Jürgen Kuhlmann

DREI-EINIGER FRIEDE

Thesen über das Verhältnis
gegensätzlicher Glaubensweisen zueinander

[Erstellt für die Tagung »Eine Erde - viele Religionen«
im Mai 1997 in der evangelischen Akademie Hofgeismar bei Kassel]

A) FORMAL

1) Jeder der drei bekannten -ismen kann entweder ideologisch aufgefaßt sein (als wäre er die Wahrheit, kurz: mono) oder aber stereo-vernünftig (als wahrer Pol, der sich aber auf andere Pole bezieht).

a) Exklusivismus. Mono-verachtend: Nur bei uns ist Wahrheit und Heil, alle anderen sollen letztlich schweigen. Resultat: Totale Lieblosigkeit. Stereo-konzentriert: Uns hat sich das Heil offenbart und will durch uns auch anderen sich zeigen. Was mit diesen ist, steht bei Gott.

b) Inklusivismus. Mono-vereinnahmend: Unser Glaube ist der wahrste, die anderen enthalten Strahlen seines vollen Lichts. Idealerweise gäbe es nur ihn, so daß er alles irgendwo Gültige reinigt, bewahrt, anreichert und integriert. Resultat: Immer noch unerträgliche Arroganz. Stereo-reziprok: Schönstes Symbol ist die (vermutlich zunächst von Raimon Panikkar erfundene, dann passierte) Geschichte, wie Karl Rahner einen buddhistischen Weisen beim Tee fragt, ob er ihn für einen anonymen Christen halten dürfe. Gern, lächelt dieser, übrigens kommen Sie mir vor wie ein anonymer Buddhist.

c) Pluralismus. Mono-Lärm relativistisch: Das Absolute kann nicht in die Geschichte kommen, die Glaubensweisen sind bloß - kulturell verschiedene - Modelle der in sich unerkennbaren Wirklichkeit. Resultat: Totale Sinnlosigkeit; aus gleich gültig wird gleichgültig. Stereo-Konzert relational: Das Absolute offenbart sich uns wirklich, und zwar auf je verschiedene Weise. Nicht ist alles gleichgültig; Gleichheit bedeutet vielmehr, "daß viele Religionen gleichermaßen bedeutungsvolle und gültige Botschaften für die Menschen haben können" (P. Knitter, Horizonte der Befreiung,232).

2) Während die drei Mono-Verständnisse einander widersprechen, sich gegenseitig ausschließen, ist jeder Stereo-Vollzug auf die beiden anderen hin offen:

a) Demütige Konzentration auf den eigenen Glauben - b) Hoffnung auf das Enthaltensein des fremden Wahren im eigenen, von uns noch unvollkommen verstandenen Glauben und umgekehrt - c) Liebe-voller Umgang mit den uns gleichrangigen Anhängern aller Glaubensweisen im Maß von deren Verantwortbarkeit (und zwar vor den je von ihnen Betroffenen! So scheidet nicht nur der Nazismus aus dem Kreis der Oekumene aus, sondern auch christliche Bräuche wie Hexen- und Ketzerverbrennung, oder weibliche Beschneidung, Kastenarroganz usw.) -

Alle drei Einstellungen haben im selben Herzen Platz, wenn auch nicht gleich ausdrücklich und intensiv zur selben Zeit. So geht es aber den göttlichen Wahrheiten auch in jeder einzelnen Religion; Weihnachten, Karfreitag und Ostern z.B. werden durch das Kirchenjahr getrennt, sonst würden ihre Botschaften sinnlos verschmelzen oder uns zerreißen.

3) Die Pluralismus-Problematik ist die religiöse Facette der allgemeineren Frage nach dem Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung. a) Alles zwischen Himmel und Erde, auch jede Religion, ist vielfach vermittelt und analysierbar - sprachlich, kulturell, überhaupt materiell. Das weiß man heute. b) Mitten in jedem Vermittelten ist unmittelbar das Unbedingte wirklich, das erfährt und glaubt jedes vernünftige Gemüt. Andernfalls wäre es höchstens verständig: jenes rationale Tier, dessen Verbreitung für Karl Rahner ein möglicher Untergang der Menschheit wäre.

