Jürgen Kuhlmann

Jocki und der Innenseher
Eine Abenteuergeschichte
für das Kind
im Mann und in der Frau


4


Der grausame Graf

Und jetzt, sagt Friedrich, wird es ernst. Nimm den Griff da in die Hand. Das ist das Fernbedienungskabel. Wenn dir das Abenteuer einmal zu schlimm wird, drückst du ganz einfach auf diesen Knopf. Dann bleibt das Band stehen. Jocki setzt sich den Helm auf, umklammert den Schalter und schließt die Augen. Währenddessen hat Friedrich das Band eingelegt. Jetzt drückt er auf die Starttaste. Pius, wo bist du? Das ist seine Stimme. Der Graf hat mich gerufen. Hier, o Herr. Ich kann kaum antworten, so klappern mir die Zähne. Was will er von mir? Habe ich etwas falsch gemacht? Komm her. Wie kalt klingt diese Stimme. Wohin o Herr? Wo bist du? Keine Antwort. Hinter welcher der sechs Türen wartet er auf mich? Keuchend renne ich zur ersten und reiße sie auf. Der lange Gang dahinter ist leer und auf beiden Seiten reiht sich, so weit mein Auge reicht, Tür an Tür. Wie soll ich den Grafen finden? Wenn ich ihn aber nicht finde, bin ich verloren. Wo, Herr? Laut hallt mein Schrei durch den Gang, aber sonst bleibt alles still. Sinnlos vor Angst rase ich los, bis ich nicht mehr kann. Mein Herz kommt mir hoch, vor den Augen wird es schwarz und ich stürze zu Boden.

Da öffnet sich eine Tür in der Nähe, ein anderer Sklave kommt heraus, packt mich wortlos an einem Arm, schleift mich hinter sich her, den ganzen Gang zurück, dann durch die vierte Tür in einen anderen Gang. Bei der siebzehnten Türe rechts klopft er an. Keine Antwort. Ich liege schlotternd am Boden, der andere bleibt ruhig stehen, er lehnt sich nicht an. Von Stunde zu Stunde friere ich mehr. Sooft ich kurz eingeschlafen war, hat die Angst mich wieder aufgeschreckt. Herein, brüllt plötzlich seine fürchterliche Stimme. Der Sklave zerrt mich ins Zimmer, verneigt sich und geht rückwärts wieder hinaus.

Steh auf. Der Graf sitzt mitten im Zimmer. Er hat einen schwarzen Samtmantel an, eine Sonnenbrille verbirgt seine Augen. Ich rappele mich hoch. Warum bist du nicht gleich gekommen? Ich wußte nicht, wo du warst, o Herr. Warum warst du nicht aufmerksam? Du hättest leicht feststellen können, aus welcher Richtung ich dich rief. Wozu habe ich dir deine beiden Ohren bisher gelassen? Entfernt ihm das linke Ohr und gebt es Satan. Ehe ich mich besinnen kann, halten starke Hände mir von hinten die Arme fest und im Mund würgt mich ein Knebel. Einer im weißen Kittel tritt vor mich hin, ein Messer blitzt auf. Lässig schnappt die schwarze Dogge zu Füßen des Grafen nach dem hingeworfenen Ohr; wo es gewesen war, ist nur mehr Schmerz; mein Schrei bleibt gurgelnd im Knebel stecken. "Das nächste Mal kommst du pünktlich, Pius, nicht wahr?" Ich nicke, zweimal, dreimal. Ein herrisches Zeichen des Grafen, man bringt mich ins Zimmer nebenan, macht mir einen Verband um den Kopf und stößt mich durch eine offene Aufzugstür. Unten werde ich auf eine Schubkarre geladen, ein paar Gänge entlang befördert und in einer winzigen Zelle auf eine feuchte Matratze gekippt. Außer ihr gibt es in der Zelle nichts als den Kübel, eine Wasserflasche, einen Sack voll Haferflocken und eine nackte Glühbirne an der Decke.

