Jürgen Kuhlmann

Stärker als die Schwerkraft ist das Licht!


Der Glaubensweg von Simone Weil


Am 24. August 1943 um halb elf Uhr abends starb in einem englischen Sanatorium Simone Weil: an "Herzversagen infolge Herzmuskelschwäche, verursacht durch Hungern und Lungentuberkulose". In dem halben Jahrhundert seither wurden Zivilisationen umgekrempelt, Weltreiche gestürzt, Zeitgeister durchgesetzt und abgetan. Simone Weil aber lebt, um so kraftvoller, je mehr wir Sterbenden uns von ihren Einsichten ergreifen lassen.

Wer ist Simone Weil? Am 3. Februar 1909 als zweites Kind einer jüdischen Familie in Paris geboren, besucht sie dort eine der großen Eliteschulen, unterrichtet dann als Philosophielehrerin an einem Gymnasium in der Provinz. Während der Weltwirtschaftskrise setzt sie sich für Arbeitslose ein, wird als Unruhestifterin verhaftet, erhält den Spitznamen "Rote Jungfrau", gerät jedoch auch bei ihren sozialistischen Freunden an den Rand. Eine Zeitlang schuftet sie fast bis zum Zusammenbruch als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik.

Langsam wächst sie, auch durch mystische Erlebnisse, in den christlichen Glauben hinein, schreibt aber an einen katholischen Freund: "Für den Augenblick wäre ich eher geneigt, für die Kirche zu sterben, als in sie einzutreten - falls sie es nächstens nötig hätte, daß man für sie stirbt. Sterben, das verpflichtet zu nichts, wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lüge ein."[1]

Aus diesem Satz spricht ihre Größe - und auch ihre Grenze; denn ganz ohne solche "Lüge" zu leben ist nur Ausnahmemenschen möglich; wir anderen müssen uns in allerlei Apparate einfügen - Firmen, Ämter, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Redaktionen usw. - deren offizielle Linie wir selten ganz und mitunter nur zähneknirschend mittragen können. Weil die Welt aber ohne derlei Kollektive nicht auskommt, muß ich wohl oder übel damit einverstanden sein, daß die Leute mich in die klobigen Schubladen meiner Zugehörigkeiten zwängen, so sehr das klemmt und zwickt. Doch kann die unbändige Ehrlichkeit von Menschen wie Simone Weil uns den Mut stärken, unverdrossen an der Verfeinerung unserer jeweiligen Apparate zu arbeiten.

Jahrzehntelang hatte die Öffentlichkeit von ihr das Bild, wie es ein französischer Herausgeber ihrer Schriften gezeichnet hat: "Simone Weil hat zuerst versucht, katholisch zu werden. Sie ist nicht getauft. Sie zögert einen Moment. Sie weigert sich jedoch, nach genauer Überlegung, der Kirche anzugehören, denn sie gehört noch mehr zu der Welt, die außerhalb der Kirche ist: wegen ihrer rationalen Bildung, ihrer Intelligenz, ihrer Liebe zum antiken Griechenland, ihrer Freundschaft mit den Ungläubigen. Sie will nicht allein die Tür durchschreiten, mag nicht und niemanden verraten. Sie beschließt, bei jenem Verbund von Realitäten zu bleiben, den die Kirche noch nicht hat integrieren können oder wollen. Sie wird die Christin von draußen sein und herrlich daran erinnern, daß es auch Arme, Gedemütigte, Ungläubige, Ketzer, eine ganz andere Denkströmung gibt. Sie steht auf der Schwelle, wartet auf Gott, reglos, unbeweglich, in Geduld, und trägt für immer in ihrem Herzen das Leiden Christi und all die guten Dinge, die Gott liebt, die Kirche aber noch nicht anerkannt hat."[2]

Simone selbst sagte es so: "Wenn ich mein ewiges Heil vor mir auf diesem Tisch liegen hätte und ich nur die Hand auszustrecken bräuchte, um es zu erlangen, dann würde ich die Hand so lange nicht ausstrecken, als ich nicht dächte, den Befehl dazu empfangen zu haben ... Denn ich begehre nichts anderes als den Gehorsam in seiner ganzen Fülle, das heißt: bis zum Kreuz."[3]

