Jürgen Kuhlmann

Sind wir frei?

Über den Unterschied
von Wahl und Entscheidung

Im philosophischen Dauerstreit, ob unser Wille frei sei oder nicht, gelangt die Hirnforschung derzeit zu einem neuen Argument gegen die Freiheit: Bei Entschlüssen, die vom ausdrücklichen Gefühl der Freiheit begleitet sind ("will ich dieses Glas jetzt austrinken oder nicht?") läßt das entsprechende Gehirn-Potential sich bereits kurz vor dem Entschluß nachweisen.

Aus einem Artikel in "Bild der Wissenschaft" [im Internet gefunden]:

"Ist der freie Wille des Menschen nur eine Illusion?

Hirnforscher stellen eine Grundkategorie des menschlichen Selbstverständnisses in Frage: die Willensfreiheit. Seit einigen Jahren haben sie deutlich gemacht, wie entscheidend neuronale Prozesse für das Verhalten sind, und veränderten somit manches am traditionellen Bild vom Menschen. "Der freie Wille ist nur eine nützliche Illusion", sagt der Neurobiologe Gerhard Roth (Universität Bremen). Er veröffentlichte kürzlich die grundlegende Arbeit "Fühlen, Denken, Handeln".

Viel Beachtung fanden Experimente des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet. Sie legten manchem Beobachter den Schluss nahe: Menschen tun nicht, was sie wollen, sondern sie wollen, was sie tun.

Libet hatte Versuchspersonen gebeten, spontan den Entschluss zu fassen, einen Finger oder die ganze Hand zu bewegen, und dabei den Augenblick der Entscheidung mit einer Uhr festzuhalten. Protokolliert wurden dann erstens dieser Zeitpunkt, zweitens der Zeitpunkt, an dem sich erstmals ein so genanntes Bereitschaftspotenzial als Vorbereitung der Bewegung im Gehirn aufbaute, und drittens der Zeitpunkt der tatsächlichen Bewegung. Das Ergebnis war eine überraschende Reihenfolge: Der bewusste Entschluss zur Handlung trat 0,2 Sekunden vor dem Bewegungsbeginn auf, aber erst mehr als 0,3 Sekunden nach dem Beginn des Bereitschaftspotenzials.

Kann also das Wollen gar nicht die Ursache der neuronalen Aktivität sein? Für Gerhard Roth tritt der Willensakt tatsächlich erst auf, nachdem das Gehirn schon entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird. Für Libet selbst bedeutet sein Ergebnis, dass die Macht des Willens eingeschränkt ist. Der Wille sei kein Initiator, sondern ein Zensor."

Das ist erstaunlich. Anscheinend wird die Handlung demnach vom Gehirn aus allerlei Faktoren und Motiven automatisch errechnet und das Resultat dann dem Bewußtsein samt dem begleitenden Freiheitsgefühl mitgeteilt, so daß sie frei zwar im Sinn von ungezwungen ist, nicht aber im Sinn von unbestimmt. Auf die Frage, was dann die Funktion des Willens noch sei, heißt er im letzten Satz ein Zensor.

Als ich das las, erinnerte ich mich an eine ähnliche These in meinem ersten wissenschaftlichen Aufsatz und ein quasi-mystisches Erlebnis. Mit 22 Jahren stand ich einst am Rand der Terrasse im neunten Stock des Germanikums, mit weitem Blick hinüber nach St. Peter, und wußte auf einmal: Meine scheinbare Wahlfreiheit ist eine Illusion. Alles Gute wird in jedem Augenblick von Gott erschaffen, aus sich kann ein Geschöpf nichts tun. Nichts - außer der Sünde, dem "Nichts höherer Ordnung". Beim heiligen Augustinus hatte ich gelesen: "Peccatum nihil est, et nihil fiunt homines cum peccant." Die Sünde ist nichts, und nichts werden die Menschen wenn sie sündigen. Wunderbarer Friede hat mich damals erfüllt. Mein Geschick, mein ganzes Leben liegt in der machtvollen Hand Deiner LIEBE, mir sei es genug, nicht die einzig mögliche Freiheit zu mißbrauchen, aus DIR hinaus ins Nichts zu springen.

Ich veröffentliche den Essay vom Januar 1959 ohne Änderung. Anscheinend ist er ja im Einklang mit dem Ergebnis jener Hirnforschung, wissenschaftlich also auf dem neuesten Stand. Theologisch sei nur die Ergänzung vorangestellt, daß der Gegensatz zwischen böser und guter Entscheidung nicht von dem jeweils herrschenden Gottesbild bestimmt werden darf, sondern von Gottes wahrem Willen: der LIEBE. Mord im Namen Gottes wäre böse. Nur an deinem Antlitz, mein Mitmensch, entscheidet sich meine Freiheit; es zu verletzen gedrängt soll ich mich - im Leeren duldend - etwas zu tun solange weigern bis ich das nicht mehr will.

November 2001

Fortschritt am Glück vorbei

Daran denke ein jeder, daß er soviel vorankommen wird in allen geistlichen Dingen, wie er herausgeht aus seiner Eigenliebe, seinem Eigenwillen und seinem Eigeninteresse.

(Ignatius von Loyola, Exerzitienbüchlein Nr. 189)

Würde irgendeiner, der ein guter Christ sein möchte, unversehens gefragt, ob er diesen Satz des heiligen Ignatius wohl für wahr halte, dann würde er wahrscheinlich nach einigem Zögern ja sagen. Er würde ihn als die geglückte Form empfinden, in der ein Meister des geistlichen Lebens scharf und knapp eine Glaubensüberzeugung ausgedrückt hat, die, freilich weniger fest umrissen, auch seine eigene ist. Das bedeutet aber in keiner Weise, daß wir hier einen leicht- oder gar selbst-verständlichen Satz vor uns haben: Im Gegenteil: Wer ihn wörtlich zu nehmen versucht, steht sehr bald vor einem Rätsel. Jedes tiefere Verständnis irgendeines Ausspruchs setzt aber doch wohl damit ein, daß man ihn einmal möglichst wörtlich nimmt. Erst wenn die dabei auftauchenden Schwierigkeiten behoben sind, kann er auf die in ihm verborgenen Schätze hin angegangen werden. Das Fo1gende möchte nun durchaus nicht eine umfassende theologische Erklärung des vorangestellten geistlichen Grundsatzes sein, sondern nur eine Art philosophischer Aufhellung.

Daß wir es bei ihm nicht mit einer Binsenwahrheit zu tun haben, ergibt sich sehr schnell, wenn wir nach ihm nun auch die Einwände anhören, die viele und auch etwas in uns gegen ihn bereit haben. Sie lassen sich glaube ich alle in diesen einen zusammenfassen: Wir sind doch vom Gott des Lebens geschaffen, um in Fülle das Leben zu haben (Joh 10,10). Wie kann dann die Vollkommenheit, der Fortschritt, im Einschränken des Lebens bestehen? Wenn wir Gott lieben, lieben wir auch uns am vollkommensten. Aus der Liebe zu uns heraustreten, wie der hl. Ignatius es empfiehlt, heißt das nicht auch Gott verlassen? Bewundern wir an den Heiligen nicht gerade die herrliche Leichtigkeit, mit der sie ohne inneren Krampf aus Liebe zu Gott die widerlichsten und unmöglichsten Dinge vollbringen? Sind sie weniger heilig, weil ihre Heiligkeit ihnen leichtfällt? Die Freiheit der Kinder Gottes ist doch himmelweit verschieden von jeder Art selbstquälerischer Aszese?

Soviel ist klar: Sowohl in unserem Grundsatz wie auch in den verschiedenen Behauptungen des einen Einwandes steckt Wahres. Der hl. Ignatius hat aber bestimmt nichts Falsches gemeint. Sicher richten sich die Angriffe nicht gegen die Wahrheit, die er ausdrücken wollte, sondern gegen ein unvollständiges Verständnis des von ihm Gemeinten. Sehen wir also zu, wie wir seinen Satz so verstehen können, daß er deutlicher die eine Wahrheit erkennen läßt, die eigentlich meint, wer immer über diese Frage eine ernste Meinung hat.

Nageln wir zuerst die Schwierigkeit, die es zu lösen gilt, genau fest. Einerseits soll der geistliche Fortschritt darin bestehen, daß ich auf eigenes Wollen und Lieben und Interesse verzichte; andererseits ist derselbe Fortschritt nichts anderes als immer festeres Wollen und glühenderes Lieben meines tiefsten Interesses, nämlich Gottes und meiner selbst als seines Kindes. Wie soll ich fester wollen, indem ich alles Wollen aufgebe? Interesse ist im Deutschen kein schönes Wort; sagen wir stattdessen Glück: Dann ist dies das Paradox: Um meinem einzig entscheidenden Glück näher zu kommen, es fester zu erfassen, muß ich aufhören, mein Glück zu wollen. Dazu erheben sich zwei Fragen: 1. Wie ist das zu verstehen? und 2. Selbst wenn es verständlich gemacht werden kann, kann ich die Bedingung überhaupt erfüllen? Steht es in meiner Macht, etwas anderes zu wollen als mein Glück? Sowohl ein Blick in unser eigenes Innere wie die richtige Philosophie wird uns belehren: Nein. Das Glück ist das letzte Ziel, das notwendig überall mitgewollt wird und nie abgelehnt werden kann. Und doch sagt der hl. Ignatius: Solange ich mein eigenes Glück liebe, liebe ich Gott zu wenig. Wollen wir folgerichtig sein, müssen wir also schließen: Da wir, sooft wir überhaupt irgend etwas wollen, immer unser Glück mitwollen; dies aber eben nicht geschehen darf, wenn wir fortschreiten sollen, so dürfen wir in irgendeinem Sinn überhaupt gar nicht wollen! Das klingt widersinniger als irgend etwas vorher. Gar nicht wollen das einzige Mittel, im geistlichen Leben zu wachsen? Lassen wir diese dunkle Wahrheit jetzt einmal als Frage stehen und arbeiten wir uns von einer anderen Seite her an ihre Lösung heran.