Tag um Tag vergeht, die Schmerzen nehmen ab, dafür stinkt es immer unerträglicher. Hat der Graf etwas vor mit mir? Hat er mich vergessen? Ich weiß nichts. Die meiste Zeit döse ich dahin. Auf einmal klopft es leise an der Tür. Ich sage: "Herein," die Tür geht auf und vor mir stehen zwei hellgelb gekleidete Mädchen mit freundlichen Gesichtern. "Der Graf schickt nach dir," sagt die eine und die andere reicht mir ihre Hand zum Aufstehen. Draußen stehen zwei Sklaven mit einer Sänfte. Sie lassen mich einsteigen, und die Mädchen geleiten mich im Aufzug zum ersten Stock. Ein Arzt nimmt mich in Empfang, untersucht meine Wunde und erklärt sie für geheilt. Dann werde ich dem Bademeister und dem Friseur anvertraut und zum Schluß von einem Diener frisch eingekleidet. Die Mädchen haben vor dem Aufzug auf mich gewartet und fahren mit mir zur sonnigen Terrasse hinauf.

Dort sitzt, jetzt in einem goldenen Gewand, der Graf auf der Brüstung und läßt die Beine baumeln. "Nimm Platz, Pius," bedeutet er mir, und ich lasse mich, ohne irgend etwas zu begreifen, auf dem Liegestuhl zu seinen Füßen nieder. "Ich habe beschlossen, dir gnädig zu sein," sagt er, "du sollst einen verantwortlichen Posten in der Verwaltung bekommen. Was wünschst du dir?" "Ich wünsche alles, was du wünschst, o Herr," antworte ich und kratze mich am rechten Ohr, weil es dort plötzlich juckt. "Ich will, daß du dir etwas von mir wünschst, und zwar sofort." Hat seine Stimme drohend geklungen? Schon wieder habe ich Angst. Aber jetzt oder nie, entschließe ich mich. Vielleicht komme ich heraus aus dieser fürchterlichen Sklaverei. "Dann wünsche ich mir die Freiheit, o Herr," sage ich langsam und erhebe mich, bis ich ihm gerade in die Augen sehe. "Ich möchte nicht mehr dein Sklave sein, verstehst du, o Herr?"

Der Graf wird blaß, gleitet von der Brüstung herab und steht mir wutzitternd gegenüber. "Das ist ungeheuerlich," zischt es aus seinen schmalen Lippen. "Du hast mich mißverstanden, elendes Geschöpf! Etwas solltest du dir wünschen, das war mein Befehl, irgendetwas. Alles hättest du von mir haben können: ein Haus, schöne Sklavinnen, sogar über eine ganze Provinz hättest du in meinem Namen herrschen dürfen, wenn du es verlangt hättest. Alles das kostet mich nichts; ich habe ja genug davon. Du aber hast dir nicht etwas gewünscht, sondern mir dich selber stehlen wollen! Das verlangt eine gräßliche Strafe. Das kann nie wieder verziehen werden. Die Freiheit! Was ist denn das? Das ist doch nicht etwas! Man kann es nicht sehen, nicht berühren, nicht schmecken. Wie sieht sie denn aus, deine Freiheit? Wieviel wiegt sie, welche Farbe hat sie? Wie viele Zentimeter oder Kilometer ist sie lang oder breit? Alles, was wirklich etwas ist, wie gern hätte ich es dir gegeben. Aber deine Freiheit? Die ist doch nichts. Was hast du davon, wenn ich dir nichts gebe? Du hast dich geirrt, Pius. Sag, daß es ein Versehen war von dir. Und jetzt nenne mir etwas, was du dir wünschst. Etwas Wirkliches. Ich kann dir doch beim besten Willen nicht etwas geben, was es gar nicht gibt. Das siehst du doch ein, oder?"

