Jürgen Kuhlmann

EINS-Mystik

Bei dieser Weise von Mystik bezieht der Mensch sich weder auf das innerste SELBST noch auf sein göttliches DU. Wen der Geist des Zen noch so leicht streift, dem offenbart die Einheit des Ganzen sich nicht als Ich-Punkt in uns oder als Du-Punkt über uns. Sondern wie? Als "Offene Weite". Allwärts geht die Richtung. Was ist es mit Buddha? Drei Pfund Hanf. Was ist der Sinn des Lebens? Kartoffeln schälen. Man setze sich still und gerade hin, schaue ruhig auf einen Punkt vor sich und denke nicht. Oder wolle wenigstens nicht. Nicht nichts: nicht. Vielleicht geschieht dann irgendwann Satori, die Erleuchtung. Die unerkennbare Einheit von Vorder- und Hintergrund, der Grund selbst, wird geahnt. Schon die geringste, stümperhafteste Erfahrung dieser Art hat heilende Wirkung.

Anders als kosmische Wonne hat mystische Einheitserfahrung nichts Rauschhaftes. Sie ist im Gegenteil die allergrößte Nüchternheit. Der Ego-Schwips ist weg. Ich empfinde die bestimmte Perspektive meines Sonder-Ich nicht länger als die alles strukturierende Hauptwirklichkeit. Dinge, Lebewesen, Mitmenschen: sie sind, unabhängig von meinem Standpunkt. Der Zaunpfosten in der Morgensonne fungiert nicht bloß als Ding-für-mich, sondern ist. Damit meine ich aber kein geheimnisvolles Leuchten aus verborgener Tiefe heraus, nein, eher umgekehrt: sein Geheimnis ist, daß es da gar kein Geheimnis gibt. Er gehört dazu als eben das Ding, das er ist. Er und ich und alle und alles, wir sind. In der Einheit, die uns sein läßt, gehe ich auf. Nicht wie das Salzkorn in der Suppe (es ist weg) noch wie das (ersetzbare) Ventil im Motor. Eher wie der Ton im Gewoge der Sinfonie: unersetzbar, als dieser wichtig, und doch gar nichts Besonderes im Vergleich zu den anderen Tönen, denn jeder gehört dazu.

Versuchen wir, diesen Einheitsbegriff schärfer zu erfassen. Keinesfalls dürfen wir das Besondere für unwichtig und nur das Allgemeine für absolut erklären; so fielen wir genau in den schlimmen Fehler aller Ideologien, die das Einzelne nur als Unterfall des Allgemeinen gelten lassen; Inquisition und KZ sind die logischen Folgen. Aller Menschen Einheit ist gerade nicht die "Menschheit", weder als Abstraktion noch als Kollektiv. Was aber dann?

Buddha selbst lehnte metaphysische Spekulationen ab: Wer einen Pfeil im Leib hat, fragt nicht nach dessen Natur und Eigenschaften, sondern tut alles, ihn herauszuziehen. Leid ist das Vorzeichen, mit dem Buddha alle Wirklichkeit versehen sieht. In jedem Leid zerbricht eine der endlichen Gestalten, mit denen ich mich identifiziere, geschieht deshalb das Ende der Geschichte, der Durchbruch ins Heil, die Aufhebung des Wahns meiner negativen Individualität. Was ist das?

Ist Hans stolz, daß er Hans ist, dagegen ist nichts zu sagen; denn Hans gehört dazu. Sobald Hans sich aber etwas darauf einbildet, daß er nicht Gretel oder Gianni ist, dann verdirbt sein Stolz zum Hochmut. Denn die eine Wirklichkeit ist Gretel und Gianni und Hans. Sofern ich also nicht jene bin, insofern gehöre ich keineswegs dazu, sondern bin nichtig. Wir alle wissen schmerzlich, wie real diese Nichtigkeit in uns ist. Insofern ich mein Nicht-jene-Sein in freiem Fehlvollzug mit mir selbst verwechsle, insofern bin ich noch im Unheil. Den Drang, nicht jene zu sein, nenne ich negative Individualität. An Jesus und von den Buddhisten sollen wir lernen, diesen Wahn zu lassen und so in der Einheit aufzugehen.

