neJürgen Kuhlmann: Meister Eckhart verstehen - und seine Richter auch
Jürgen Kuhlmann

Meister Eckhart verstehen

- und seine Richter auch


A) Ein Meister, von dem man noch lange lernen wird

Meister Eckhart oder Eckehart (ca 1260-1328) hat zu Lebzeiten viele Hörerinnen und Leser aufs Tiefste begeistert, kirchliche Behörden jedoch so geärgert, daß 1329, vermutlich kurz nach seinem Tod, von der päpstlichen Kurie (damals in Avignon) 28 seiner Sätze verurteilt, seine Schriften verboten worden sind. Anhänger wie Kritiker waren vernünftige Christen, davon bin ich - nach vierzig Jahren Umgang mit des Meisters Gedanken - mittlerweile überzeugt. Auf ihn gestoßen wurde ich als junger Theologiestudent in Rom von Raimon Panikkar. Er nannte sich »Hindu und katholischer Priester«; beim Gespräch über die uralte brahmanische Selbst-Mystik bemerkte er, Meister Eckhart habe ähnlich gedacht, obwohl er von indischer Lehre nichts habe wissen können. Also begann ich, Eckhart zu lesen, und war hingerissen von diesem total überraschenden Blick auf mich und Alles. Von keiner Kanzel, in keiner Religionsstunde oder Theologievorlesung hatte ich solches je vernommen. War diese Flamme christlich? Obwohl die Amtskirche sie - vergeblich - auszulöschen suchte?

Heute antworte ich: Stereo verstanden, ja. Und zwar in aller Radikalität, ohne verharmlosende Abschwächung. Mono aufgefaßt hingegen bedrohen Eckarts Aussagen nicht nur die Stabilität der kirchlichen Institution - das wäre vielen ja eben recht - sondern auch die seelische Gesundheit eines ihn nachdenkenden Gemüts. Beide Seiten des Falles Eckhart zu erläutern und den Leser(inne)n Übungshinweise zu geben, so daß sie sich zum Ereignis des inneren Stereo-Blitzes bereiten, ist mein Ziel. [Die Zitate entnehme ich den Deutschen Predigten und Traktaten (hgg. v. J.Quint, München 1963), die in der päpstlichen Bulle verurteilten Sätze stehen in fetter Schrift].

Zur Einstimmung zwei bezeichnende, extrem formulierte Abschnitte:

a) Darum bitte ich Gott, daß er mich Gottes quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Beginn der Kreaturen fassen. In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte mich selber (willens), diesen Menschen (= mich) zu schaffen. Und darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben. Was ich meiner Geborenheit nach bin, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muß es mit der Zeit verderben. In meiner (ewigen) Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch »Gott« nicht: daß Gott »Gott« ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht »Gott«. Dies zu wissen ist nicht not. [308]

b) Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, daß er Gott um Gottes willen lasse. Nun ließ Sankt Paulus Gott um Gottes willen; er ließ alles, was er von Gott nehmen konnte, und ließ alles, was Gott ihm geben konnte, und alles, was er von Gott empfangen konnte. Als er dies ließ, da ließ er Gott um Gottes willen, und da blieb ihm Gott, so wie Gott in sich selbst seiend ist, nicht in der Weise seines Empfangen- oder Gewonnenwerdens, sondern in der Seinsheit, die Gott in sich selbst ist. Er gab Gott nie etwas, noch empfing er je etwas von Gott; es ist ein Eines und eine lautere Einung. Hier ist der Mensch ein wahrer Mensch, und in diesen Menschen fällt kein Leiden, so wenig wie es in das göttliche Sein fallen kann; wie ich schon öfter gesagt habe, daß etwas in der Seele ist, das Gott so verwandt ist, daß es eins ist und nicht vereint. Es ist eins, es hat mit nichts etwas gemein, noch ist ihm irgend etwas von alledem gemein, was geschaffen ist. Alles, was geschaffen ist, das ist nichts. Nun ist dies aller Geschaffenheit fern und fremd. Wäre der Mensch ganz so geartet, er wäre völlig ungeschaffen und unerschaffbar; wäre alles das, was körperlich und bresthaft ist, so in der Einheit begriffen, so wäre es nichts anderes, als was die Einheit selbst ist. Fände ich mich (nur) einen Augenblick in diesem Sein, ich achtete so wenig auf mich selbst wie auf ein Mistwürmlein. [214 f.]