Er hat seine Wut gut unter Kontrolle gebracht. Am Schluß hat er sogar gelächelt, aber derart gemein, daß ich vor zornigem Haß völlig den Verstand verliere. Ach, alles hätte so gut werden können. Ich hätte mir irgendwo an einem freundlichen See ein großes Haus wünschen können, mit tüchtigen Dienern, lieblichen Sklavinnen und reichen Feldern ringsherum. Und alles, was ich zu tun gehabt hätte, wäre vielleicht jedes Jahr ein ergebener Weihnachtsgruß an den Grafen gewesen. Was kostet das schon? Eine halbe Stunde Arbeit an einem Brief. Und ich wäre glücklich gewesen auch als Sklave. Was man nicht ändern kann, daraus soll man das Beste machen. Warum habe ich diesen klugen Rat meiner Mutter vergessen? Warum tue ich das Falscheste, Unsinnigste, was ein Mensch in meiner Lage überhaupt tun kann? Aber es geht nicht anders. Wenn ich nicht sage, was ich denke, dann platze ich hier auf der Stelle und muß Stück für Stück in mein neues Haus gebracht werden.

Ich mache einen Sprung nach rückwärts, schaue dem Grafen fest in die Augen und lege los: "Nein, das sehe ich nicht ein. Du siehst, ich sage nicht mehr Herr zu dir. Denn du hast mir versprochen, meinen Wunsch zu erfüllen. Ich habe mir die Freiheit gewünscht, und wenn du wirklich ein Herr bist, dann bin ich jetzt frei. Ein Herr hält sein Versprechen. Wenn du mich aber immer noch als Sklaven ansiehst, dann bist du für mich kein Herr, sondern ein ebenso mächtiger wie verachtenswerter Tyrann. Du sagst, meine Freiheit gebe es nicht. Das kann sein, aber ein Wort von dir genügt, sie zu erschaffen. Wenn du willst, ist meine Freiheit wirklich. Und daß du das wollest, ist mein Wunsch. Deine Häuser, Sklavinnen und Provinzen kannst du behalten, ich will sie nicht. Mich will ich, verstehst du? Nicht mehr, aber auch nicht weniger als mich. Daß ich tun und lassen kann, was ich will, nicht, was du befiehlst. Daß ich nie wieder Angst haben muß vor deiner Stimme. Daß ich mit meinem rechten Ohr mehr Freude erlebe als mit dem armen linken hier. Möge dein Satan daran verrecken! Etwas soll ich mir wünschen? Nein, ich wünsche mir kein Etwas. Nicht einmal alles wünsche ich mir, auch das wäre mir zu wenig. Mich wünsche ich, das ist mehr als alles . Mit einem Apfel in der Hand auf der Landstraße wandern können, wohin ich will, und niemand darf mir Vorschriften machen, das ist mehr als von goldenen Tellern Ochsenlende essen und dabei ständig zittern müssen vor dir. Und jetzt tu, was du willst."