Bis vor kurzem galt als erwiesen, sie habe den Befehl zur Taufe bis zuletzt nicht empfangen.[4] Doch in seiner großartigen Biographie berichtet 1989 Georges Hourdin, der Verfasser jenes Vorworts von 1962, daß Simone Weil kurz vor ihrem Tod tatsächlich getauft worden ist, allerdings nicht feierlich in einer Kirche, auch nicht von einem Priester und mit Eintragung ins Taufbuch. Wohl aber, und zwar auf ihre Bitte hin, von ihrer Freundin Simone Deitz im Londoner Krankenzimmer. Hourdin zitiert aus einem Brief von Pater Perrin, Simones Dominikaner-Freund damals in Marseille, der persönlich mit der Täuferin gesprochen hat: "Einige Tage vor ihrer Abreise ins Sanatorium von Ashford, wo sie am 24.August 1943 erlöschen sollte, hatte Simone eine ziemlich lebhafte Diskussion mit einem französischen Priester gehabt, der sich in London aufhielt und dem Freien Frankreich nahestand. Er hatte ihr ihre Halsstarrigkeit hinsichtlich gewisser Positionen der römischen Kirche vorgehalten und ihr gesagt, dies sei mit der Taufe unvereinbar. Als sie dann allein waren, bat Simone ihre Freundin, sie zu taufen. Diese ging darauf gern ein, faltete ihre Hände unter dem Wasserhahn und ließ sie voll Wasser laufen, das sie auf Simones Stirn goß, während sie die Worte des Glaubens sprach. Besagte Freundin wiederholte diese Geste vor mir. Also hat Simone bewußt und auf ihre Bitte hin die Taufe empfangen. Aufgrund dieser Einzelheiten gibt es keinen Zweifel an der Gültigkeit ihrer Taufe, auch wenn sie außerhalb des Normalen liegt."[5]

Simone Deitz selbst schreibt in einem Brief an Hourdin: "Simone war voll bei sich, als sie die Taufe verlangte. Sie nahm den Limbus nicht an. Als ob der Limbus in der katholischen Religion von Wichtigkeit wäre! ... Ich habe keine Umstände gemacht, ich habe sie mit Wasser aus dem Wasserhahn getauft."[6]

Gewiß ist das Geheimnis eines Herzens, und eines solchen Herzens, zu respektieren. Hat Simones "Entscheidung zur Distanz"[7] vom kirchlichen Apparat, so gültig sie bleibt, zuletzt ihren Gegenstand verloren, weil die Institution an der Schwelle des Todes nichts mehr bedeutet? P. Ludwig Kaufmann SJ schrieb mir im Herbst 1989, "es sei Simone Weil gegenüber vielleicht nicht fair, diesen Schritt so ins Zentrum zu rücken, insofern er, wenn ich es recht verstanden habe, bereits in einer Phase physischer Erschöpfung erfolgt ist." Mag sein. Mir kommt die andere Deutung wahrscheinlicher vor: In der Reife ihrer letzten Lebenswochen hat sie nur mehr die göttliche Musik der Kirche vernommen, die bösen Mißklänge erreichten nicht mehr ihr inneres Ohr. Darum durfte sie sich taufen lassen. Wollten die Anhänger beider Sichten zu streiten anfangen, dann würde Simone sie wehmütig-fassungslos anschauen und etwa sagen: Gar nichts habt ihr verstanden. Letzte Erschöpfung und klarste Gnade schließen einander doch nicht aus, sondern ein! "Man muß dahin gelangen, im Leiden, das Nichts und Leere ist, eine noch vollere Wirklichkeit zu finden."

Was ändert sich dank dieser überraschenden Entdeckung? Die unwichtigste neue Perspektive ist eine kirchenpolitische: Simones deutsche Biographin hat plötzlich nicht mehr recht, wenn sie nach ironischer Darstellung der offiziellen Heiligsprechungspraxis erleichtert feststellt, man müsse "um so dankbarer sein, daß einer Simone Weil dergleichen erspart bleiben wird: da sie nicht Mitglied der Kirche war, kann sie weder als Kirchenlehrerin noch als Heilige kandidieren."[8] Da sie tatsächlich beides gewesen und als Glied der katholischen Kirche gestorben ist, stünde der Weg zur amtlichen Ehrung offen. Doch bis jede Simone einen ordentlichen Namenstag hat, dürfte es noch eine Weile dauern.