4) Anschauliches Gleichnis ist der zugleich eine und gegliederte Leib eines Lebewesens, von dessen Organen jedes - hoch kompliziert - anders programmiert, jedoch nicht nur Teil eines Ganzen ist, sondern Seinsweise derselben einfachen Person, die (jeweils ganz!) als Auge sieht, als Zunge kostet, als Finger geigt. In einem Brief schreibt Wladimir Solowjow am 27. November 1892: »Die Religion des Heiligen Geistes, zu der ich mich bekenne, ist weiter und gleichzeitig inhaltsreicher als alle Einzelreligionen: sie ist weder ihre Summe noch der Extrakt aus ihnen, so wie der ganze Mensch weder die Summe noch der Extrakt seiner einzelnen Organe ist.« Bei der Frage nach dem Ganzen weiß jedes Herz, wenn es den Sinn seines eigenen Ortes voll lebt, daß zu diesem auch seine Beziehung zu anderen Lebenswahrheiten gehört. Das lehrt sowohl der Buddhismus (in Buddhas berühmtem Gleichnis der Blindgeborenen vor dem Elefanten) als auch das Christentum (wenn wir des Paulus Begriff »Leib Christi« oekumenisch zum »Leib des Logos« erweitern, der als seine Glieder alle Sinn-Traditionen der Erde belebt). In jedem Sinn-Organ müssen Grenzzellen gegen Programmvermischung wachsam sein, Brückenzellen durch Nerven mit denen anderer Organe verbunden sein - und beide gegensätzlichen Funktionäre miteinander einen gespannten Frieden halten

B) INHALTLICH-PHILOSOPHISCH

1) Ziel der ökumenischen Bewegung kann keine Super-Ideologie sein, d.h. ein allgemein akzeptiertes Denksystem, in dem jede Religion und Ideologie als Untersystem enthalten wäre. Denn die Absolute Wirklichkeit ist das unbegreifliche Geheimnis und offenbart sich auf so gegensätzliche Weisen, daß sie uns Menschen notwendig als Widersprüche erscheinen.

2) Jede Religion kann und soll aber versuchen, mit den Begriffen ihrer Tradition einen Denkrahmen zu schaffen, innerhalb dessen die fremden Glaubensweisen so enthalten sind, daß sie sich - im Vollzug des Dialogs - dort möglichst gut wiedererkennen. Nicht den Denkrahmen als solchen sollen sie bejahen (vielmehr hat jede ihr eigenes, zu den anderen inkompatibles »Mega-Modell« [L. Swidler]), jedoch ihr eigenes Bild innerhalb des fremden Rahmens. Dies mehr und mehr zu erreichen ist ein Nahziel des Dialogs.

3) Sein Fernziel ist es, die prinzipielle Kompatibilität der gegensätzlichen Mega-Modelle - zwar nicht begreifbar zu machen (denn die absolute Wirklichkeit bleibt immer Geheimnis), wohl aber als ahnbar und hoffbar erscheinen zu lassen. Denn mögen zwei Menschen noch so verschieden denken: sobald sie sich im (globalen) Dorf begegnen, kann es plötzlich zu einer solchen Horizontverschmelzung kommen, daß das (von beiden anerkannte) Geheimnis beide nicht mehr trennt, sondern verbindet, weil jeder schon aus der eigenen Tradition weiß, daß die Wirklichkeit nicht rational erfaßbar ist.

C) INHALTLICH-CHRISTLICH

1) Als christliches Mega-Modell schlage ich die Einsicht vor: Drei-einiges Stereo-Denken überwindet Fundamentalismus und Relativismus. Gott selbst ist unendliche Spannung; kein Wunder, daß absolute Wahrheiten uns als absolute Gegensätze erscheinen, die unserem Verstand Widersprüche sind - doch der Vernunft hoffentlich Pole.