Ich kann mich nicht sehen, aber ich stelle mir vor, daß meine Augen blitzen. Ruhig steht der Graf da. Zu ruhig, kommt mir vor. Hat er einen Schock? Und wie er jetzt den Mund aufmacht, klingt auch seine Stimme irgendwie leblos, fast so, als spräche ein Automat: "Ich brauche nichts mehr zu wollen, du hast dir selbst dein Urteil gesprochen. Alles habe ich dir angeboten, aber du willst nichts. Denn überall, wo etwas wirklich ist, bin ich der Herr. Wie kannst du unabhängig sein, wo ich der Herr bin? Das ist unmöglich, und etwas Unmögliches zu tun, dazu bin nicht einmal ich mächtig genug. Du willst also nichts, und Nichts sollst du bekommen." Er drückt auf einen Knopf in der Mauer und alsbald kommen mit festem Schritt und Tritt zwei gestiefelte Wächter anmarschiert. "Befördert ihn ins Nichts," befiehlt der Graf. Sie packen mich und bringen mich zu einer Falltür am anderen Ende der Terrasse. Wie der eine sie öffnet, steigt mir scharfer Raubtiergeruch in die Nase. Weit unten grollt dumpfes Löwengebrüll. Verzweifelt wehre ich mich, umsonst. Sie stoßen mich in den Schacht. Und in dem Augenblick, da ich zu fallen beginne, erinnere ich mich zum ersten Mal des Zauberstabs in meiner Hand. Ja, richtig! Woher habe ich ihn? Das ist jetzt nicht wichtig. Aber da ist er. Deutlich spüre ich ihn zwischen den Fingern. Schneller und schneller falle ich, erstaunlich, wie klar ich alles sehen kann, was da von unten her auf mich zustürzt. Was fühlt wohl ein Passagier, der heil aus einem in der Luft explodierten Flugzeug geschleudert wird? Was denkt er in den langen Minuten vor dem sicheren Tod? Ob er schreit? Nun, so viel Zeit habe ich nicht. Drei Löwen schauen zu mir empor, einer öffnet schon genießerisch seinen Rachen. Da drücke ich auf den Knopf.

"Du bist ganz schön mutig," sagt Friedrich, "ich habe beim ersten Mal gerade noch rechtzeitig gestoppt, bevor der Kerl mir das Ohr absäbeln konnte. Und dann habe ich das Band eine Zeit lang barköpfig weiterlaufen lassen und als ich den Helm wieder aufsetzte, lag ich schon in der Zelle und der Schmerz war fast weg. Schlau muß man halt sein."

Jocki ist noch ganz benommen und kann nichts sagen. Langsam lehnt er sich zurück. Ich bin nicht Pius, sondern Jocki, schreit es da auf einmal jubelnd in ihm. O Gott sei Dank. Ich bin nicht der Sklave eines grausamen Grafen, sondern ein freier Mensch mitten unter anderen freien Menschen. Pius ist nur ein Traum gewesen. Aber nein, kein Traum ist so wirklich. In den letzten Minuten war ich tatsächlich Pius, das steht fest. Aber wer ist überhaupt Pius? Damit ich Pius sein konnte, mußte Pius erst einmal selber wer sein. Und so fragt Jocki: "Wo hat dein Vater das Band her? Wer hat es vollgedacht?" "Das ist eine lange Geschichte. Mein Vater ist ein alter Schulfreund von Onkel Wilfried, das ist der Direktor des Irrenhauses. Als er von dem Innenseher erfuhr, hat er meinen Vater eingeladen, weil er die Gedanken seiner Patienten aufnehmen wollte. Er meinte, vielleicht kann man ihnen besser helfen, wenn man genau weiß, was sie denken. Mein Vater ist also hin. Aber es war nicht viel zu machen. Die meisten haben sich den Helm erst gar nicht aufsetzen lassen. Und zwingen darf man sie ja nicht. Bloß ein paar haben gut mitgemacht. Und wegen denen hat es meinem Vater arg leid getan, daß die Maschine nicht bekannt werden darf. Aber er sagt sich eben: lieber ein paar Verrückte nicht normal machen als viele Normale verrückt machen lassen. Die Gefahr ist einfach zu groß.

Einer von diesen Kranken ist Pius. Er hat ein besonders trauriges Leben gehabt. Seine Eltern waren sehr fromm gewesen und hatten dem Kind eine schreckliche Angst vor Gott beigebracht. Wenn es einmal nicht gehorsam war, drohten sie gleich: Gott siehts, Gott hörts, Gott strafts. Wenn sie ihre Ruhe haben wollten, sagten sie dem Kind: sei still, sonst ist der liebe Gott böse mir dir. Über dem Bett des Kindes hing ein großes Bild von der Hölle: wie die Verdammten auf glühenden Rosten lebendig gebraten und von den Teufeln mit schrecklichen Zangen zerfleischt werden. Dahin kommst du auch einmal, wenn du nicht brav bist, sagten diese Rabeneltern ihrem armen Kind. Kannst du dir so etwas vorstellen?"