Wichtiger ist die Einsicht, daß mit der Philosophin in gewisser Weise auch ihre Philosophie kirchlich geworden ist. Bei der unvergleichlichen Lauterkeit ihrer Motivation dürfen wir gewiß sein: Gott hätte sie nicht zur Katholikin werden lassen, wenn in Seinen Augen ihr Glaube nicht innerhalb des katholischen Glaubens Platz hätte. Denn bestimmt hat Simone ihren Glauben nicht geändert. Die Freundin der Griechen, Hindus und Buddhisten, der Atheisten und letzten Menschen ist sie geblieben. Wenn sie es aber als Katholikin und Glied der Kirche war, dann heißt das mit jener logischen Schärfe, an der ihr soviel lag: Die Kirche selbst steht auf der Seite auch derer, die nicht zu ihr gehören. Um es mit einem Rätsel nach Art der Zen-Koans zu sagen: "alle Buchstaben" - stimmt das? Ja und nein. Das Zeichen meint auch die fremden Buchstaben mit, die es nicht mit bilden, die x,y,z und wie sie sonst heißen. So gehören zum SINN der Kirche, des "unter den Völkern aufgerichteten Zeichens", auch all die Kulturen und Menschen, die in ihrem zeichenhaften Sein nicht Platz finden. Was die Kirche als Apparat, auf der Plattform rivalisierender Organisationen, nach außen hin sein muß, nämlich gegen bestimmte Denk- und Lebensformen (nie werden Papst und Dalai Lama dieselbe Person sein), das ist nur ihr Schleier, der die unbeschränkte Solidarität verbirgt.

Simone Weil ist geblieben, wo sie war, nämlich draußen jenseits aller ausschließenden Schubladen, eben dies Draußen aber hat sie ins Herz der Kirche hereingeholt. Nein, solche Ungenauigkeit hätte sie nicht durchgehen lassen, es muß heißen: Eben an dieses Draußen, das in der Person Jesu, des Freundes der Sünder und Zöllner, seit Ostern das Herz der Kirche ist, hat sie stürmisch erinnert und wird das Sein des Christentums von jetzt an noch viel wirkungsvoller an seinen Sinn mahnen. Denn jetzt darf kein christlicher Theologe sie weiterhin als Fremde abtun. Was Heinz Robert Schlette ihren "Universalismus" nennt[9], steht zwar schon im Neuen Testament: "Jesus Christus ... war nicht Ja und Nein zugleich, sondern das Ja ist in Ihm geschehen. Denn was da ist an Verheißungen Gottes - in Ihm ist das Ja" (2 Kor 1,19 f). Trotzdem nennt noch das letzte Konzil (ausgerechnet am Anfang des Dekretes über die Religionsfreiheit) das Christentum die "einzig wahre Religion", ebenso - dreißig Jahre später - der neue Weltkatechismus (Nr. 2105)!

Das ist dieselbe Verwechslung, die Simone im Mai 1942 an Pater Perrin so häßlich fand: "Sie haben mir auch sehr weh getan, als Sie eines Tages das Wort 'falsch' gebrauchten, als Sie 'nicht-orthodox' sagen wollten ... Es ist unmöglich, daß dies Christus gefällt, der die Wahrheit ist. Es scheint mir sicher, daß dies bei Ihnen eine ernstliche Unvollkommenheit darstellt. Und warum sollte es Unvollkommenheit in Ihnen geben? Es paßt sich durchaus nicht für Sie, daß Sie unvollkommen sind. Das ist wie eine falsche Note in einem schönen Gesang."[10]

Oder doch eher eine Dissonanz, die aber - recht vernommen - ihre Wichtigkeit und Schönheit hat? Wer jene kühne Behauptung um die Wörtlein "für mich" ergänzt, darf so sprechen: Für Christen ist das Christentum die einzige wahre Religion. Das lehrt uns Gottes Bild, der lebendige Mensch: Ich erlaube einer Herzzelle keineswegs, nach Belieben in Auge oder Darm abzuwandern! Jedem Organ sein Programm; wollte schon der Magen sich an die kritische Nierenwahrheit halten, würde ihm übel. Ähnlich bilden die großen und kleinen Sinnorgane der Menschheit nur zusammen den gott-menschlichen Sinnleib. Eine Einheitsreligion zu erstreben wäre übler, ja teuflischer Ökumenismus, sie ist ebensowenig lebensfähig wie ein Fleischbrei.