B) Gestufte Selbigkeit

I) Das Grund-Gleichnis: du selbst

Fangen wir mit Leichterem an. Das Wort "ich" ist schon im Alltag zweideutig. A fragt B: Wo stehst du? C (zu Besuch aus Kamerun) wundert sich. Drüben im Parkhaus steh' ich, antwortet B. C staunt und weiß plötzlich das langgesuchte Thema seiner völkerkundlichen Doktorarbeit: »Magische Dingbesessenheit bei den Eingeborenen von Mittelfranken.« Heute erzählt das Mädchen: eine Biene hat mich ins Gesicht gestochen - und gestern hatte sie den Freund gefragt: liebst du nur meinen Körper, oder wirklich mich? - Seltsames Geheimnis, das Ich. Der eine steht, während er mit Freunden unterwegs ist, zugleich vierrädrig im kalten Parkhaus, sein Ich erstreckt sich bis zum Auto. Die andere siedelt ihr Ich so weit innen an, daß es sich von ihrem eigenen Körper unterscheidet. In einer tiefsinnigen Sprache könnte es für unsere Wörter "ich" und "mich" verschiedene Ausdrücke geben, je nachdem, ob irgendein Teil der Natur gemeint ist oder der Kern der Person.

Alltägliche Polaritäts- und Sprungerfahrungen innerhalb der eigenen Identität lassen die Selbstmystik Indiens oder Meister Eckharts abbildlich auch dem verstehbar werden, der sie noch nicht als Offenbarung von innen her kennt. Gibt es nicht Routinestunden, da die Schreibkraft - munter oder verdrossen - drauflostippt ohne die Reflexion: jede meiner Fingerspitzen - bin ich? Im Hintergrund weiß sie es natürlich dauernd, ausdrücklich bewußt wird ihr diese Selbigkeit aber nicht, sondern nur der Inhalt der Geschäftsbriefe oder (denn mit denen werden Ohr und Finger auch alleine fertig) allerlei Liebes- oder Haushaltsangelegenheiten. Vielleicht kommt es im gesamten Arbeitsleben der Schreiberin nie zum mystischen Identitätssprung ihres kleinen Fingers: oh, dieser Kleine, der jetzt das ü anschlägt, der ist, bin ja - ich! Einem solchen, seiner Selbstwürde unbewußten Finger gleichen alle unmystischen Menschen, die sich zwar jeder als einen der vielen bestimmten Ichvollzüge wissen, nicht aber als das eine absolute SELBST, obwohl sie es sind.

Man suche also beim Lesen der folgenden Sätze des Meisters alles zu vergessen, was man über »Gott« zu wissen meint, sondern lasse sich (denn Gottes Bild sind wir) bereitwillig auf die revolutionäre Proportional-Gleichung ein, die uns als Selbstverständnis-Modell angeboten wird: Mein Finger verhält sich zu meinem ICH ähnlich wie ich (dieser Mensch) zu Gott (dem innerlichsten Selbstbewußtsein des Universums). Eckhart schreibt:

Ein weiser Arzt berührt niemals den kranken Finger des Menschen, so daß er dem Menschen weh tut, wenn er nicht den Finger selbst oder den gesamten Menschen in einen besseren Zustand zu versetzen und ihm Erleichterung zu schaffen vermöchte. Vermag er den Menschen und auch den Finger zu bessern, so tut er's; ist dem nicht so, so schneidet er den Finger ab, auf daß er den Menschen bessere. Und es ist viel besser, den Finger allein preiszugeben und den Menschen zu erhalten, als daß sowohl der Finger wie der Mensch verderbe. Besser ist ein Schaden als zwei, insonderheit, wenn der eine ungleich größer wäre als der andere. Auch soll man wissen, daß der Finger und die Hand und ein jegliches Glied von Natur aus den Menschen, dessen es ein Glied ist, viel lieber hat als sich selbst und sich gern und unbedenklich freudig in Not und Schaden begibt für den Menschen. Ich sage zuversichtlich und wahrheitsgemäß, daß ein solches Glied sich selbst durchaus nicht liebt, es sei denn um dessen willen und in dem, von dem es ein Glied ist. Drum wäre es gar billig und wäre für uns naturgemäß das Rechte, daß wir uns selbst keinesfalls liebten, wenn nicht um Gottes willen und in Gott. Und wäre dem so, so wäre uns alles das leicht und eine Wonne, was Gott von uns und in uns wollte, zumal, wenn wir gewiß wären, daß Gott ungleich weniger irgendein Gebresten oder einen Schaden zu dulden vermöchte, wenn er nicht einen viel größeren Gewinn darin erkennte und anstrebte. Wahrlich, wenn jemand darin zu Gott nicht Vertrauen hegt, so ist es nur zu billig, daß er Leiden und Leid hat. [128]