"Das gibt es doch nicht." "Doch, Jocki, das hat es gegeben. Es hat überhaupt viel Schlimmeres gegeben, als wir uns ausdenken können. Der Bub ist größer geworden, aber die Angst vor Gott hat er nicht verloren. Sooft er eine Kirche sah, sooft er die Glocken läuten hörte, ist er erschrocken. Oft war ihm, als ob ihn vom Himmel her ein paar riesige Augen dauernd anschauten, so ähnlich wie wir eine Fliege an der Wand anschauen, bevor wir sie totschlagen. Dann verkroch er sich tief unter die Bettdecke, aber das half nichts: die Augen waren stärker als Laserstrahlen, sie durchdrangen Wolken, Dach, Zimmerdecke und Federbett und tasteten ihn ab. Und er konnte sich nicht retten vor ihnen. Mit 17 Jahren wurde er dann eines Tages verrückt. Mitten in einem Supermarkt hat er sich plötzlich sämtliche Kleider heruntergerissen und laut geschrien: ich versteck mich ja gar nicht, sei doch zufrieden, ich will ja alles, was du willst. Man hat ihn ins Irrenhaus gebracht und dort ist er heute noch. Bei einem seiner Anfälle hat mein Vater das Band aufgenommen. Wahrscheinlich muß er jede Woche ein paar solcher Geschichten durchmachen."

"Das ist ja furchtbar," kann Jocki bloß leise sagen. "Onkel Wilfried meint, es ist ein besonders krasser Fall von religiösem Wahnsinn, und wenn alle, die daran leiden, bei ihm unterkommen sollten, dann müßte sein Haus so groß sein wie eine Stadt."

Jocki hat das Gefühl, daß er jetzt allein sein will. "Du, Friedrich," sagt er, "ich gehe heim. Bloß ein Glück, daß wir nicht viel aufhaben, ich fürchte, ich könnte jetzt keine Dreiecke zeichnen. Der arme Pius."

Draußen ist es immer noch am Tröpfeln.

Der böse Graf bedeutet für Pius also Gott, überlegt Jocki, während er ganz langsam heimwärts trottet. Schrecklich. Und bloß die Eltern sind schuld, daß er von Gott so eine falsche Vorstellung hat. Aber ist sie denn falsch? Jocki erschrickt. Wo kommt diese Stimme in seinem Innern her? So einen frechen Gedanken hat er noch nie gehabt. Und doch war das eben ein eigener Gedanke von ihm. Noch langsamer geht Jocki, und die eiligen Passanten wundern sich über den Jungen, der da in Gedanken versunken durch den Regen zottelt. Kann denn jemand überhaupt Gott gegenüber frei sein? Ist Gott nicht allwissend und allmächtig? Sieht er mich nicht auch jetzt, hier in dieser Straße? Plötzlich hat Jocki das Gefühl, daß ihn jemand anschaut, von weit her und trotzdem ganz nahe. Er bleibt stehen und schaut zum Himmel hinauf. Ein älterer Herr tut es ihm nach, schüttelt dann den Kopf und geht weiter. Auch Jocki sieht nichts als ein paar dahinschleichende graue Wolken. Kein Auge ist dort oben zu erblicken. Und doch weiß er auf einmal: Pius ist nicht verrückt, Pius hat recht. Eher sind die anderen verrückt, die diesen Blick nicht kennen. Sie wissen nicht, was los ist. Sie halten sich für frei, aber das ist ein Irrtum. Nur Gott ist frei, alle Menschen sind bloß seine Geschöpfe, die sich gegen ihn nicht wehren können.