Was geht eigentlich vor sich, wenn ein Mensch - er heiße Herr Schmitz - etwas will? Zunächst hat er ein Ziel, sagen wir: ein Haus zu bauen. Darauf denkt er nach, wie er es anstellen müsse, dies Ziel auf dem kürzesten und leichtesten Weg zu erreichen. Er überlegt hin und her. Endlich hat er die passenden Mittel gefunden und nichts steht im Wege, diese nun zu wollen und den Bau ins Werk zu setzen. An diesem Vorgang ist nichts unverständlich, nichts geheimnisvoll; alles geschieht im vollen Licht der Vernunft. Doch eine unerklärte Voraussetzung haben wir gemacht: Angefangen hat alles mit dem Ziel, dem geplanten Hausbau. Wie kommt Herr Schmitz dazu, dies Ziel zu wollen? Vielleicht war diese Überlegung vorausgegangen: Ich muß meine Familie anständig unterbringen. Da kann ich entweder in eine größere Wohnung umziehen oder ein Haus kaufen oder uns selbst ein neues bauen. Nachdem er eingesehen hatte, daß es am besten für sie sei, ein neues Haus zu bauen, hatte er das gewollt. So könnte es gewesen sein.

Es könnte auch anders gewesen sein: Vielleicht hatte es keine vollbewußte Überlegung gegeben, sondern das Motiv war halb unbewußt dieses gewesen: Ich bin eigentlich zum Architekten geboren. Widrige Umstände haben mich verhindert, es zu werden; aber jetzt, wo ich es mir leisten kann, muß ich unbedingt ein Haus nach meinen eigenen Plänen bauen. Das Ziel ist einfach gegeben und nichts, was seine Frau und seine besten Freunde anführen und einwenden mögen, wird Herrn Schmitz von seinem Lieblingswunsch abbringen; es sei denn, er ziehe den häuslichen Frieden der Bestätigung seines Künstlertums vor. Nach welchem Maßstab wird er diese Wahl aber treffen? Welche Frage wird er, mehr oder weniger bewußt, an die beiden unvereinbaren Werte richten? Einzig und allein diese: Welche von euch ist bedeutender für mein Glück? Welcher Verzicht würde mich unglücklicher machen? Weiter kann Herr Schmitz nicht zurückgehen. Sein Glück ist das tiefste, das alles bestimmende, das letzte Ziel. Die Antwort auf die Frage nach dem größeren Glück entscheidet unfehlbar den Ausgang der Wahl.

Und diese Antwort ist durch und durch bestimmt von dem, was der Wählende im Augenblick der Wahl ist, von den Anlagen, mit denen der Schöpfer ihn ausgestattet hat, von den Meinungen, die um ihn herum Gültigkeit haben, von den äußeren Umständen, die Gott ihm durch anderer Geschöpfe Handeln vorgegeben hat; von den Neigungen, den Süchten und Ängsten, die er teils als Geschenk, teils als Strafe Gottes in sich trägt. So geht vor sich, was man das Wollen der Natur nennen kann: Ein Ziel ist vorgegeben und die von der Vernunft als am besten zu ihm hinführend erkannten Mittel werden unfehlbar gewollt.

Oft kommt es zu einem Widerstreit zweier Ziele: Dann entsteht zuerst der Zustand einer zu jeder Tat unfähigen Starre, bis es dem Menschen je nach Veranlagung leichter oder schwerer gelungen ist, die Ziele zu übersteigen und beide als Mittel hin zu einem tieferen, bedeutenderen Ziel einer Wahl zu unterwerfen; die geschieht dann auch. Und wieder kann es geschehen, daß auch dieses Ziel sich mit einem anderen als unverträglich erweist. Wieder müssen beide überstiegen und einem höheren untergeordnet werden. Das letzte Ziel, das auf keine Weise überstiegen werden kann, ist das Glück. Immer wird bei einer Wahl die Waagschale gewichtiger sein, in der das Glück des Menschen liegt. Und wonach bestimmt sich, wo es sich findet? Nicht nach einer wahrhaft freien Wahl des Menschen; denn wie wir ja eben gesehen haben, ist das Glück das letzte Ziel; über das letzte Ziel kann aber - das besagt der Begriff - keine Wahl getroffen werden. Vielmehr setzt Gottes liebende Führung in jedem Augenblick fest, wo mein Glück liegt. Das bestätigt auch die Erfahrung: Weiß ich mich doch keineswegs als Herr der in mir anschwellenden und abklingenden Motive. Eigentliche Entscheidungsfreiheit gibt es in diesem ganzen Vorgang nicht. Bis ich auf der Leiter der in Frage stehenden Mittel und Ziele zum letzten Ziel - meinem Glück - komme, geschieht alles auf vernünftige Erwägung hin, mit Vernunftnotwendigkeit. Das letzte Ziel aber kann ich, eben weil es das letzte ist, auf keine Weise übersteigen und als Mittel auf ein höheres Ziel hin entweder wollen oder einem anderen nachsetzen. Frei ist der Wählende selbstverständlich in dem Sinn, daß er zu nichts gegen seinen Willen gezwungen wird; er folgt genau dem was er will und wählt immer sein Glück. Nennen wir diesen Vorgang: Wahl, und die Freiheit von Zwang, in der er sich abspielt: Wahlfreiheit. Gewählt wird immer zwischen dem und jenem Gut, nie zwischen Gut und Bös.

Eine derartige Selbstbestimmung des Menschen wird erst möglich, wenn wir aus diesem geschlossenen Kreislauf von vorherbestimmter Zwanglosigkeit irgendwie entrinnen können. Es muß uns gelingen, das Glück, letztes Ziel in der Ordnung der Wahl, vom Platz des allerletzten Zieles zu verdrängen. Eben das aber ist dem natürlichen, weltlichen, eigensüchtigen Menschen in uns ganz und gar unmöglich. Denn er ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, daß sein Glück ihm das höchste ist. Es macht da genau besehen auch wenig Unterschied, ob dies Glück in der Schnapsflasche des Haltlosen, im Halbschlaf eines bürgerlichen Gewissens oder in der genießerischen Unzufriedenheit eines Kritikus besteht. Oder auch im ruhig und sicher Gott geweihten Leben einer Klosterschwester. Sie alle wollen, sooft sie etwas wollen, notwendig ihr eigenes Glück. Alle diese Wahlen sind sittlich völlig gleichwertig, weil sie keine freien Entscheidungen und somit gar keiner sittlichen Beurteilung fähig sind.

Echte Entscheidungsfreiheit hat nur, wer im Grunde seines Herzens anerkennt, daß das eigene Glück nicht die höchste Richtschnur seines Handelns ist d.h. daß Gott um Seiner selbst willen geliebt zu werden verdient und Seine Gebote als Ausdruck Seines Willens in sich stehen und meiner sorgfältigsten Beachtung wert sind, ganz gleich ob mein Glück dabei in Scherben geht oder nicht. Dann kann ich nämlich die Ordnung der bloßen (auch geistigen) Naturgesetzlichkeit in mir übersteigen und - obwohl mein Glück, wie ich mit schmerzlicher Gewißheit und jeder Faser meines müden Selbst genau weiß, im Moment einzig darin bestehen kann, daß ich mich auf die andere Seite lege und versuche, wieder einzuschlafen - bin ich dennoch in der Lage, mein ganzes Glück zusammen mit der Bettdecke von mir schiebend zur Frühmesse aufzustehen. Ich kann aber auch (nehmen wir an, es sei Sonntag und dies die einzige heilige Messe), indem ich ohne weitere Umstände einfach mein Glück will, mich von Gott abwenden und so die Entscheidungsfreiheit mißbrauchen.

Nach dieser Erläuterung der Begriffe Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit sollen jetzt beide näher untersucht und in Zusammenhang gebracht werden.

1. Die Wahlfreiheit besteht in der Fähigkeit des Menschen, von sich aus die Mittel zu wählen, die für die Erreichung eines Ziels, das er anstrebt, die besten sind. Die Wahl geschieht also zwischen zwei Gütern, die unter der einen Rücksicht, Mittel zu dem jeweiligen Ziel zu sein, vom Verstand miteinander verglichen werden; was der Verstand als das geeignetere erkennt, wird dann vom Willen, der nur seinem natürlichen Drang auf das Glück hin folgt, notwendig gewollt. Das Ziel als solches liegt ganz außerhalb des Bereiches dieser Wahlfreiheit, ist jeden Augenblick vorgegeben durch das, was der Wählende ist. Das bedeutet, daß die Wahl zwar in keiner Weise gezwungen geschieht, daß der Wählende aber trotzdem im Augenblick der Wahl weder vor Gott noch vor seinen Mitmenschen noch vor sich für das was er tut verantwortlich ist. Alles geht mit Vernunftnotwendigkeit vor sich. Heißt das, daß der Mörder, wenn er schießt, nichts dafürkann? Ja und nein. Um aber hier klar zu sehen, müssen wir die Untersuchung von der Wahl auf die Entscheidungsfreiheit hinüberlenken.

2. Das ist die Freiheit, die den Menschen für den Verlauf seines Lebens nun doch weitgehend verantwortlich sein läßt. Sie besteht aber nicht in der Möglichkeit, irgend ein Gut zu wählen oder statt seiner ein anderes. Sie begründet vielmehr die unfaßliche Größe und zugleich furchtbare Gefährdetheit des endlichen Geistes. Sie ist jene Fähigkeit des Menschen, Gott entweder frei anzuhangen oder von Ihm abzufallen oder Ihm nicht so unbedingt angehören zu wollen wie es möglich und recht wäre. Die schlechte Entscheidung fällt, wenn Glück und Gewissensspruch auseinanderklaffen und der Mensch, um das Glück besitzen zu können, das Gewissen, aus dem Gott zu ihm spricht, verachtet. Gut dagegen entscheidet sich, wer im selben Fall, daß sein Glück und das vom Gewissen Geforderte sich gegenseitig ausschließen, sich weigert, sein Glück gegen Gott zu wollen, der Versuchung wider-steht d.h. wider seine ganze Natur in der Liebe zu Gott stehen bleibt. Aber eben nicht in der Liebe zu Gott als seinem höchsten Glück. Wenn er Ihn als das erlebt, ist er nicht frei abzufallen und darum ist seine Liebe nicht ein völlig freies Geschenk der Person. Die freie gute Entscheidung besteht vielmehr in der Liebe zu Gott, der jetzt zugleich sein Gott und der Feind seines Glücks ist. In dieser Liebe zu verharren oder sich aus ihr herauszustürzen, das ist die einzige Entscheidung, die ich im strengen Sinn ganz frei treffen kann. Auf die Dauer kommt niemand an ihr vorbei.

Betrachten wir nun etwas genauer jede der beiden Möglichkeiten.

a) Die schlechte Entscheidung ist etwas rein Negatives, wie es nicht anders sein kann beim Einzigen, das ohne jede Mitwirkung Gottes vom Geschöpf allein ausgeht. Sie besteht darin, daß das Geschöpf sein Glück will, obwohl es weiß, daß sein Schöpfer und Herr, dem es Verehrung und Gehorsam schuldet - nicht nur notwendiger, sondern billiger Weise - von ihm etwas anderes erwartet. Die schlechte Entscheidung kann zwar nicht anders als mit der Wahl des verbotenen Glücks zusammen beschrieben werden; beides ist aber scharf auseinanderzuhalten. Das Moment der Entscheidung liegt in dem "obwohl", das der Wahl im Wollen des Glücks . Das "obwohl" ist ontologisch, nicht bloß logisch, verschieden vom Wollen; mit anderen Worten: Die schlechte Entscheidung ist wirklich Voraussetzung der Wahl. Ein unter Todsünde verbotenes Glück kann den Menschen zwar zum Abfall anreizen, diesen aber nie verursachen; wünschen kann der Mensch ein solches Glück wohl schon vor dem Abfall; wollen aber erst nachher. Das was an der Sünde Tat ist, von Gott geschaffene Wirklichkeit, ist nicht eigentlich Schuld, sondern die weder sittliche noch unsittliche Strafe für die vorausgegangene, in etwas rein Negativem liegende Schuld. Die schlechte Entscheidung wird dadurch zu dem, was die Sünde als solche wahrhaft ist: zu dem restlos dunklen, bösen, unbegreiflichen und abscheulichen. Daß ein unterdrückter Gatte seine Frau ermordet: Was daran Wahl ist, können wir wohl alle verstehen und irgendwie billigen. Daß er es tut, obwohl er weiß, daß Gott den Mord verbietet, daß er mit ihm die unendliche Güte entsetzlich beleidigt, das ist das Furchtbare und Unfaßbare.

b) Schwieriger noch scheint es, die gute Entscheidung zu verstehen. Einerseits ist sie gut, also von Gott. Andererseits nicht gütig gelenkte Wahl, sondern selbst zu verantwortende Entscheidung über Krankheit und Gesundheit oder gar Leben und Tod der Seele. Sie muß also so etwas wie ein positives Nichts sein. Sehen wir zu. Wir haben die gute Entscheidung als folgenden Vorgang kennengelernt: Obwohl alles in mir auf irgend etwas aus ist, das meinem wer weiß wodurch benebelten Verstand jetzt als höchstes und unbedingtes Gut vorkommt, dieses mein Glück dennoch nicht zu wollen, weil mein Gewissen mir sagt, daß es völlig oder etwas oder ein wenig gegen die reine Liebe zu Gott wäre. Ja was will ich denn aber dann? In jedem Wollen wähle ich mein Glück, hier aber doch gerade nicht! Was will ich, wenn ich mich fürs Gute entscheide gegen mein Glück? Es bleibt nichts übrig als zuzugeben: Nichts. Die gute Entscheidung besteht nicht in einem Wollen, sondern im Aussetzen jeden Wollens. Dann ist sie also keine Tat des Willens? Nein. Sie kann es nicht sein, weil der Wille immer das Glück will, das der Verstand ihm zeigt. Das ist gewiß ein seltsames Ergebnis, läßt sich aber scheint mir nicht vermeiden. Was ist die gute Entscheidung aber dann, wenn sie keine Willenstat ist? Sie ist einfach ein tatenloser Zustand, ein Warten im Leeren und ohne Stütze, ein Harren der liebenden Person darauf, daß Gott, wenn ich mich abzufallen weigere, in seiner Güte meinen Willen nicht lange Zeit verkehrt lassen, sondern mir bald andere, bessere Motive senden werde, so daß mein Glück sich verlagert, bis es so weit kommt, daß das Gewissen dem Glück zustimmt - und dann hindert nichts mehr die Wahl, die jetzt nicht sittlich gleichgültige Strafe für die schlechte, sondern sittlich freilich ebenso gleichgültiges Geschenk und Frucht der guten Entscheidung ist. Das Verdienst der guten Tat kommt daher nur Gott zu, unter dessen innerlichster Mitwirkung jede Tat geschieht; das Verdienst, nicht abgefallen zu sein, hat das Geschöpf für sich. Es ist aber nichts, d.h. nichts als der Mangel einer Negation.