II. Mystisches Stereo-Denken

1) Das Geheimnis der Schöpfung

Gottes Wirken ist unser Werden. Eckhart hat begriffen: Kein Fremder ist mir Gott, sondern mein innerlichster Grund. Im mittelalterlichen Feudalsystem war man in eine klare Herrschaftsreihe eingespannt: Mein Vogt mein Graf mein König mein Kaiser mein Gott. Da weist Eckhart auf die ganz andere Reihe hin: Mein Herz mein Glück mein Lebenssinn mein Gut mein Alles mein Gott. Sogar bei der scheinbar äußerlichsten Gleichnis-Beziehung gilt, genau besehen, nicht Fremdheit sondern Selbigkeit: Könnte das entstehende Haus fühlen, so würde es den Schlag der Axt in den Balken nicht als Gewalt von außen empfinden sondern als das eigene Haus-Werden.

Beim Schöpfungsbericht steckt das Geheimnis im Wörtlein »und«. Angenommen, Sie heißen N.X. Gott spricht: es werde N.X, und es wird N.X. Das »und« bedeutet hier nicht: und daraufhin, als Ergebnis, vom Schöpfungswort unterschieden. Sondern »und« bedeutet: das heißt, es wird N.X. Des Schöpfers Denken ist das Gedachtsein des Geschöpfes, und nicht anders denn als Gottes lebendige Gedanken sind wir Geschöpfe. Ich bin, indem ich in Gottes Denken ausgedacht werde, nirgends hinaus aber, ein Draußen gibt es nicht, »in Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17,28). Nicht woanders hin wendet der Betende sich, sondern zur Quelle des eigenen Seins und Lebens. Eckharts Bild gehört verfeinert: Eher nicht, wie der Zimmermann das Haus, macht Gott uns, sondern wie Verdi die Aida macht (als Inhalt seiner schöpferischen Phantasie und zugleich als selbständiges Wesen) oder wie Ruth auf der Faschings-Bühne die Gärtnerin macht: Soweit die Gärtnerin gelingt, ist sie Ruth selbst; soweit sie mißlingt, tut sie Ruth leid.

Unser Herr sprach zu seinen Jüngern: »Ich habe euch nicht Knechte geheißen, sondern Freunde« (Joh. 15, I4f.). Was irgend etwas vom andern begehrt, das ist »Knecht«, und was da lohnt, das ist »Herr«. Ich dachte neulich darüber nach, ob ich von Gott etwas nehmen oder begehren wollte. Ich will es mir sehr wohl überlegen, denn wenn ich von Gott (etwas) nehmen würde, so wäre ich unter Gott wie ein Knecht und er im Geben wie ein Herr. So aber soll es mit uns nicht sein im ewigen Leben. Ich sagte einst ebenhier, und es ist auch wahr: Wenn der Mensch etwas von außerhalb seiner selbst bezieht oder nimmt, so ist das nicht recht. Man soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als mein Eigen und als das, was in einem ist; zudem soll man nicht dienen noch wirken um irgendein Warum, weder um Gott noch um die eigene Ehre noch um irgend etwas, was außerhalb von einem ist, sondern einzig um dessen willen, was das eigene Sein und das eigene Leben in einem ist. Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott (so) sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins ... Das Wirken und das Werden ist eins. Wenn der Zimmermann nicht wirkt, wird auch das Haus nicht. Wo die Axt ruht, ruht auch das Werden. Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde ... Daß wir die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen und Gott ohne Warum lieben, dazu helfe uns Gott. Amen. [186 f.]