"Für mich" sagen - darf ein Mensch das aber? Diese seltsame Frage bringt uns ins Herz der Mystik von Simone Weil. "Ich sagen heißt lügen,"[11] diese Kurzformel ihrer Überzeugung hat sie einmal erwogen. Wer ich sagt, hält das Schöpfungsgeschehen an, tut so, als wäre er eine feste, klar begrenzte Gestalt. Das ist er aber nicht, vielmehr eine Dauer-Schöpfung, eben jetzt verwirklicht durch göttlichen Selbst-Verzicht, in den ich mich einschwingen muß, sonst verfälsche ich mich: "Gott hat schaffen können nur durch Sich-Verstecken. Andernfalls gäbe es nur ihn."[12]

Stellen wir uns einen unendlich großen Kreis vor und darin einen winzigen. Das Ganze kann den Teil nur entstehen lassen, indem es vom meisten seiner selbst absieht, sich fast ganz wegläßt. Der geschaffene Kreis kann dieses Ursprungs-Opfer, dem er sich verdankt, nur so bejahen, daß er in den Schrumpf-Prozeß einstimmt, selber zum bloßen Punkt zu entwerden bereit ist: "Entschöpfung: Geschaffenes überführen ins Ungeschaffene. Zerstörung: Geschaffenes überführen ins Nichts. Schuldhafter Ersatz [deutsch] der Entschöpfung."[13] Göttlich ist die reine Fülle des Ganzen wie die reine Leere des Punktes; die Schöpfung beginnt als Übergang vom Ganzen zur endlichen Gestalt und vollendet sich durch Entschöpfung:

"Die Schöpfung ist ein Akt der Liebe, und sie ist unaufhörlich. In jedem Augenblick ist unser Dasein Liebe Gottes zu uns. Gott aber kann nur sich selbst lieben. Seine Liebe zu uns ist Selbstliebe durch uns hindurch. Also liebt er, der uns das Sein gibt, in uns die Einwilligung, nicht zu sein. Unser Dasein besteht nur aus seinem Warten auf unsere Einwilligung, nicht da zu sein."[14]

Das Werden gelangt zum Sein erst durch das Entwerden.[15] Wer diesen Liebes-Schwung anhält, indem er ich sagt, seinen unreinen Umriß festigt, weiterzuschrumpfen sich weigert: der lügt, sündigt gegen den Gott der Liebe und schadet dabei sich selbst, weil er seiner Rückvergottung widerstrebt.

Viele einprägsame Vergleiche findet Simone Weil, um diese Einsicht auszudrücken, z.B. dieses herrliche Prinzip einer grünen Spiritualität:

"Alle natürlichen Bewegungen der Seele sind Gesetzen unterworfen, die denen der stofflichen Schwerkraft entsprechen. Ausnahmen macht allein die Gnade. Zwei Kräfte herrschen über das Weltall: Licht und Schwere. Ganz allgemein wird das, was wir von den andern erwarten, durch die Wirkungen der Schwerkraft in uns bestimmt; was wir von ihnen empfangen, wird bestimmt durch die Wirkungen der Schwerkraft in ihnen ... Dagegen gäbe es nur ein einziges Heilmittel: ein Chlorophyll, das erlaubte, sich von Licht zu nähren.

Nicht richten. Alle Vergehen sind gleich. es gibt nur ein Vergehen: daß wir nicht fähig sind, uns von Licht zu nähren. Denn wenn diese Fähigkeit zerstört ist, sind alle Vergehen möglich."[16]

Wer von diesem Lichtstrahl einmal getroffen worden ist, wird ihn nie mehr vergessen. Üblicherweise machen wir es wie hungrige Tiere, fallen übereinander her, nutzen andere aus, um uns von ihnen zu holen, was wir brauchen. "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" oder, wo es nicht ganz so schmerzlich zugeht, knabbert man doch an den Nerven seiner Mitmenschen, ähnlich wie die Kuh auf der Weide die wehrlosen Grashalme abrupft. Man sagt: Das ist der Lauf der Welt, von nichts kommt nichts, also sehe ich zu, wem ich etwas nehmen kann. - Nein, ruft Simone Weil dazwischen: Wenn du das Blattgrün der göttlichen Gnade in dir wirken läßt, bist du nicht auf fremde Materie angewiesen, sondern kannst, umgekehrt, dich selbst zur Nahrung für Bedürftige machen. Sei Gras, nicht Rindvieh! Simone selbst hat sich bis zur Erschöpfung so verhalten, ließ z.B. in der Wohngemeinschaft ihren Geldbeutel grundsätzlich immer offen herumliegen. Aufs Haben kommt es nicht an:

"Der Mensch hat kein Sein, er hat nur ein Haben. Das Sein des Menschen hat seinen Ort hinter dem Vorhang, auf seiten der Übernatur. Was er von sich selbst zu erkennen vermag, ist einzig das, was ihm die Umstände leihweise geben. Das Ich ist mir (und den andern) verborgen; es ist auf seiten Gottes, es ist in Gott, es ist Gott. Hochmütig sein heißt vergessen, daß man Gott ist."[17]

Wenn der Hochmütige seine Mitmenschen erniedrigt, um selbst besser dazustehen, verachtet er zugleich die eigene Würde, katapultiert sich selbst aus der göttlichen Dimension hinaus, die allein unser aller wahre Größe ausmacht. Falls in mir eine Augenzelle eine Dickdarmkollegin mißachten wollte, müßte ich ihr klarmachen, daß auch sie ohne mich bloß ein Stück Chemie ist und ich ohne Darm arm dran wäre. Nicht Farbe noch Form zählen bei einem Licht der Welt, nur die göttliche Helle, die durch es scheint

So weit so klar. Das besondere Charisma dieser Heiligen ist eben der unerbittliche Akzent: Eine endliche Gestalt, entstanden dank göttlichem Selbst-Verzicht, darf sich nicht festhalten, soll sich in Gott hinein entschöpfen, muß sich folglich selbst verneinen. Deshalb mußte die polare Gegenwahrheit, das ebenso tiefe und wahre Ja des Geschöpfes zu seiner Gestalt, bei Simone Weil im Schatten bleiben. Der kleine Kreis soll liebend schrumpfen, ebenso aber Nu für Nu jener göttlichen Teilhabe sich freuen, die er ist. Und darf solcher Seinsfreude auch gesellschaftliche, öffentliche Form geben. Das hat Simone Weil zu wenig gesagt. Doch spielt im Orchester jedes Instrument seinen Teil; ganz klingt die Sinfonie nur dank allen zusammen.

Nicht nur Juden allerdings sind mit Recht schockiert über die antisemitischen Ergüsse der Jüdin Simone Weil: "Israel. Alles schmutzig und gräßlich, wie mit Absicht, seit Abraham einschließlich (einige Propheten ausgenommen). Wie um ganz klar anzudeuten: Achtung! Hier ist das Böse! Volk zur Verblendung verurteilt, dazu verurteilt, Christi Henker zu sein."[18]

So kann nur fühlen, wer gebannt bloß auf die Pflicht zur Selbstauslöschung jeder historischen Gestalt starrt und nicht sieht, daß sie gleichwohl, nein: deshalb und eben dazu von Gott gewollt, erwählt, fortdauernd gesegnet ist: "Gott sah alles an, was Er gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,31).[19] Wegen des Schöpfersegens ist Simones Strenge gegen ihr eigenes Volk zu relativieren, auch ihr Urteil über das von ihr so verabscheute Rom[20], schließlich auch das über die römische Kirche, die sich selbst das Neue Israel nennt und (bis heute) "die einzige wahre Religion" - als Konzil aber und im Katechismus, das heißt ad intra, im eigenen Lebenskreis, und da ist es verzeihbar, ähnlich wie wenn ein Vater seine Frau vor den Kindern preist: Gell, unsere Mutter ist die allerbeste! Minder mißverständlich wäre es freilich, das mitgemeinte "für uns" auch mitzusagen.

Sogar Christus selbst, an den sie doch von Herzen glaubte, von dem sie sich mystisch tief geliebt wußte, sogar seine endliche Gestalt nimmt Simone Weil von ihrem radikalen Nein nicht aus. Denn vollkommene Reinheit ist in unserer bösen Welt nicht zu erreichen, nicht einmal von Gott in Person. "Christus hat das ganze menschliche Elend gehabt, außer der Sünde. Doch Er hat alles gehabt, was den Menschen zur Sünde fähig macht."[21] Schlimme Vorurteile hat er gehabt, hätte er sonst eine Tochter Gottes - Hündin genannt? ("Man darf nicht das Brot den Kindern wegnehmen und den Hunden vorwerfen" - Mt 15,26.) Zu mißverständlichen "Nach-Urteilen" hat seine Botschaft geführt; immer noch hallt in der Christenheit unbeantwortet die Frage nach, die Václav Havel im Oktober 1989 in seiner Friedenspreisrede gefragt hat: "Wie war eigentlich das Wort Christi? War es der Anfang der Geschichte der Erlösung und einer der machtvollsten kulturschaffenden Impulse in der Weltgeschichte - oder war es der geistige Urkeim der Kreuzzüge, Inquisitionen, der Ausrottung der amerikanischen Kulturen und schließlich der gesamten widersprüchlichen Expansion der weißen Rasse, die so viele Tragödien verursacht hat, einschließlich der, daß heute der größte Teil der menschlichen Welt in die traurige Kategorie einer angeblich erst Dritten Welt fällt?"[22]

Beides! antwortet Simone Weil; denn alles Irdische ist unrettbar zweideutig. Bestürzend radikal erklärt sie, warum Weihnachten und Karfreitag/Ostern die christlichen Hauptfeste sind: "Es gibt im menschlichen Leben nur zwei Augenblicke vollkommener Nacktheit und Reinheit: Geburt und Tod. Unter der menschlichen Gestalt kann man Gott nicht anbeten, ohne die Gottheit zu beflecken, außer als Neugeborenen und als Sterbenden."[23]

Als Sterbende hat Simone Weil sich heimlich taufen lassen und so in diskreter Deutlichkeit ausgedrückt, daß sie die Stereo-Wahrheit von Nein und Ja zur Schöpfungsgestalt Kirche existentiell gläubig gelebt hat, im Vollzug der wechselseitigen Verzeihung von Gott und Geschöpf - hat wohl je ein Christ das Vater Unser tiefer verstanden? "Am Grunde jeder Sünde liegt Zorn auf Gott. Wenn wir Gott sein Verbrechen gegen uns verzeihen, daß er uns zu endlichen Geschöpfen gemacht hat, wird er uns unser Verbrechen gegen ihn verzeihen, daß wir endliche Geschöpfe sind." [24] - Ist dieser radikale Satz christlich? Ja.

[Zusatz im Fasching 2009: Dazu bemerkt tiefsinnig Gabriele Kaufmann: "Was, wenn ER uns gar nicht zu endlichen Geschöpfen gemacht hat und wir es IHM nur in die Schuhe schieben...?“ In der Tat: Wo ein Organ sich als isoliertes Ding erlebt statt als Lebendiges im EINEN LEBEN, ist es krank, nicht das Ganze bedarf dann der Verzeihung, nur das so verirrte Organ. Freilich bleibt Simones Kühnheit eine gelungene Übersetzung dieser mystischen EINS-Wahrheit in die andere Sprache des Glaubens an DICH den zu mir anderen GOTT.]

"Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde," sagt Christus im Ritus der Priesterweihe zu den Seinen. Eine Beziehung zwischen Freunden wird bis auf den Grund von wechselseitiger Vergebung bestimmt; wer in solcher Helle ich sagt, lügt nicht, freut sich vielmehr seiner selbst als einer göttlichen Perspektive, einer Selbstkonzentration Gottes auf eines seiner lebendigen Glieder, ähnlich wie du selbst es bist, der als Finger dies Papier oder als Fuß den Boden spürt:

"Die Notwendigkeit, daß Gott mich liebt, kann ich nicht begreifen, da ich doch so deutlich fühle, daß sogar bei den Menschen Zuneigung zu mir bloß ein Mißverständnis sein kann. Aber ich stelle mir mühelos vor, daß er diese Perspektive der Schöpfung liebt, die man nur von dem Punkt aus haben kann, wo ich bin. Doch ich verstelle diese Aussicht. Ich muß mich zurückziehen, damit er sie sehen kann. Ich muß mich zurückziehen, damit Gott mit jenen Wesen in Berührung treten kann, die der Zufall auf meinen Weg stellt und die er liebt."[25]