Wenn diese allgemeinste Darstellung des menschlichen Handelns richtig ist, dann ist der Satz des hl. Ignatius, um den es uns geht, verständlich: Er besagt: Fortschritt im geistlichen Leben ist dasselbe wie aus seinem Willen herausgehen. Durch noch so viele gute und heilige in dir von Gott bewirkte Taten kommst du in der Liebe zu Ihm nicht weiter. Nur Entscheidungen führen dich Ihm näher. Denn jede Entscheidung besteht darin, daß du, weil dein ganzes Wollen auf eine unerlaubte Frucht gerichtet ist, verzichtest zu wollen und vollkommen kraftlos harrst, bis Gott in dir wieder die Sonne Seiner Gerechtigkeit aufgehen läßt. Und der Einwand, der zu Beginn gegen unseren Grundsatz aufstand? Er löst sich durch die Unterscheidung zwischen Vollkommenheit und Fortschritt. Jeder, der nicht in der Todsünde lebt, hat ein bestimmtes Maß an Vollkommenheit, die bei jedem mit darin besteht, daß er sich bemüht weiter fortzuschreiten. Zur Entscheidung verhalten sich beide in einer besonderen Spannung. Einerseits sind wir um so vollkommener, je weniger Entscheidungen wir treffen; andererseits schreiten wir um so rascher voran, je mehr wir uns entscheiden.

a) Die Vollkommenheit macht, sich zu entscheiden, überflüssig. Denn vollkommen ist, wer alle Triebe und Regungen, all sein Wollen, dem Willen Gottes untergeordnet hat. Dann aber gibt es keine Entscheidungen mehr, weil sein Glück immer gewählt werden darf, ja muß. Wem Gott sein einziges Glück geworden ist, der ist vollkommen; kann - oder besser muß - sich aber nicht mehr entscheiden.

b) Geistlichen Fortschritt andererseits gibt es nur im Maße wie einer sich entscheidet. Denn in der Liebe voranschreiten heißt, daß sich all unser äußeres Sein und Tun, unsere Taten und Wünsche immer mehr Gottes Willen zuneigen. Das geschieht aber nicht durch Wählen; dabei ist das letzte Ziel immer unser Glück. Sei aber selbst Gott das Glück, dem wir liebend anhangen: Das ist gut und selig und im Himmel werden wir nichts anderes mehr tun, es bringt uns aber nicht weiter. Gott biegt im allgemeinen das Menschenherz nicht zu sich hin zurecht, solange es, wo auch immer, rührig sich selber sucht. Das heiligste, herrlichste, fruchtbarste Leben kann sich im hellen Sonnenschein fürsorglich gelenkter Wahlen abspielen; geistlicher Fortschritt aber, das Umschaffen unserer so anfälligen und leicht verführbaren Natur zu einem starken Tempel der Liebe Gottes, geschieht in der Nacht, da die Natur jedes Wollen einstellt und sich regungslos, ohne das Geringste für Gott und sich tun zu können, mit letztem Vertrauen in der Hand des Schöpfers zurechtkneten läßt.

Nicht alle Entscheidungen fallen gleich schwer. Zwar muß immer das ganze jeweilige Glück geopfert werden; der Gegenstand, in dem es liegt, kann aber, für sich betrachtet, ein tieferes oder ein seichteres Glück darstellen. Um so bedeutender der Wert, um den es geht, um so härter die Entscheidung. Eine aber gibt es wohl, wo nicht bloß irgend etwas, sondern das ganze natürliche Glück als solches drangegeben werden muß. Der Tod ist die letzte Entscheidung, die jeder Mensch zu treffen hat; die alles entscheidende, in der er alle früheren zusammenfassen, ausgleichen oder entwerten kann. Folgt auch auf sie, als ihr Ende und Beginn der Ewigkeit, eine Tat? Vielleicht ist eben dies das besondere Gericht: der im Menschen geschehende ewige Richtspruch als Geschenk oder Strafe für seine in letzter Dichte und Not getroffene endgültige Entscheidung? In jeder geduldig durchgestandenen Entscheidung während des Lebens wird also der Tod eingeübt.

Die Beziehung zwischen Vollkommenheit und Fortschritt, Wahl und Entscheidung soll noch durch ein Bild verdeutlicht werden: Jeder Begnadete hat gewissermaßen um den innersten Kern seiner Gott liebenden Person herum eine mehr oder weniger große Zone, wo durch Gottes Vorsorge oder aber dank vorausgegangener guter Entscheidungen nur mehr Wahlen geschehen, wo also keine Versuchung mehr eindringen kann. Hier kann sich jedes Glück getrost und ohne Scheu vor dem Gewissen ausweisen. Irgendwo verschwimmt diese Zone und geht in die nächstäußere über, wo gerade gekämpft wird, wo die Entscheidungen fallen. Die Grenze kann vorrücken, zurückweichen oder die gleiche bleiben; im letzten Fall wird der Lebensraum der Vollkommenheit dem Menschen, der ja überall sonst ständig weiterwächst, immer unangemessener und mehr und mehr zu klein. So ist wohl die alte Wahrheit zu verstehen, daß wer nicht voranschreitet rückwärts geht. Nach diesem Frontgürtel des geistlichen Kriegs folgt ringsherum der sich bis in Gottes Unendlichkeit erstreckende Raum an sich möglicher Liebesvollkommenheit, wo aber nie eine Entscheidung zustandekommen kann; sei es weil Gott uns - bis jetzt oder überhaupt - nicht so weit führen will oder aber weil wir Ihm durch allzuviele Fehlentscheidungen die Möglichkeit dazu versperrt haben.