2) Fülle braucht Leerheit

Bei mir selbst und allen anderen Geschöpfen muß ich also unterscheiden das Endliche, Bestimmte, was wir sind, und den reinen Grund, daß wir sind. (Das Sein ist auch von Eckharts jüngerem Zeitgenossen, dem Ostkirchen-Heiligen Gregor Palamas eine »göttliche Energie« genannt worden.) Weil mein Was und das göttliche Daß in mir verbunden sind, deshalb darf, soll ich mich lieben. Im selben gemeinsamen Daß gründet aber auch das jeweilige Was meiner Mitgeschöpfe. Deshalb ist jeder Mensch in sich gespannt. Als besonderes Was ist er gegen die anderen unterschieden (ähnlich wie mein Ohr nicht meine Zunge ist), als Mitinhaber des gemeinsamen Daß mit ihnen eins (Zunge und Ohr sind beide ich). Wie wird diese Spannung recht gelebt? Nun, dein Was bist du sowieso, mußt es nicht auch noch suchen. Suchen sollst du die möglichst klare Verwirklichung des gemeinsamen Daß, auch wo es einen Verzicht auf dein bisheriges Was bedeutet:

Wer Gott liebt, wie er ihn lieben soll ... der muß seinen Mitmenschen lieben wie sich selbst und sich seiner Freuden freuen wie seiner eigenen Freuden und nach seiner Ehre so sehr verlangen wie nach seiner eigenen Ehre und den Fremden (so lieben) wie den Angehörigen. Und auf solche Weise ist der Mensch allzeit in Freude, in Ehre und in Vorteil, so ist er recht wie im Himmelreich, und so hat er öfter Freuden, als wenn er sich nur seines eigenen Guten freute. Und wisset fürwahr: Ist dir deine eigene Ehre beglückender als die eines andern, so ist das unrecht.

Wisse, wenn immer du irgendwie das Deine suchst, so findest du Gott nimmer, weil du nicht Gott ausschließlich suchst. Du suchst etwas mit Gott und tust gerade so, wie wenn du aus Gott eine Kerze machtest, auf daß man etwas damit suche; und wenn man die Dinge findet, die man sucht, so wirft man die Kerze hinweg. Ganz so tust du: Was immer du mit Gott suchst, das ist nichts, was es auch sei, sei's Nutzen oder Lohn oder Innerlichkeit oder was es auch sei; du suchst ein Nichts, also findest du auch ein Nichts. Daß du ein Nichts findest, ist nur dadurch verursacht, daß du ein Nichts suchst. Alle Kreaturen sind ein reines Nichts. Ich sage nicht, daß sie geringwertig oder überhaupt etwas seien: sie sind ein reines Nichts. Was kein Sein hat, das ist nichts. Alle Kreaturen haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes. Kehrte sich Gott nur einen Augenblick von allen Kreaturen ab, so würden sie zunichte. (170 f)

Kein Gefäß kann zweierlei Trank in sich fassen. Soll es Wein enthalten, so muß man notgedrungen das Wasser ausgießen; das Gefäß muß leer und ledig werden. Darum: sollst du göttliche Freude und Gott aufnehmen, so mußt du notwendig die Kreaturen ausgießen. Sankt Augustinus sagt: Gieß aus, auf daß du erfüllt werdest. Lerne nicht lieben, auf daß du lieben lernst. Kehre dich ab, auf daß du zugekehrt werdest. Kurz gesagt: Alles, was aufnehmen und empfänglich sein soll, das soll und muß leer sein. Die Meister sagen: Hätte das Auge irgendwelche Farbe in sich, wenn es wahrnimmt, so würde es weder die Farbe, die es hätte, noch eine solche, die es nicht hätte, wahrnehmen; weil es aber aller Farbe bloß ist, deshalb erkennt es alle Farben. Die Wand hat Farbe an sich, und drum erkennt sie weder ihre Farbe noch irgendwelche andere Farbe und hat keine Freude an der Farbe, nicht mehr an Gold oder an Lasur als an der Farbe der Kohle. Das Auge hat keine (Farbe) und hat sie doch im wahrsten Sinne, denn es erkennt sie mit Lust und mit Wonne und mit Freude. (114 f)

Weil subjektiv die göttliche All-Offenheit auch in mir lebt, deshalb darf und soll ich jede Fixierung auf jenes beschränkte Endliche, was ich objektiv bisher ward, möglichst lockern, nur leer bin ich frei für anderes, alles.