Spinne ich jetzt auch, fragt sich Jocki, hat Pius mich angesteckt mit seinem verdammten Gedankenband? Nein, ich will kein Sklave sein. Ich bin ein freier Mensch wie alle anderen. Die Idee mit den himmlischen Augen ist Blödsinn. Niemand sieht mich. Und Gott? Ist er nicht allsehend? Doch, das schon, muß Jocki zugeben, doch bei Gott ist es anders. Ach, ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich werde Vati fragen. Und geschwind geht Jocki nach Hause. "Vati, ich habe eine Frage," sagt er später. "Ja? Welche denn?" "Gibt es eigentlich Gott?" Der Vater legt die Gabel mit der aufgespießten Pellkartoffel und dem Stück Hering auf den Teller zurück, sieht die Mutter an und räuspert sich. "Was für eine Frage," sagt die schnell. "Natürlich gibt es Gott. Wer hat denn sonst die Welt erschaffen?" "Langsam, Elisabeth." Seltsam zögernd spricht der Vater jetzt, noch nie hat der Sohn ihn so reden hören. "Ich glaube, Jocki ist alt genug, daß ich ihm die Wahrheit sagen kann." Der nickt eifrig und ist aufs höchste gespannt. Da sagt der Vater bedächtig: "Ich weiß es auch nicht, Jocki. Ich fürchte, kein Mensch weiß es wirklich. Sagen kann man viel, aber sicher wissen? Das ist nicht so leicht. Schau, die Welt ist ein großes Geheimnis, wie ein riesiges Rätsel. Ob es eine Lösung gibt, kann ich dir nicht sagen. Ich habe noch keine gefunden." "Ach so, deshalb gehst du mal in die Kirche und mal nicht?" "Erraten. Ich glaube aber, es ist für uns Menschen auch nicht so wichtig, daß wir da etwas wissen. Wenn es Gott gibt, dann will er sicher, daß wir unserem Gewissen folgen. Und das können wir, so oder so, immer tun. Und so oder so ist es manchmal ziemlich schwer. Du siehst, es kommt eigentlich gar nicht darauf an, ob es Gott gibt oder nicht. Und jetzt haben wir genug philosophiert. Kalte Kartoffeln mag ich gar nicht." Auch Jocki zieht die warmen vor, und so essen die drei schweigend zu Ende. Dann sagt Jocki: "Ich gehe noch ein bißchen spazieren." "In Ordnung, mein Sohn. Das ist gut für die Gedanken. Aber bis 9 bist du wieder da." Mit einer neuen Freundlichkeit blickt der Vater ihn an. Irgendetwas ist anders geworden, spürt Jocki. "Ach Kind," sagt die Mutter, gibt ihm einen Kuß auf die Stirn, holt ihr Taschentuch aus der Schürzentasche. Jetzt nichts als raus, denkt Jocki, schlüpft in den Anorak und stürmt auf die Straße.

Viel fliegt ihm bei seiner Wanderung durch den Sinn. Mal ist er Jocki, dann wieder Pius. In der Alexanderstraße sieht er, gerade unter einer Laterne, einen dunklen Fleck auf dem Asphalt. Ach ja, fällt ihm ein, hier ist ja vorgestern die arme Susanne überfahren worden. Das ganze Viertel hat davon gesprochen. Ihr Ball war auf die Straße gehüpft und sie, ohne zu schauen, hinterdrein. Das Auto konnte nicht mehr bremsen. Lange steht Jocki vor der letzten Spur des unglücklichen Kindes. Im Geist sieht er Susanne wieder vor sich, sie hat so ein besonders nettes Lachen gehabt wie niemand sonst. Jetzt ist sie tot, nie wieder wird er dieses Lachen hören. Ist das denn zu begreifen? Wo ist Gott in jenem Augenblick gewesen? Hat er nicht aufgepaßt? Er hätte dem Ball doch leicht eine andere Richtung geben können, wenn er allmächtig ist. Wie süß hatte Susanne in ihrem weißen Kleidchen ausgeschaut, wenn sie an der Hand ihrer Schwester mit zur Maiandacht getrippelt war. Bei der Taufe wird aus dem Heidenkind ein Gotteskind, so ähnlich hat er es in Religion gelernt. Ein schöner Vater, der mit verschränkten Armen zuschaut, wie seine kleine Tochter totgefahren wird! Ist Gott vielleicht wirklich so wie der schreckliche Graf? Oder ist alles noch ganz anders? Hat Ludwig doch recht? Ist nicht bloß Pius verrückt, sondern alle frommen Menschen? Gibt es in Wirklichkeit gar keinen Gott? Ist Gott bloß eine Einbildung der Menschen, als die noch nicht wußten, warum es blitzt und donnert, und deshalb jemand erfanden, der die Blitze wirft? Jocki erschrickt furchtbar. So darf man doch nicht denken. Da ist Gott sicher sehr beleidigt.