2) Bei der Frage, ob - etwa in Monotheismus, Buddhismus und Humanismus - ein je anderes Heil erfahren und geglaubt wird (so J.A. Di Noia in seinem überzeugenden Artikel "Jesus and the World Religions" [im Internet]) oder (wie die Pluralisten annehmen) dieselbe (prinzipiell unbegreifliche) letzte Wirklichkeit (kulturell) anders erlebt wird - bei dieser ökumenischen Grundfrage bietet sich als Lösungsprinzip die klassische Trinitätslehre an, der gemäß die göttlichen Personen "relationes subsistentes" heißen, frei übersetzt: in sich schwingende Beziehungen, die zwar essentialiter (wesenhaft) absolut identisch sind, aber notionaliter (polar, relational) total gegensätzlich, weil aufeinander bezogene Sinn-Pole. Ihre besten Namen scheinen mir heute die (rein relationalen) Fürwörter zu sein:

DU dürfen wir Gott den Vater nennen;
unser aller tiefstes ICH ist Gottes Ich-Wort, ewig ausgesprochen und in Jesus Mensch geworden;
Ihr WIR=EINS heißt traditionell die heilige Ruach (hebr. = Geist, verwandt mit dem Wort für Mutterschoß), die unendlich bergende Einheit vor und nach jeder Sonderung.

(Als schönstes christliches Bild dieser Beziehungseinheit empfehle ich das - kunstgeschichtlich einmalige - mittelalterliche Fresko in Urschalling, als Farbpostkarte Nr. 9 bestellbar bei Foto-Verlag Berger, D-83209 Prien.)

Eine christliche Antwort auf die obige Frage heißt demnach: Die drei gegensätzlichen Denkweisen

- religiöser DU-Glaube (Heil ist Gemeinschaft mit Gott)

- östliche EINS-Weisheit (Heil ist Auflösung alles Besonderen im unergründlich reinen Ganzen)

- menschliches ICH-Bewußtsein (heil ist, wer wahrhaft sich, d.h. in sich und seinen Mitmenschen das gemeinsame menschliche Selbst verwirklicht)

sie meinen wesenhaft-unbegreiflich dasselbe Heil aller Menschen, relational-vollziehbar aber äußerste (weil im Absoluten wurzelnde) Gegensätze, die auf Erden nie rational kompatibel sein können, somit stets in getrennten Organisationen sich ausdrücken müssen. (Kann jemand sich den Dalai Lama als Katholiken, einen Oberrabbiner als Freigeist oder den jungen Oscar Wilde als Koranschüler oder Zen-Mönch auch nur wünschen?)

D) NACH SOVIELEN BEGRIFFEN ZWEI BILDER

1) Der Sinn des Ganzen ist dreifach in sich selbst gespannt, stellen wir uns diese Spannung als die von drei Dimensionen vor, z.B. so: Durch die linke Eingangstür betrete ich die Kathedrale in Form eines gewaltigen, vielfach durchbrochenen Würfels aus Glas. Dreifach kann ich blicken: entweder hinauf, zum DU Gottes des Vaters. Oder in die Tiefe, nach hinten, wo das unendliche EINS mich bergen will, Sie, die Liebe des Heiligen Geistes. Oder nach rechts, vorwärts, wo ICH selbst mich bejahen will, den Teilhaber am ewig freien Ich des göttlichen Kindes. Entlang jeder dieser drei Linien kann mein Geist sich bewegen, und zwar jeweils an einem von zwei Orten: entweder ich bleibe im Vielen, in der bunten Fülle des Geschaffenen, in welchem der göttliche Sinn sich gestalten will; nennen wir diese Weise "kosmisch". Oder ich konzentriere mich, umgekehrt, aufs Einfache, Ununterschiedene, unsagbar Reine des Eigentlichen selber; das ist das "mystische" Grundgefühl. [Vgl. meine ausführliche Würfel-Erklärung sowie eine Predigt über die drei Dimensionen der Liebe].