Alle Geschöpfe sind ein reines Nichts. Hier springt die Zweideutigkeit ins Auge. Was der Meister meint, ist klar: abgesehen von ihrem Grund in Gott sind die Geschöpfe nichts; wer sie gegen Gottes Willen sucht, findet nichts. Wer solche Sätze aus ihrem Zusammenhang reißt - dazu sind Gegner wie Anhänger eines Denkers stets versucht - könnte aber zynischen Nazis oder Dealern eine scheinbare Rechtfertigung liefern. Das Nichtige vernichten? warum nicht? - Weil die kirchliche Autorität die gemeinsame Sprache warten muß, hat sie diese Sätze zu Recht als »übelklingend« verworfen. Trotzdem ist es gut, daß sie (auch dank jener Bulle!) aufbewahrt worden sind. Wer sie im Guten Geist kaut und verdaut, findet bestes Vitamin.

3) Die Wandlung

Sofern jemand sich mit seinem endlichen Was identifiziert, ist er - wie dieses - vergänglich, sterblich, winzig; sein Hochmut ist noch viel lächerlicher, als wenn die Spitze meines Fingernagels sich für unentbehrlich hielte - schnipp, und es ist aus mit ihr. Solange sie dran war, habe wohl ich selbst in ihr gelebt und gefühlt (probieren Sie's aus!): ihre Würde war aber ich, die Person, nicht es, das wertlose Schnippsel im Aschenbecher.

Weil wir Menschen von Natur aus geneigt sind, uns für das zu halten, was wir biochemisch, soziologisch und psychologisch sind: dieser Mensch gegen die anderen, aus diesem Volk, dieser Rasse oder Schicht gegen die anderen - deshalb kann, was Mystiker von Vergottung und SELBST-Identität sprechen, zwischen unerlösten Ohren zu üblen Folgen führen: Hei, ich bin selber Gott? Super, dann gibts für mich ja keine Grenzen und Vorschriften mehr ... - Contra! ruft die Kirche und verbietet den öffentlichen Gebrauch solch mystischer Sätze. Wahr sind sie nur, nachdem ein Mensch sich hat wandeln lassen. Solche Wandlung tut weh wie Feuer und Kreuz. Jesus zeigt den Weg der er selbst ist; er wurde von der religiösen und der weltlichen Obrigkeit erledigt. Solltest du von beiden geehrt sein - bist du dann vielleicht noch recht am Anfang der Wandlung weg von der Was-Haft zur Freiheit auch deines göttlichen DASS?

a) Christus will uns in SICH wandeln:

Wir werden völlig in Gott transformiert und verwandelt. [Anspielung auf 2 Kor 3,18: »Wir werden in dasselbe Bild gewandelt.«] Vernimm ein Gleichnis! Ganz so, wie wenn im Sakramente Brot in unseres Herrn Leib verwandelt wird: wieviel der Brote es auch wären, so wird doch nur ein Leib ... Was in ein anderes verwandelt wird, das wird eins mit ihm. Ganz so werde ich in ihn verwandelt, daß er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, daß es da keinerlei Unterschied gibt ... Das Feuer verwandelt in sich, was ihm zugeführt wird, und dies wird zu seiner Natur. Nicht das Holz verwandelt das Feuer in sich, vielmehr verwandelt das Feuer das Holz in sich. So auch werden wir in Gott verwandelt, so daß wir ihn erkennen werden, wie er ist (1 Joh 3, 2). Sankt Paulus sagt: So werden wir erkennen: recht ich ihn, wie er mich, nicht weniger und nicht mehr, schlechthin gleich (1 Kor 13,12). »Die Gerechten werden ewiglich leben, und ihr Lohn ist bei Gott« - ganz so gleich. [185-187]

b) Wir sollen uns (wandeln) lassen:

Achte auf dich selbst, und wo du dich findest, da laß dich; das ist das Allerbeste. Du mußt wissen, daß sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, daß er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst. Damit heb an, und laß dich dies alles kosten, was du aufzubringen vermagst. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst. Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Wären nun aber die Leute gut und ihre Weise, so könnten ihre Werke hell leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht. Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondem wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig dieWerke immer sein mögen, so heiligen sie uns ganz und gar nicht, soweit sie Werke sind, sondern: soweit wir heilig sind und Sein besitzen, soweit heiligen wir alle unsere Werke, es sei Essen, Schlafen, Wachen odcr was immer es sei. Die nicht großen Seins sind, welche Werke die auch wirken, da wird nichts daraus. Erkenne hieraus, daß man allen Fleiß darauf verwenden soll, gut zu sein, nicht aber so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei. [56 f.]