Jocki versucht zu beten. Er möchte Gott sagen, daß er es nicht bös meint, daß er für diese bodenlos frechen Gedanken nichts kann, daß sie ihm einfach so kommen, er weiß nicht, woher. Da merkt er: er kann jetzt nicht beten. Da, wo in seinem Geist früher Gott war, wie ein ganz fester Punkt, an dem man sich immer halten kann, da ist jetzt nichts mehr als ein riesiges dunkles Fragezeichen. Sooft er zu Gott du sagen will, findet diese Anrede keinen Ruhepunkt und zerflattert im Leeren. Es geht ihm wie einem Buben, der seinen Tennisball mit Ausdauer und Begeisterung immer wieder gegen eine Wand schlägt, aber auf einmal ist erst die Wand verschwunden, dann der Ball, und mit dem vertrauten Spiel ist es aus.

Immer noch starrt Jocki auf den Fleck unter der Laterne. Jetzt reißt er sich los und geht grübelnd weiter. Inzwischen ist es dunkel geworden, die ersten Sterne sind erschienen. Im Park legt er sich auf eine Bank und schaut hinauf in den Himmel. In der Schule hat er gelernt, daß jeder Stern eine Sonne ist. Vielleicht haben die Sterne auch Planeten? Gibt es da oben eine Menge solcher bewohnter Murmeln wie unsere Erde eine ist? Jocki stellt sich vor, wie dort irgendwo ein anderer Junge zu ihm herschaut, also herunter. Aber für ihn ist es natürlich auch hinauf. Mag sein, er betet zu seinem Gott. Ob er auch Vater unser im Himmel sagt? Ach, der Himmel ist voller Erden. Ist zwischen ihnen Platz für Gott?

Ob der andere Junge aussieht wie er selbst? Mit Armen und Beinen? Das kann man nicht wissen. Mag sein, die Menschen dort haben sich aus den Fischen entwickelt, so wie wir aus den Affen. Dann würde der andere vielleicht dicht unter der Oberfläche des Ozeans schweben und mit sehnsüchtiger Neugier zum nächtlichen Sternenhimmel hinaufschauen... Und so nicht nur er. Wieviele Sterne gibt es denn! Milliarden von Milliarden. Wenn auch nur jede hunderttausendste Sonne einen bewohnten Planeten hätte, dann gäbe es immer noch Milliarden Erden im Himmel. Und auf einmal ist für Jocki der ganze Himmel voller Blicke. Aber kein riesiger, harter, übermächtiger Blick ist es jetzt mehr, sondern eine Unsumme fragender, menschlicher Augenpaare schaut von überall her nach überall hin. Ein heißes Verbundenheitsgefühl überkommt Jocki. Ja, liebe Freunde, ich gehöre zu euch. Aber mich dürft ihr nicht fragen. Ich weiß auch nicht, was das Ganze bedeuten soll. Durch die Blätter der Parkbäume raschelt ein Windstoß, von der Hauptstraße herüber dringt das Lärmen der abendlichen Autos. Wie im Traum steht Jocki auf und geht langsam nach Hause. Bei jedem Schritt fühlt er vom Himmel her unzählige ratlos staunende Blicke auf sich gerichtet.