Worin besteht, dann, der Zustand des Heils? Das kann nur erfahren, nicht mehr mit Worten vermittelt werden. Denn meine sämtlichen Verständnisraster gründen darin, daß ich dieser und nicht jene anderen bin; jede konkrete Begriffswelt ist geschichtlich, individuell. Von aller deutenden Besonderheit ungetrübt ist allein die reine Erfahrung des all-gemeinsamen Seins. Wer die ungedeutete Wirklichkeit konzentriert erfahren möchte, geht am besten in die Schule der Buddhisten, vor allem des Zen. Konzentration auf Erfahrung ist eine Technik (Weinprobierer wissen das), und eine Technik soll man bei dem lernen, der sie besonders gut eingeübt hat.

Schon bis in den Sportteil deutscher Zeitungen ist Zen vorgedrungen. Es gehe darum, "der Entfremdung des Menschen entgegenzuwirken", betont der Trainer der deutschen Kendo (Schwertkampf)-Sektion [F.A.Z vom 5. 4. 1979, S. 20]. Was ist Zen? Das wisse er nicht, sagte ein berühmter Meister, man könne es nicht sagen. Und fuhr fort: "Eine Beschreibung darüber, was Zen ist, unterscheidet sich vom wirklichen Zen ebenso wie eine Aussage darüber, wie es tut, wenn man seinen Finger in kochendes Wasser steckt, von der persönlichen Erfahrung, die man macht, wenn man es wirklich tut" [Karlfried Graf Dürckheim, Zen und wir, Weilheim 1972, S. 81. Dieses Werk sei allen empfohlen, die Zen verstehen wollen]. Schweigen allein ist freilich nicht die Lösung. Auch Steine schweigen. Den Zen-Meistern geht es um Befreiung von einseitigem Wissen, mag dieses vom Absoluten entweder sprechen (es verendlichend) oder schweigen (es mit dem Nichts verwechselnd). Mit allerhand Paradoxen versucht der Meister, im Jünger die Spannung bewußt zu halten, die Balance, in der Unendliches und Endliches miteinander stehen. Nicht das (doch irgendwie gegenständlich vorgestellte) Unendliche an sich, sondern jene schwebende Stereospannung ist ihnen die absolute Wirklichkeit.

Das folgende berühmte Koan (etwa: Rätselgedicht) aus China ist um die tausend Jahre alt. Ein Mönch fragte einmal Meister Fuketsu: Reden und Schweigen stimmt beides nicht zur doppeldeutigen Wirklichkeit. Wie können wir frei und an nichts gebunden sein? Fuketsu sagte: Wie gern gedenke ich an Konan in der Märzenzeit, die Rebhühner rufen im Duft der Blumen [Momonkan, Fall 24. Vgl. Toshihiko Izutsu, The Philosophical Problem of Articulation in Zen Buddhism, Revue internationale de Philosophie 1974, 165-183].

Ein Gedicht als Antwort auf eine philosophische Frage? Ja; während in Alltags- und Fachsprache die .Wörter geschlossen sind, auf umgrenzte Gegenstände verweisen, sind die Worte der dichterischen Sprache zueinander und auf das Ganze hin offen. "Rebhühner", "Blumenduft" bedeutet hier nicht Objekte der Biologie und Chemie, sondern jene unaussprechliche Gesamtstimmung, an die der Sprecher sich bei der Nennung der Rufe und Düfte wieder er-innert.

Ein weiteres Beispiel: Wu-Di von Liang fragte den Großmeister Bodhidharma: Welches ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit? Bodhidharma sagte: Offene Weite - nichts von heilig. Der Kaiser fragte weiter: Wer ist das, Uns gegenüber? Bodhidharma erwiderte: Ich weiß es nicht. Der Kaiser konnte sich nicht in ihn finden" [Bi-yän-lu, Niederschrift von der smaragdenen Felswand, verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert, München 1960, S. 37. Laut Dürckheim das Grundbuch des Zen].

Wilhelm Gundert, der deutsche Herausgeber dieser klassischen Zen-Texte, erläutert: "'Ich weiß es nicht', das ist das einzig Wahre, was jeder von sich selber sagen kann, wenn er der Frage: Wer bin ich eigentlich? auf den Grund geht. Darum ist mit Bodhidharma auch der Kaiser angesprochen, und nicht nur er. Um dieses eigentliche Ich geht es, ob ausgesprochen oder nicht, in jedem Beispiel unserer Sammlung."