c) [Nicht Zustand-Wechsel, sondern Dauer-Ereignis:] Werden, was Christus ist:

Wenn unser Herr, der Sohn, spricht: »der verleugne sich selbst und hebe sein Kreuz auf und komme zu mir«, so meint er dies: Werde Sohn, wie ich Sohn bin, geborener Gott, und (werde) dasselbe Eine, das ich bin, das ich innewohnend, innebleibend in des Vaters Schoß und Herzen schöpfe. Vater, spricht der Sohn, ich will, daß, wer mir folgt, wer zu mir kommt, dort sei, wo ich bin (vgl. Joh 12,26). Niemand kommt im eigentlichen Sinne zum Sohn, insofern dieser Sohn ist, als der, der (selbst) Sohn wird, und niemand ist dort, wo der Sohn ist, der in des Vaters Schoß und Herzen Eins in Einem ist, als der, der Sohn ist. [127]

4) Ziel der Wandlung: Erleuchtung mit dem ursprünglichen Gottes-Licht

Ich klopfe mit dem Fingernagel und werde mir bewußt: Kein bloßes Es, nein, ich selbst spüre den Tisch. Bevor es wuchs, war ich schon ich. Jetzt aber, da es klopft, ist es auch ich und ich bin es. Im Großen ist dieser mystische Bliitz das Ziel der Wandlung, irdisch geschieht er immer nur kurz, gleich darauf nehme ich mich, mein winziges Was wieder ernst und meine, das sei ich, um so verhafteter, je positiver mein Was mir scheint: »Eine Frau, die sich im Spiegel anschaut und sich schmückt, fühlt nicht die Schande, sich - dieses unendliche Wesen, das alle Dinge anschaut - auf einen kleinen Raum einzuschränken ... Eine sehr schöne Frau, die ihr Bild im Spiegel anschaut, mag recht wohl glauben, daß sie das ist. Eine häßliche Frau weiß, daß sie das nicht ist« [Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1954, S. 102 f]. Was ist sie dann? Unser gemeinsames Ich vor der Trennung in diese und jene.

Bei einer Abendgesellschaft erzählt die Haus-Frau, daß ihr Sohn zu seinen Eltern zwar freundlich sei, sie aber für sein Dasein überhaupt nicht als notwendig erachte. Die Gäste lachen, der Junge wird geholt und befragt, wie er das denn meine, immerhin habe seine Mutter ihn ja geboren. Das schon, erwidert er, das sei aber Zufall; natürlich könnte er einen anderen Namen tragen: "ich wäre aber auf jeden Fall geboren worden."

In diesem jungen Menschen lebt das SELBST-Bewußtsein. Freilich muß man das Wort "ich" tief genug verstehen. Man frage sich: Was wäre aus mir geworden, hätten meine Eltern einander nie getroffen? Es gäbe mich dann nicht mit den Genen, die mich bestimmen. Dieses Individuum, mit diesem Gesicht im Spiegel, würde der Welt dann eben fehlen, sie hätte es verschmerzt, wie die Nicht-Verwirklichung der allermeisten Möglichkeiten. Unausdenkbar, wieviele potentielle Verdis oder Einsteins Nacht für Nacht ins ewige Nichtsein sinken. So hätte es auch dem Menschen gehen können, der meinen Namen trägt. MIR aber? MIR nicht. ICH bin. Und bin mir meiner selbst bewußt. Daß es MICH nicht gibt, ist undenkbar. Denn MEIN Ja zu MIR ist selbstverständlich, notwendig, unbedingt. Der Strom meines Seins hätte einen anderen Lauf nehmen können, tausend andere Verläufe. ICH aber, seine Quelle, bin lauter und einfach. Deshalb hat jenes weise Kind recht: ICH wäre auf jeden Fall geboren worden, werde es vieltausendfach Tag um Tag.

a) Ursprüngliche Identität

Während des mystischen Blitzes, sofern ich also von mir absehe und nur in MIR lebe, stimmen des Meisters kühne Sätze. Wegen der Gefahr der Selbst-Aufblähung unmystischer Leser hat das Lehramt aber mit Recht vor ihnen gewarnt:

20. Der gute Mensch ist der eingeborene Sohn Gottes. 21. Der »edle Mensch« ist jener eingeborene Sohn Gottes, den der Vater von Ewigkeit her gezeugt hat. 22. Der Vater zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Was immer Gott wirkt, das ist Eines ; darum zeugt er mich als seinen Sohn ohne allen Unterschied. [452 f.]