Wie er endlich im Bett liegt, ist es fast halb zehn. Vor dem Einschlafen fällt sein Blick noch auf die holzgeschnitzte Jesusfigur an der Wand. Doch es ist Jocki dabei gar nicht nach Beten zumute, nur nach Überlegen. Schaut der Mann am Kreuz nicht ebenso fragend aus seinen Augen wie ich selbst und alle meine Brüder im Weltall? Oder hat Er die Antwort gewußt? Gott, wenn es dich gibt, zeig mir die Wahrheit. Mir und dem unglücklichen Pius. Amen. Mit diesem Gebet schläft Jocki ein.

Im Traum ist er wieder Pius, und zwar eingesperrt in einem Käfig. Rechts und links in anderen Käfigen traben zwei riesige Löwen aufgeregt hin und her. Da öffnet sich die Tür des Raumes, ein Wärter mit blutiger Schürze fährt auf einer Schubkarre zwei große Stücke Fleisch herein. Wie die Löwen die sehen, springen sie gierig gegen ihre Gitter, daß die Stäbe klirren. Gerade will der Wärter mit einem langen Haken das erste Stück in einen Käfig stecken, da ertönt ein befehlendes "Halt!" Gehorsam legt er das Fleisch zurück in die Karre. Vor den Käfigen steht, in einer schwarzen Uniform, der Graf. Zornig blickt er auf Pius, die Hände in die Seiten gestemmt. Doch gleich läßt er sie entspannt fallen und ein widerlich-gemeines Lächeln überzieht sein Gesicht. "Du lebst noch und die Löwen sind hungrig. Ich habe eine Idee, wie diese beiden Probleme sich auf einmal lösen lassen könnten. Gib den Schlüssel," herrscht er den Sklaven an. Der nimmt einen dicken Schlüsselbund vom Gürtel, fingert einen davon los und reicht ihn dem Grafen. Bibbernd hat Pius-Jocki sich in die hinterste Ecke seines Käfigs gedrückt und sieht, wie der Graf den Schlüssel ins Schloß steckt.

In diesem Augenblick geschieht das Wunder. "Zurück, Satan!" donnert eine gewaltige Stimme. Der Graf stürzt zu Boden und, Jocki traut seinen Augen nicht, verwandelt sich mehr und mehr in die schwarze Dogge, die damals sein linkes Ohr gefressen hatte. Hinter ihr steht in langem goldenem Gewand ja, wer ist das? Jocki findet sich nicht zurecht in diesem Gesicht. Es ist dauernd in Bewegung; mal sieht es aus wie seine Mutter, dann wie sein eigenes Spiegelbild, dann wieder wie der Graf. Die Erscheinung beugt sich nieder, legt dem winselnden Hund eine Halskette an, wirft das andere Ende der Leine dem Wärter hin und befiehlt: "Bring ihn weg und dann füttere deine Löwen." Mit der Stimme ergeht es Jocki wie mit dem Gesicht, sie erinnert ihn an die Mutter, an ihn selbst, an den Grafen und doch klingt sie ganz anders als er je eine Stimme gehört hat.

Im nächsten Augenblick dreht sich der Schlüssel im Schloß und die Tür fliegt auf. Dann sagt die Stimme: "Fürchte dich nicht, Jocki. Der Graf ist unschädlich gemacht. Er kann dir nichts tun. Und einen schönen Gruß von Susanne; sie gibt gut auf dich acht." "Susanne," schreit Jocki; denn beim letzten Satz waren Gesicht und Stimme der Erscheinung unverwechselbar die des überfahrenen Mädchens mit dem einmaligen Lachen gewesen.

O, nur ein Traum, denkt Jocki und weiß nicht, soll er froh oder traurig sein. Aber draußen flötet vergnügt eine Amsel und bald liegt unser Freund wieder in tiefem Schlaf.


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