Was wir üblicherweise "Religion" heißen, vollzieht sich entlang der DU-Dimension. Das ist die Wahrheit des Judentums, des Islam, der Bahais und aller anderen Formen, den einzigen Gott anzubeten, auch der christlichen Frömmigkeit. Der kosmisch Fromme (unten) versteht seinen Gott als den Herrn der Geschichte [siehe unten D 2]; DU erwählst Völker und Einzelne, Dein Wille erwartet Bestimmtes von uns. Dem frommen Mystiker (oben) dagegen verfliegt das Bestimmte mehr und mehr im Himmel des Einzigen, was gilt: der unendlichen Güte seines göttlichen Freundes. - Entlang der EINS-Dimension vollzieht sich die Geborgenheit im All-Einen, ihre kosmische Weise (vorn) ist das rauschhafte Grundgefühl, das viele Künstler belebt und in südlichen Festen schwingt. Die mystische Eins-Weise (hinten) ist nüchtern, auf sie richtet sich die Aufmerksamkeit des Zen-Jüngers und anderer strenger Buddhisten. Wer von ihr gekostet hat, sucht zwischen esoterischem Gebabbel und anti-esoterischer Kritik ruhig seinen Weg der Meditation. - Die kosmische Weise der ICH-Dimension (links) begegnet uns als die Einstellung solcher Humanisten, ja Atheisten, die es mit sich und anderen gut meinen, denken wir an "gläubig Ungläubige" wie Feuerbach, Aldous Huxley oder Camus. Ihre Betonung des menschlichen Ich verteidigt auch eine absolute Wahrheit! (Als der Jüngere der verlorenen Söhne fortging, war nur seine Leugnung des Du falsch, nicht sein Ja zum Ich; eben deshalb geriet sein Bruder dann gleichfalls in die Krise, weil er umgekehrt genauso einseitig war.) Die mystische Weise der ICH-Dimension schließlich (rechts) ist die tiefe Offenbarung an Indien (bei uns auch an Meister Eckhart und C.G. Jung): Atman = Brahman, alle Lebewesen sind verschiedene Gestaltungen, Seinsweisen desselben innersten SELBST.

2) Gottes Liebesgeschichte mit der Menschheit scheint vier große Etappen zu umfassen (mit welchen Unteretappen, weiß ER allein). a) Verlobungs-Ja mit Israel (vgl. Hosea 2,14-22) b) Hochzeits-Ja in Jesus Christus (2 Kor 1,20; Eph 5,32), d.h. die Menschlichkeit des absoluten Sinnes in allen drei Dimensionen. Christus hat zu Gott gebetet, auf radikal unentfremdete Weise "ich" gesagt und "im Heiligen Geist gejubelt" (Lk 10,21). Der ewig gültige SINN des Ganzen ist einer von uns geworden; ein Mensch aus Fleisch und Blut hat in die Geschichte der Zweifel das endgültige Ja Gottes gebracht. c) Neugefärbtes Ja als Gottes Protest gegen der Kirche Versagen in der byzantinischen Christenheit (Islam) d) ausdrücklich ökumenisches Ja (Bahaitum). Mission und Konversion sind in allen Richtungen möglich und zu respektieren, doch stets nur individuell-heilsgeschichtlich begründbar (theology of story), nie mit Kategorien der Heilsgeschichte im Großen oder gar streng logisch. Dogmatische Argumente gelten allein innerhalb einer Etappe, nicht zwischen ihnen: denn jede Erfüllung früherer Verheißung entwertet diese nicht, sondern bekräftigt sie. Der Glaube einer früheren Etappe soll dem späteren nicht als überholt gelten, sondern als sinnvolle Vergegenwärtigung des eigenen Ursprungs; die Gläubigen einer späteren Etappe seien von den Anhängern einer früheren als verheißungsvolles Zeichen dafür geachtet, daß Gottes Ja sich gegen menschliche Untreue immer neu durchsetzt.

Mai 1997


Schriftenverzeichnis im Internet

Das Buch Ehrfurcht vor fremder Wahrheit (Nürnberg 1996) behandelt ausführlich das Thema dieser Seite.


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/oecutrin.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann