliffenem Glas das von innen einfallende Licht entlang der Oberfläche weiter. Alle Punkte, zu denen dieser Strahl gelangt, werden darum vom Licht doppelt getroffen: das innere Licht macht in ihnen sich bunt und sie hell; das äußere strahlt uns Heutigen ebenso wunderbar wie im Verklärungsbericht den Jüngern: "Sein Antlitz leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie Schnee."

Eine Theologie nennt die Kirche den fortlebenden Christus. Als seine Leuchtspur bricht sie sich durch Jahrhunderte und Kontinente Bahn, in verschmutzten Spiegeln oft verdunkelt, in blinden mitunter fast ausgelöscht, vom direkten Licht aus dem Inneren immer neu verstärkt. Deshalb heißt die Kirche mit Recht kat-holisch, allumfassend. Ist das Licht, das sie horizontal weiterzustrahlen hat, doch das nämliche, welches von der unzugänglichen Mitte aller Wirklichkeit aus jede Wahrheitsfarbe hell sein läßt - und läge die noch so weit ab, sei sie noch so gegensätzlich zu jenen euch vertrauten Farben, welche auf seinem Weg durch die Geschichte der Christus-Schein auch schon historisch angeleuchtet hat.

Fern sei es uns Christen, unsere Denk- und Lebensformen für allumfassend zu erklären; nicht nur tatsächlich sind sie es nicht, nicht einmal wünschen dürfen wir, daß Gottes bunte Phantasie auf die schmale Palette der Farben beschränkt wäre, die der Christenheit bisher zu Gebote stehen. Umgekehrt allerdings laßt uns hoffen: alle Denk- und Lebensformen, die innerlich SINNvoll sind, mögen irgendwann auch vom Licht des menschgewordenen SINNes erreicht werden. Dann wird die innere Offenbarung - die einen jeden zu sich selbst macht, oft aber kaum mitzuteilen ist - endlich klar und allgemeingültig sein, weil sie übereinstimmt mit der Offenbarung in Raum und Zeit, die da heißt Jesus, Gott ist Heil. Kat-holisch ist die ganze Kirche Christi, nicht bloß die römische, in der sie - seit den Tagen der Apostel in ununterbrochener öffentlicher Existenz - juristisch am greifbarsten verwirklicht ist. Evangelisch ist die ganze Kirche, nicht nur jene Gemeinschaften, die sich Protestanten nennen, seit sie gegen die Mißbräuche der Papstkirche in Christi Namen mit Recht protestieren mußten. Orthodox ist die ganze Kirche, nicht allein die ehrwürdigen Gemeinden des Ostens, die sich seit langem so nennen. Auch zu den Jesus People und den vom Pfingstgeist Bewegten möchte der Papst sich in christlicher Hoffnung zählen dürfen, wenn seine Kirche diese Würdetitel auch nicht als Namen trägt. Zahllose wunderbare Eigenschaften hat Gottes Wein, freuen wir uns über die Vielfalt der Etiketten, unterschätzen wir nicht die Schärfe der Gegensätze, von denen an Eichentischen wie auf oinologischen Kongressen so weise und beredt gehandelt wird; doch geht es hier jeweils nur um verschiedene Mischungen derselben Wesenselemente. Jeglicher unverdorbene Wein taugt zum Sakrament; jede Kirche, die Christus als das Licht der Welt bekennt, ist Glied an seinem Leibe und steht mit uns in Gemeinschaft. Was daraus für das Kirchenrecht folgen soll, darüber möge das kommende Konzil beraten, zu dem wir alle Gemeinden einladen, die "von Jesus Christus ergriffen" sind. Schon jetzt heben wir mit sofortiger Wirkung alle kanonischen Beschränkungen der sogenannten Mischehe auf. Warnen müssen wir allerdings vor der unbesonnenen Folgerung, mithin sei alles egal und niemand brauche sich mehr einer bestimmten Kirche zugehörig zu fühlen. Schwarzbrot schmeckt anders als Weizen- oder Maisbrot, jedes schmeckt aber würzig und bestimmt. Das einzige Brot, das überhaupt nicht schmeckt, ist das Brot im allgemeinen. Noch so viel davon macht keinen Hungrigen satt. So gibt es auch außerhalb einer Kirche kein Heil für den Christen.

Nunmehr wenden wir uns an die Katholiken, die sich mit der römischen Kirche nur teilidentifizieren können. Liebe Schwestern und Brüder, wir täuschen uns nicht darüber, daß viele, die sich katholisch nennen und es auch sein möchten, den ausgestalteten Glauben der römischen Kirche nicht in allen Stücken teilen. Die meisten der alten Wörter sagen ihnen wenig, das differenzierte Lehrgebäude läßt sie kalt. Weitaus wohler fühlen sie sich in irgendeinem schnell improvisierten Zelt, wo sie mit Andersgläubigen zusammen von Jesu befreiendem Geist belebt werden. Trotzdem sind sie von der Weltkirche angetan, möchten nicht in Sekten zu Hause sein, sondern in der einen Kirche Jesu Christi, die er auf Petrus den Felsen gebaut hat. - Seltsamer Zwiespalt! Einerseits fühlen sie, wie recht der Modernist hatte mit seinem Spott: Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche. [Anmerkung 2001: Hier irrt der Papst. Nicht spotten wollte Loisy, vielmehr die geschichtliche Kirche bejahen.] Dieser Apparat, dieses bedrückende System, das kann doch nicht nach dem Willen des Mannes aus Nazaret sein, der den Menschen über den Sabbat und den Tempel unter das Gericht stellte. Anderseits wissen sie doch: ohne den Krug der Kirche hätte der Wein des Evangeliums sich nicht bis in unsere Zeiten gehalten.

Liebe Katholiken, denen es so ergeht: der Papst versteht euch. Zwei Ratschläge wollen wir euch geben. Was die theoretischen Lehren der Kirche angeht, so gilt der Grundsatz: man muß die Dogmen glauben, aber nicht unbedingt verstehen. Wenn der englische Brief eines chinesischen Freundes uns zum Teil unsinnig scheint, dann glauben wir trotzdem alles, was er uns mitteilen will, halten deshalb aber doch nicht das Unsinnige für wahr, was wir aus seinen Zeilen herauslesen. Selbst wenn das Mißverständnis sich nie aufklärt, was liegt daran? Klares genug steht auch im Brief. Praktische Weisungen der Kirche meinen nie unmittelbar die Tat des mündigen Christen, sondern sollen sein Gewissen erleuchten. Reagiert es negativ auf sie, dann gilt der Grundsatz, den jedes katholische Kind in der Katechismusstunde lernt: Seinem Gewissen soll der Mensch folgen.

Hoffentlich konnten wir euch verdeutlichen, was das Wort katholisch alles nicht heißt. Was bedeutet es aber positiv, und in unserer Zeit? Wir meinen: Kat-holisch (in dieser Schreibweise) könnte ein Erkennungszeichen werden für jene Menschen und Gruppen, die vom all-gemeinsamen weißen Licht angerührt und erfüllt sind, egal ob allein von innen oder auch mittels der geschichtlichen Überlieferung seiner raumzeitlichen Erscheinung in Jesus Christus. Natürlich kann die Einheit der Kat-holischen keine institutionelle sein; jedes derartige Unternehmen liefe darauf hinaus, den Geist zum Buchstaben zu machen, das reine Licht zu verfärben. Nicht alle Katholiken sind in diesem Sinne kat-holisch, viele andere möchten es sein, kennen unsere Kirche aber nur als eher dunkel eingefärbtes System. Daran läßt sich nichts ändern. Keine Organisation kann je das gemeinsame Haus aller Verfechter der Einheit sein. Doch erklärt die katholische Kirche, um ihrem Namen wenigstens prinzipiell zu entsprechen, die Beförderung der geistlichen Einheit in aller ideologischen Vielfalt hiermit ausdrücklich zu einem ihrer Hauptziele und erhebt sie zum Programm. Um von einem Leuchtturm Nutzen zu haben, muß man nicht in ihm wohnen; um sich am Fernsehprogramm zu erfreuen, braucht man nicht bei einer Rundfunkanstalt zu arbeiten; niemand muß Katholik werden, um kat-holisch zu sein.