Gegen Ende ihres Glaubensweges, scheint mir, hat Simone Weil selbst gespürt, daß ihre frühere Sicht allzu schroff war, nicht im Sinne des Schöpfers, der das Endliche will. Das schließe ich aus der Korrektur, die sie in einer der letzten Londoner Notizen am Blattgrün-Gleichnis angebracht hat: Ohne Chlorophyll geht es nicht, gewiß, aber: "Man darf nicht vergessen, daß eine Pflanze von Licht und Wasser lebt, nicht von Licht allein. Es wäre also ein Irrtum, nur auf die Gnade zu zählen. Es braucht auch irdische Energie."[26]

Simone Weil hat oft fast unerträgliche Kopfschmerzen gehabt. Wie die Greuel der Nazis und des Weltkriegs auf ihr überfeines Gemüt wirkten, können wir kaum ahnen. Um so strahlender tönt Gottes unbegreifliches Heil aus Sätzen wie den folgenden.[27] Wer zum Kern dieser Nuß vordringt, hat für böse Tage einen rettenden Vorrat.

"Zu sagen, die Welt sei nichts wert, dieses Leben sei nichts wert, und zum Beweis das Übel anzuführen, ist widersinnig; denn wenn sie nichts wert sind, wessen beraubt dann das Übel? So sind das Leiden im Unglück und das Mitleid mit andern desto reiner und heftiger, je besser man die Fülle der Freude begreift. Wessen beraubt denn das Leiden den, der ohne Freude ist? Und begreift man die Fülle der Freude, so verhält sich das Leiden noch zur Freude wie der Hunger zur Nahrung. Man muß durch die Freude die Offenbarung der Wirklichkeit empfangen haben, um die Wirklichkeit im Leiden zu finden. Sonst ist das Leben nur ein mehr oder minder schlechter Traum. Man muß dahin gelangen, im Leiden, das Nichts und Leere ist, eine noch vollere Wirklichkeit zu finden. Ebenso muß man das Leben sehr lieben, um den Tod noch mehr zu lieben."

Nachtrag 2009: Heute vor 200 Jahren wurde Felix Mendelssohn Bartholdy geboren, heute vor 100 Jahren Simone Weil, zwei jüdische Menschen, die für die Christenheit wichtig sind. Was Simones Taufe angeht, habe ich ein Vorkommnis zu berichten, das manche Zeugen staunen ließ. Drei Tage vor ihrem Geburtstag fand am 31. Januar in der Münchner Katholischen Akademie eine Tagung über Simone Weil statt; am Nachmittagsvortrag nahm ich teil. Während der Diskussion fragte eine junge Frau: ob stimme, was sie irgendwo gelesen habe, dass Simone kurz vor ihrem Tod noch getauft worden sei?
Als Antwort vernahmen die Zuhörer, eine solche Legende gebe es zwar. Vor Jahren sei in "Geist und Leben“ ein Artikel erschienen mit dem Titel "Gültig getauft“. Die Sache sei aber höchst ungewiss.
Daraufhin trat ich ans Mikrofon und sagte ungefähr: Nach 36 Jahren bin ich erstmals wieder in diesem Saal, damals sprach Professor Ratzinger über Erlösung. Heute freue ich mich über eine schöne Fügung. Ich habe jenen Artikel in "Geist und Leben“ geschrieben (Raunen im Saal) und kann Ihnen versichern: Wenn Simones Taufe ungewiss ist, dann gibt es so etwas wie historische Sicherheit überhaupt nicht. Eine Freundin bezeugt ausdrücklich, dass sie die todkranke Simone auf ihren Wunsch hin kurz vor dem Sterben getauft hat. Ein Priester hatte ihr die Taufe verweigert, weil sie nicht an den Limbus glaubte (der wird inzwischen vom Vatikan selbst nicht mehr eingeschärft): "Ich habe (schreibt die Freundin) keine Umstände gemacht und sie mit Wasser aus dem Hahn getauft.“
Ich kenne die Fragestellerin nicht. Hätte sie nichts gesagt, wäre auch in der Katholischen Akademie – wie in zwei Gedenksendungen, von denen ich weiß – von Simones Taufe nicht die Rede gewesen. Ich schließe mit den Schluss-Sätzen jenes Artikels in "Geist und Leben“ (1/1990,39-42), die in der erweiterten Fassung (www.stereo-denken.de/sim_weil.htm) fehlen:
Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, aber mir macht es wieder mehr Freude, kat-holisch zu sein [den Bindestrich hatte der Setzer zunächst wegkorrigiert, erst auf meinen Protest hin fügte er ihn wieder ein], zwar nicht die Glut, aber doch die Weite des Glaubens dieser Heiligen teilen zu dürfen. Und solche Freuden braucht der Mensch.