Können wir unseren geistlichen Fortschritt beschleunigen, indem wir uns möglichst oft entscheiden? Auf keinen Fall in dem Sinn, daß wir die Entscheidungen unmittelbar herbeiführen; denn sie sind ja gerade nichts, was unser Wille irgendwie beeinflussen könnte; im Gegenteil, dann wenn es so weit ist, sind sie dem Willen äußerst widerlich, so sehr, daß das Gewissen als Feind, als aufdringlicher Störenfried erlebt wird. Und planmäßig solche Lagen zu schaffen ist ein gefährliches Ding. Ja, es ist sogar verboten, die nächste Gelegenheit zur Sünde aufzusuchen; denn wer das Feuer liebt, kommt darin um: weil anzunehmen ist, daß er es nicht um seiner Reinigungskraft sondern um seiner angenehmen Wärme willen liebt. Und wenn es nicht ums Vermeiden von Sünden geht, sondern ums Blankscheuern eines schon ganz ansehnlichen Tugendkrönchens durch allerlei aszetische Glanz-Leistungen? Da heißt es auf der Hut sein und nicht geistliche Anmaßung mit Bereitschaft zum echten Fortschritt verwechseln. Vollkommenheitsehrgeiz ist ein natürliches Motiv wie alle anderen auch und nicht das unbedenklichste. Was ein von ihm Getriebener mit viel Verbissenheit durchmacht und für eine Reihe guter Entscheidungen gegen das Glück seiner Natur ansieht, sind in Wahrheit nicht Entscheidungen sondern Wahlen, ist das Genießen eines noch tieferen Glücks der Natur, als reichhaltiges Essen oder ausgiebiges Schlafen eines darstellt. Die einzige Entscheidung, die dabei im Spiele ist, ist die vorausliegende, in der sich der Drang nach Selbstvollendung gegen die leise Gewissensstimme durchgesetzt hat, die ihm riet, sich doch demütig und ohne alles eitle Pläneschmieden der göttlichen Führung zu überlassen.

In diesen Zusammenhang gehören auch die Skrupel. Das sind Aufforderungen, jetzt das Glück der Natur aufzugeben, weil es angeblich nicht erlaubt ist; die aber nicht von Gott, sondern vom Teufel kommen, uns zu verwirren und wahren Anregungen gegenüber mutlos zu machen. Weil der Teufel aber weder die Absicht noch die Macht hat, die entgegengesetzten Motive im Willen wirksam werden zu lassen, darum wird der Mensch, wenn er sich mit dem Skrupel einläßt und versucht, eine gute Entscheidung zu treffen, stets erbärmlich Schiffbruch leiden; denn solange er sich auch des Wollens enthält: es ändert sich nichts in ihm; nach wie vor steht das Glück aufreizend vor seinem Willen. Endlich erträgt die Natur diese furchtbare Starre nicht länger und greift zu, traurig über ihre vermeintliche Bosheit und etwas wie erbittert gegen Gott, der so Unmögliches von den armen Menschen verlangt. Genau dies Gefühl gereizter Mutlosigkeit war natürlich des Skrupels Zweck. Im Einzelnen genau zu wissen, ob ich jetzt einer Gnade in den Arm oder einem Skrupel zum Opfer gefallen bin, ist allerdings wohl nicht immer möglich.

Auf diese Weisen also: durch freiwilliges Suchen gefährlicher Entscheidungen, durch wütende Abtötung aller möglicher Verlangen außer des stolzen Herzens, durch Schachspiele mit dem Teufel, bei denen der immer gewinnt, kommen wir Gott nicht näher. Nur zwei richtige Weisen gibt es.

1. Wir sollen möglichst viele der Entscheidungen, vor die Gott uns stellt, aus Liebe zu Ihm wider unser eigenes Glück richtig treffen. Wir dürfen uns da nichts vormachen. Es geht immer gegen das ganze Glück, in dessen starkem Sog ich mit all meinen Kräften stehe. Ein ruhig, besinnlich und freudig getroffener Entschluß mag die heiligste Tat sein, ist aber keine Entscheidung die mich weiterführt. Fortschritt gibt es nur durch Verzicht auf jede Befriedigung meiner Wünsche. Sooft wir in eine Entscheidungssituation gestellt werden, sind wir zu sagen versucht: Aber das kann Gott doch unmöglich von mir wollen! Das hieße mir ja das Herz aus dem Leibe reißen! Ich will Ihm ja vieles geben und gern für Ihn sterben, wenn Er es so möchte, aber dieses Schnitzel muß ich einfach noch haben. Ich denke, wir erkennen uns. So ähnlich ist uns immer zumute, wenn Gott uns eine Entscheidungsgnade schenkt, die uns, wird sie angenommen, näher zu Ihm führt. Wundern wir uns da noch über die Durchschnittlichkeit, die wir mit den meisten Menschen teilen? Der geistliche Lebenskampf ist Freude und Friede im Herzen des Landes, aber nackter, häßlicher Tod auf jedem erfolgreichen Streifzug an der Front.

2. Über dies willige Mitgehen hinaus aber gibt es eine Möglichkeit, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und, freilich an Gottes Hand, unsere Straße zum Himmel nicht bloß zu gehen, sondern auch, wenn wir so wollen, steiler und erregender werden zu lassen. Jesus selbst hat es uns versprochen (Mt 7,11): Wenn schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wißt, um wieviel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die Ihn bitten. Wir dürfen Gott bitten, einmal, daß er uns viele solcher Entscheidungsgnaden gebe, die uns aus unsrer Eigensucht heraus und immer mehr zu Ihm hinführen können; und dann, daß er uns in diesen schweren Zeiten schnell und wirksam zu Hilfe komme, unsren falschen Willen immer und immer mehr zurecht biege, bis er dem Seinen einmal für ewig ganz gleich geworden ist.

Können die gewonnenen Einsichten im Alltag des geistlichen Lebens fruchtbar werden? Ich meine schon. Vor allem kann uns bei ihrer Betrachtung ein ganz neues, seliges Gottvertrauen geschenkt werden. Denn wenn es wahr ist, daß wir bei allem, was wir tun, nicht in diesem gefährlichen Sinn frei sind wie bei einer Entscheidung; wenn das wahr ist, dann können wir ja all die dummen und eitlen Sorgen um das was wir sind und tun wie rostige Fesseln von uns werfen. Denn unsere guten Werke sind Belohnungen; das, was uns danebengeht, Strafen. Aber Strafen eines liebenden Vaters, der mit aller Züchtigung nur im Sinn hat, uns zu bessern. Verantwortlich sind wir nicht dafür, wie wir uns und unseren Mitmenschen erscheinen, sondern nur für das Ja oder Nein zum Angebot der größeren Liebe.

Damit hängt eng zusammen eine Richtlinie für die Gewissenserforschung. Wenn sich einer am Abend bewußt wird, wie sehr alles, was er getan hat, Stroh ist, lächerliche Unvollkommenheit verglichen mit dem, was ein volles Christenleben wäre, so sind diese Gedanken bestimmt ein sehr passendes Abendgebet. Sie lassen uns erkennen, was wir in Wahrheit sind, und können uns zur Demut führen. Eine Gewissenserforschung sind sie aber nicht. Ebensowenig ist es eine, wenn jemand den Ärger über seine vielen Unebenheiten, die ihn in den Augen der Anderen so falsch und in seinen eigenen so kläglich dastehen lassen, mit Reueschmerz über seine Sünden verwechselt. Weder über Entscheidungen die weit jenseits meiner Front lägen noch über mir unangenehme Wahlen, die aber ohne meine Freiheit einfach aus dem sich ergeben haben, was ich jetzt bin, kann ich sinnvoll mein Gewissen erforschen, bloß über die tatsächlich geschehenen Entscheidungen kann ich Gott und dem Gewissen gegenüber Rechenschaft ablegen. In diesem Licht erscheint eine genaue "geistliche Buchhaltung" wie die vom hl. Ignatius angeratene als die einzige Weise, sein Fortschreiten zu prüfen.

Diese Unterscheidung zwischen von Gott gütig in mir gelenkter Wahl und freier, ganz und gar selbst zu verantwortender Entscheidung als zweier nicht aufeinander rückführbarer, nicht ineinander aufgehender, wenn auch im Vollzug innig zusammengefügter Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens - diese Unterscheidung klärt, scheint mir, die Schwierigkeiten, die sich gegen den Satz des hl. Ignatius erhoben hatten: daran denke ein jeder, daß er soviel vorankommen wird in allen geistlichen Dingen, wie er herausgeht aus seiner Eigenliebe, seinem Eigenwillen und seinem Eigeninteresse. Das heißt nicht, daß wir nie wollen, nie unser Glück lieben dürfen. Die meiste Zeit dürfen und müssen wir es sogar; denn alles, was wir lieben, ist unser Glück und ohne Liebe kann niemand leben. Es soll aber mehr und mehr das wahre Glück des zu Gott geschaffenen Menschenherzens werden und von Zeit zu Zeit kommt darum, wann und wo Er es will, von Ihm der Ruf (Gen 12,1): Verlaß deine Heimat und deine Freunde und dein Vaterhaus und zieh in ein Land, das Ich dir zeigen will! Und wie einst Abraham müssen auch wir von allem was uns lieb ist, fort-schreiten; freilich hin zu einem volleren Glück - das macht aber den Aufbruch nicht weniger schwer. Wenn wir diesen Ruf anhören und uns ihm nicht verweigern, dann steht auch von uns im 83. Psalm geschrieben: "Durchs Wüstental ziehend machen sie es zum Brunnen und Frühregen hüllt es in Segen. Sie schreiten von Kraft zu Kraft und werden schauen den Gott der Götter in Sion."

Januar 1959


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