Was sollen wir Westler aber tun? Zen läßt sich nicht aus Büchern lernen, einem japanischen Meister können wir uns nicht anvertrauen. Graf Dürckheim, der selbst acht Jahre in Japan gelebt hat, rät: "Was im Osten der Meister, der einen Schüler neu aufnimmt, erst tun muß, um in ihm die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen er zur Erfahrung bereit wird, bringt der zum Suchen Erwachte im Westen schon teilweise mit. Gerade weil der westliche Mensch sein Ich immer selbstverständlich bejahte, den Anspruch seiner Individualität hochhält, gegen die Schicksalsgewalten mit eigener Kraft ankämpft und sich schließlich im Netz seiner Begrifflichkeit, seiner Techniken und Organisationskünste immer mehr verfängt, gelangt er von selbst an die Grenze, an der er für das bereit wird, was ihn jenseits der Grenze erwartet. Sind wir aber selbst wirklich zu Wanderern an der Grenze geworden und haben wir einmal, aber unabdingbar, den Ruf von 'drüben' vernommen, dann sind wir auch fähig, die Stimme des Meisters zu hören, die in den Grenzsituationen des Lebens in unserem Inneren ertönt und uns zur Umkehr und auf den Weg ruft. Wir ahnen schon die offene Weite in uns, die sich auftut, wo das Gebäude zerbricht, in dem wir uns bisher ver-hielten. Dann aber ist es nicht mehr weit zur Bereitschaft, durch selbst auferlegte Übungen den Weg in die Freiheit zu suchen. Wer sich seiner Gefangenschaft in fixierten Vorstellungen und Ordnungen bewußt wird, wird zum Weg bereit, auf dem man sich in seiner Not ernst nimmt, das zuinnerst Erfahrene zur Einsicht erhebt und in selbst auferlegter Zucht den Alltag selbst zur Übung macht" [Zen und wir, S. 133].

Sinn solcher Übung ist es, sich auf eine Erfahrung zu konzentrieren, ohne sie zu deuten. Waldlauf, Abspülen, Baby wickeln, Bier trinken, Musik hören, Trambahn fahren - jegliches Tun, das keine Hingespanntheit auf komplizierte Zusammenhänge fordert, läßt sich auf zweierlei Weise vollführen. Entweder ich deute, weiß mich in eine bestimmte geschichtliche Struktur eingebunden: Trimmen, Haushalt, Ernährung, Freizeitbeschäftigung (eines der entlarvendsten Wörter von heute!), Ortsveränderung. Oder aber - das wäre Zen - ich meditiere gelassen über das Wunder des Seins in der Kartoffelschale und bei jedem Atemzug. Wissen ist so nötig wie Kleider im Winter, doch nackt Baden tut gut, der leiblichen Haut und erst recht dem eingeengten Gemüt. "Ein Mensch fragte Dungschan: Was ist es mit Buddha? Dung-schan erwiderte: Drei Pfund Hanf" [Bi-yän-lu, S. 239].

Der Buddhismus, heißt es, sei eine Religion ohne Gott. Das stimmt: Ein - theistisch - als unendlicher Jemand vorgestellter Gott hat in der Eins-Dimension keinen Raum. Ein Embryo kennt seine Mutter nicht als Person. Ob man trotzdem von Religion sprechen will, ist eine Frage nicht der Wahrheit, sondern der Definition. Hat Religion mit dem zu tun, was "uns unbedingt angeht" (Tillich), dann ist auch diese Sinnweise religiös. Wie erscheint Gott in ihr?

Stellvertretend für den Reichtum einer Weltreligion können hier nur einige Beispiele stehen. Zunächst ein kurzes Gespräch aus China um 950: "Ein Mönch befragte Fa-yän mit folgenden Worten: Hui-tschau hat mit dem Ehrwürdigen etwas zu besprechen: Was ist es mit Buddha? Fa-yän erwiderte: Du bist Hui-tschau."

Schön kommentiert Gundert: "Die Frage nach Sinn und Inhalt des Namens Buddha ist die Kernfrage des Buddhismus, welche jeder stellt, der sich mit dieser geistigen Macht beschäftigt ... Man erwähnt ein Wort an seine Jünger, das ihm zugeschrieben wird: Ich bin gewordener Buddha, ihr seid werdende Buddhas. Buddha werden ist das Wichtige, nicht was Buddha war. Das steht bei Hui-tschau, welcher hier zu Fa-yän kommt, im Vordergrund ... Er weiß genau Bescheid in allem, was Buddha betrifft, er kennt die ganze Überlieferung, er verehrt den Buddha als das Höchste und übt sich täglich, ihm gleich zu werden. Doch je weiter er vorankommt, um so weiter rückt das Ziel nur von ihm weg, um so undurchsichtiger wird ihm die ganze Buddhafrage. In dieser Not sieht Fa-yän ihn nun kommen; er kennt sie, und wahrscheinlich wartet er schon lange auf diesen Augenblick. Er sieht genau den Splitter in des Fragers Auge, der ihn am Sehen hindert. Der Splitter ist nichts Anderes als eben jener Name: Buddha. Den meint er immer noch vor sich und außer sich zu haben, der ist für ihn noch immer eine fremde Sache. Auf diesem Weg kommt er freilich nie zum Ziel ... Kein Wort also von Buddha. Du bist Hui-tschau, das genügt. Nichts anderes hat diesem Mann gefehlt, als einmal bei seinem Namen gerufen zu werden. Überlegung braucht es dabei nicht. Hui-tschau weiß im seIben Augenblick schon alles. Und sieht, wie Yüan-wu es im Hinweis ausdrückt, in sich und um sich große Lichteshelle" [Ebenda S. 166 u. 178 ff].

Hier geht es um die Einheit des Einzelnen mit dem Eigentlichen; im folgenden Text des Japaners Dogen (1200-53) wird auch die Natur in die große nüchterne Einheit einbezogen: "Der Geist ist Bäume, Ströme und die große Erde, ist Sonne, Mond und die Sterne. Wenn man über diese Aussage hinaus voranschreitet, kommt Ungenügen; wenn man hinter ihr zurückbleibt, wird es falsch. Der Geist von Bergen, Strömen und der großen Erde ist nichts anderes als Berge, Ströme und die große Erde. Da sind weder Wellen noch Wogen, weder Wind noch Rauch. Der Geist von Sonne, Mond und den Sternen ist nichts anderes als Sonne, Mond und die Sterne. Da ist kein Nebel, da ist kein Dunst. Der Geist von Geburt und Tod, Kommen und Gehen ist nichts anderes als Geburt und Tod, Kommen und Gehen. Da ist keine Trübung, da ist keine Erleuchtung. Der Geist von Wänden und Kieselsteinen ist nichts anderes als Wände und Kieselsteine" [zitiert von H. Dumoulin, Der Erleuchtungsweg des Zen im Buddhismus, Fischer TB Frankfurt/M 1976, S. 124].

Die Morgen- /Abendsonne scheint ins Küchenfenster und bringt jede Farbe voll zu sich. Der unbegreifliche Friede des Ganzen erfüllt das Herz. Was ist der Sinn des Lebens? Brot, Tomate, Zwiebel schneiden. Sonst nichts? Sonst nichts. Dem kosmischen Erwachen / Einschlafen im warmen Bett entspricht das mystische Erwachen / Sich Lassen unter dem weiten Himmel. Kann man von seiner großen Einheit reden? Kaum, aber erzählen, was erleuchtetes Schweigen bewirkt. Nach alter Vorlage tut es Hermann Hesse:

Meister Djü-dschi war, wie man uns berichtet,
Von stiller, sanfter Art und so bescheiden,
Daß er auf Wort und Lehre ganz verzichtet,
Denn Wort ist Schein, und jeden Schein zu meiden
War er gewissenhaft bedacht.
Wo manche Schüler, Mönche und Novizen
Vom Sinn der Welt, vom höchsten Gut
In edler Rede und in Geistesblitzen
Gern sich ergingen, hielt er schweigend Wacht,
Vor jedem Überschwange auf der Hut.
Und wenn sie ihm mit ihren Fragen kamen,
Den eitlen wie den ernsten, nach dem Sinn
Der alten Schriften, nach dem Buddha-Namen,
Nach der Erleuchtung, nach der Welt Beginn
Und Untergang, verblieb er schweigend,
Nur leise mit dem Finger aufwärts zeigend.
Und dieses Fingers stumm-beredtes Zeigen
Ward immer inniger und mahnender: es sprach,
Es lehrte, lobte, strafte, wies so eigen
Ins Herz der Welt und Wahrheit, daß hernach
So mancher Jünger dieses Fingers sachte
Hebungen verstand, erbebte und erwachte."
[Zen und Wir, S. 90. Original in der Sammlung Bi-yän-lu, S. 341]

Keineswegs auf den "Herrgott da droben" weist der Finger (die Geste entgeht nicht der Zweideutigkeit aller Zeichen), vielmehr auf die offene Weite des Himmels, der alle Gegensätze überwölbt. Solch "gottloses Gottesbild" scheint jemandem, der im bisherigen Christentum aufgewachsen ist, zunächst blanker Unsinn. Vielleicht läßt dieser Eindruck sich durch die folgenden Überlegungen in gespannte Nachdenklichkeit wandeln.

Es gibt in der christlichen Überlieferung einige ausdrücklich pantheistische Sätze, wo also die Begriffe "Gott" und "Alles" verbunden sind [Ob ein Katholik Pantheist sein darf, hängt vom genaueren Sinn dieses Begriffes ab. Siehe dazu meine dogmengeschichtliche Untersuchung "Der Pantheismus-Begriff des I. Vatikanischen Konzils" im Anhang von "Gott Du unser Ich", S. 169-176]. "Durch Gott erreicht alles sein Ziel, und durch sein Wort ist alles geordnet. Noch vieles könnten wir anführen und kämen doch an kein Ende. Der Rede Schluß sei also: ER IST ALLES. Wie können wir ihn preisen? Er ist ja noch größer als alle seine Werke" (Sirach 43,26 ff). -"Wenn ihm aber alles untertan geworden ist, dann wird sich auch der Sohn dem Vater unterstellen, der ihm alles unterworfen hat, damit dann GOTT ALLES IN ALLEM sei." (1 Kor 15,28) -"Aller Dinge Einheit ist Gott," sagt der Cusaner in einer Predigt [Nikolaus von Cues, Predigten, Heidelberg 1952, S.382].

Gott ist Alles - dieser Satz ist dialektisch, d.h. es wird da eine Stereo-Spannung ausdrücklich thematisch. Beim ersten Lesen verträgt das Subjekt sich scheinbar nicht mit dem Prädikat, so daß man von der Aussage aus wieder zum Anfang zurückmüßte, um ihn anders zu verstehen als zuvor. Da nun die meisten Menschen (Prälaten eingeschlossen) zu dialektischem Denken kaum bereit sind (es strengt an), werden pantheistische Sätze in der Christenheit üblicherweise harmlos-fromm verstanden. Wer Gott ist, weiß man längst, der höchste Jemand nämlich. Daß er überdies irgendwie Alles sein soll, macht die Übermacht der Überperson höchstens noch gewaltiger. Zu welchem Ergebnis kommt statt dessen christlich-pantheistische Dialektik? Sie löst derlei Sätze vom Prädikat aus: "Alles" bedeutet irgendwie die Gesamtheit der wirklichen Dinge und Personen aller Universen, jedes in seiner ausgeprägten Konkretheit genommen, von den Krümeln auf dem Tisch bis zur Glut der fernsten Sonne. Und dann vernehme ich, dies alles, nämlich die Einheit aller Wirklichkeit, sei Gott. Wahrlich, das ist nicht der Gott des Theismus. Dessen höchster Jemand kann nur über den Dingen sein, und wenn in ihnen, dann wie ein Höherer in unserer Mitte. Der Gott der Eins-Mystik hingegen ist der objektivierenden Vorstellung unfaßbar, weil "er" gerade nicht über, neben oder in den Dingen sich befindet, überhaupt kein Er (auch keine Sie) ist, sondern unser aller vor- wie nachgeschichtliche Einheit.


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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