3. Februar 2009

Anmerkungen:

1 Brief an G.Thibon, in: Perrin/Thibon, Wir kannten Simone Weil, Paderborn 1954,69

2 Simone Weil, La pesanteur et la grâce, ed.10/18 Paris 1963,8

3 Das Unglück und die Gottesliebe, München 1953,37

4 Noch in der neuesten großartigen Sammlung von Mystikertexten heißt es über Simone: "Sie blieb bewußt ungetauft." (Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden, hgg. von G.Ruhbach und J.Sudbrack, München 1989, 463.

5 Georges Hourdin, Simone Weil, Paris 1989 (la Découverte), 230

6 ebenda 231

7 Diesen Titel gab Friedhelm Kemp seiner Übersetzung des "Briefes an einen Ordensmann" (München 1988)

8 Angelica Krogmann, Simone Weil, rororo, Reinbek 1970,146

9 imprimatur (Trier) 21/1988,176-181

10 Attente de Dieu, Paris 1966,78

11 La connaissance surnaturelle, Paris 1950, 81

12 La pesanteur et la grâce, 46

13 ebenda, 41

14 ebenda

15 So Maja Wicki-Vogt im tiefschürfenden Werk "Simone Weil. Eine Logik des Absurden," Bern/Stuttgart 1983,141

16 La pesanteur et la grâce, 13. Christliche Mystik, 464

17 La pesanteur et la grâce, 46 f.

18 La pesanteur et la grâce, 168. Verständlich, daß Friedhelm Kemp in der deutschen Ausgabe von Schwerkraft und Gnade (München 1952) die vier Seiten über Israel ausgelassen hat. Gegen das harte Urteil von Paul Giniewski ("Simone Weil ou la haine de soi", Paris 1978) und anderer jüdischer Kritiker (z.B. auch E. Levinas) wird Simone im Namen des Judentums verteidigt: "Um Simone Weils 'implizites' Judentum zu beweisen, würde es genügen, ihre Nähe zum Geist der Bibel festzustellen, aus dem sie mit jener Selbstverständlichkeit schöpft, wie dies nur dem eigenen Patrimonium gegenüber getan werden kann. Daß sie dieses zugleich verschweigt und gar verleugnet, wirft einen Makel auf sie, hebt jedoch die Zugehörigkeit nicht auf. An uns ist es, aus dem gleichen Geist heraus die Zerrissenheit nicht weiter fortzusetzen, sondern sie als Ausdruck ihres rastlosen Suchens anzunehmen, als ihr Leiden und als ihren Weg, den sie besser nicht zu gehen vermochte." (Maja Wicki-Vogt, "Jüdisches Denken in geleugneter Tradition," in: Simone Weil. Philosophie, Religion, Politik, hgg v. H R Schlette und A Devaux, Frankfurt/M 1985, S. 154 f.)

19 In vielem gleicht Simones Sicht der jüdischen Kabbala. "Was bei S.W. jedoch völlig fehlt, ist das Moment der Segnung, wie es sich in der Genesis findet," notiert Maja Wicki-Vogt (Logik des Absurden [Anm. 15], S. 80, Anm. 99).

20 "Rom: das atheistische, materialistische Große Tier, das nur sich selbst anbetet. Israel, das religiöse Große Tier. Keines von beiden ist liebenswert. Das Große Tier ist immer abstoßend." (La pesanteur et la grâce, 162)

21 La pesanteur et la grâce, 32

22 Václav Havel, Am Anfang war das Wort (Reinbek 1990), 215

23 La pesanteur et la grâce, 45

24 La connaissance surnaturelle (Paris 1950), 40

25 La pesanteur et la grâce, 49

26 La connaissance surnaturelle, 321 (eine der letzten Londoner Notizen). War diese Einsicht auch eine Frucht wachsender Selbsterkenntnis? Ihr Nein zum Ich hat sie mit ungeheurer Ichstärke durchgesetzt. "Im großen Buch des Lebens, das vor ihren Augen aufgeschlagen war, war ich ihr ein Wort, das sie ausradiert hatte, es blieb aber unterstrichen." (G. Thibon, in: Perrin u. Thibon, Wir kannten Simone Weil, Paderborn 1954, 157)

27 La pesanteur et la grâce, 89


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