"Selig die Armen im Geiste": die alle Schätze ihrer Traditionen, sämtliche fein ausgetüftelten Geistesgewebe, so wert sie ihnen auch sein mögen, dennoch gern beiseite lassen, ja verstecken, wenn sie dadurch eher mit einem Mitmenschen das Fest der Einheit feiern können. "Selig die Friedensstifter": wir denken an die beiden jungen Pfarrer zweier verfeindeter Dörfer, die werktags eifrig mit ihren Bauern Pläne ausheckten und rechtskundigen Rat erteilten, sich ihren partikulären Pflichten also nicht entzogen, jeden Sonntag aber weithin sichtbar entlang der Grenze brüderlich ihr Brevier beteten. Nur ein paar Monate lang hielten die Kriegshetzer das aus, dann war die jahrhundertelange Fehde erloschen. "Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen um meinetwillen", des einen Lichtes in allen Farben. Fürchtet euch nicht vor den Sturfarbenen, macht euch eins auch mit ihrer Helligkeit, dann helft ihr ihnen vielleicht doch eines Tages zum geistigen Sprung von der bestimmten Helle zum reinen Licht, das auch die scheinbare Dunkelheit nebenan erleuchtet.

Hütet euch aber vor pharisäischem Hochmut! Bei aller Reinheit ist auch Weiß eine Farbe. Die Herzen richtet nur Gott. Vor ihm gilt nicht bunt oder weiß, sondern allein, wie dünn die Schmutzschicht ist, die das Licht behindert. Wer einer abrahamitischen Minderheit angehört, ist nicht schon deshalb heiliger als irgendein naives Kind der Mehrheit. "Haben wir nicht in Deinem Namen Teufel ausgetrieben," allerhand Fanatismen und Verbohrtheiten? so werden Kat-holische den Herrn an jenem Tage fragen. "Er aber wird ihnen antworten: wahrlich, ich kenne euch nicht." Ob eine tapfere Tat in Liebe oder elitärem Dünkel geschieht, das bleibt dem Menschen verborgen. Diese Ungewißheit soll uns freilich nicht den Schwung rauben. Als dem heiligen Bernhard eine Predigt besonders gut gelang (hoffentlich war es kein Kreuzzugs-Aufruf), vernahm er plötzlich eine schmeichelnde Stimme: Prächtig, Bernhard, großartig gibst du es ihnen heute wieder, weiter so! Verdutzt lauschte er, merkte aber schnell, daß es der Teufel war. Was tun? Nicht zögerte der Heilige: Deinetwegen habe ich nicht angefangen, erwiderte er, deinetwegen höre ich auch nicht auf! Beifall von falschen Seiten darf euer weißes Licht nicht entmutigen.

Zum Schluß empfehlen wir euch, ganz konkret, eine neuartige geistliche Übung: den Prisma-Kreis. Die Gruppe setzt sich im Kreis, eine Person nimmt in der Mitte Platz. Von hier aus bestimmt sie das Gespräch. Sinn der Übung ist zweierlei. Die am Rande sitzen, sind kraft des Ritus vor der Versuchung geschützt, sich selbst in den Mittelpunkt rücken zu müssen. Weil sie es nicht dürfen, sind sie frei von den Zwängen der Hackordnung. Sie sollen die Mitte befragen, ihr zuhören, durch deren Augen die gemeinsame Welt allmählich anders sehen. Dabei wird langsam jenes unterschwellig wirkende Grundmodell, bei dem ich die Mitte vieler Kreise bin, von dem unvergleichlich wahreren abgelöst, bei dem ich zusammen mit jemand anderem die beiden Brennpunkte einer Ellipse bilde.

Wer in der Mitte sitzt, darf anderseits dank desselben Ritus sich dieser Position unbefangen freuen, braucht nicht um sie zu kämpfen. Menschen, die eher am Rand zu stehen gelernt haben, erleben bei dieser Übung mitunter zum ersten Mal kampflos ihre Würde. Man befragt sie, hört ihnen zu, geht auf ihre Perspektive aufmerksam ein. Manche sind von dieser Erfahrung tief erschüttert worden, fanden sich unversehens in einer verwandelten Welt - und waren beim nächsten Mal fähig, ihrerseits neidlos einen anderen in der Mitte sein zu lassen. - Was wir euch hier schildern, ist keine leere Theorie, sondern heilsame Erfahrung von Gruppen. Wir würden es begrüßen, wenn an der kirchlichen Basis viele solche Prisma-Kreise zu leben begännen; in dem Maße werden Menschen auch im Großen toleranter und verständnisvoller, wie sie es im kleinen Kreis lernen, angenommen und annehmend zu sein.

Es segne euch alle der dreieinige Gott, dessen Werke bunt und dessen Taten hell sind, der Vater, der Sohn, und ihre heilige Liebeseinheit.

*

Gegeben zu Rom am Fest der Verklärung Christi, dem 6. August ****

ALBINUS PP I.


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