Innerhalb der Gottheit vibriert nach christlichem Glauben die unendliche Spannung zwischen GOTT und WORT (Joh 1,1). Weil unendliche Spannung von Person zu Person, ist dies die Beziehung DU / ICH, Vater / Sohn; weil die Spannung innerhalb der all-einfachen Gottheit schwingt, ist dies die Beziehung ICH / "ICH", Urbild / Abbild. Beides kann unser Verstand nicht zusammendenken. Das merkt jeder an Hegels Formulierung »Identität von Identität und Nichtidentität«. Da scheint Eckhart noch leichter:

b) Zwei ewige Etappen: Sohn vom Vater und bei ihm

Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlaß. Wenn der Sohn geboren ist, nimmt er nichts (mehr) vom Vater, denn er hat alles; wenn er aber geboren wird, nimmt er vom Vater. Im Hinblick darauf sollen wir auch nichts von Gott wie von einem Fremden begehren. [186]

c) Abbild vom und zum Urbild

Wenn das Antlitz vor den Spiegel gerückt wird, so muß das Antlitz darin abgebildet werden, ob es wolle oder nicht ... Ein Bild ist nicht aus sich selbst noch ist es für sich selbst; es stammt vielmehr von dem, dessen Bild es ist und gehört ihm mit allem, was es ist, zu. Was dem, dessen Bild es ist, fremd ist, dem gehört es nicht zu, noch stammt es von ihm. Ein Bild nimmt sein Sein unmittelbar allein von dem, dessen Bild es ist, und hat ein Sein mit ihm und ist dasselbe Sein. [225 f.]

5) GRUND DER GOTTHEIT

Dank der Vermittlung des Sohnes lebt auch der Vater unmittelbar in uns. Wofern mein Ichbewußtsein ein Ort, eine Weise auch dieses innersten Selbstvollzuges ist, bin ich nicht dieses Individuum, nicht geschaffen, keinerlei Etwas, sondern allein das ungeschaffene, ewige, ungewordene und unsterbliche ICH. (Wer von solcher Identität zum Hochmut versucht wird, ist aus ihr schon herausgefallen. »Hochmütig sein heißt vergessen, daß man Gott ist« (Simone Weil).

a) Das freie Fünklein

Ich habe bisweilen gesagt, es sei eine Kraft im Geiste, die sei allein frei. Bisweilen habe ich gesagt, es sei eine Hut des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Licht des Geistes; bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Fünklein. Nun aber sage ich : Es ist weder dies noch das; trotzdem ist es ein Etwas, das ist erhabener über dies und das als der Himmel über der Erde. Darum benenne ich es nun auf eine edlere Weise, als ich es je benannte, und doch spottet es sowohl solcher Edelkeit wie der Weise und ist darüber erhaben. Es ist von allen Namen frei und aller Formen bloß, ganz ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Es ist so völlig eins und einfaltig, wie Gott eins und einfaltig ist, so daß man mit keinerlei Weise dahinein zu lugen vermag. [163]

b) Tiefstes Gelassensein

Alle Pein ist ihm eine Freude, alle Mannigfaltigkeit ist ihm eine Einfachheit und eine Einheit, dafern er recht im Willen Gottes steht. Ja, hinge höllische Pein daran, es wäre ihm eine Freude und eine Seligkeit. Er ist ledig und entäußert seiner selbst, und alles dessen, was er empfangen soll, dessen muß er ledig sein. Soll mein Auge die Farbe sehen, so muß es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht - ist eben das, was da sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen , und ein Lieben. Der Mensch, der so in Gottes Liebe steht, der soll sich selbst und allen geschaffenen Dingen tot sein, so daß er seiner selbst so wenig achtet wie eines, der über tausend Meilen entfernt ist. Ein solcher Mensch bleibt in der Gleichheit und bleibt in der Einheit und bleibt völlig gleich; in ihn fällt keine Ungleichheit. Dieser Mensch muß sich selbst und diese ganze Welt gelassen haben. [216]

c) Laß dich locken von deiner Tiefe

Mein Leib ist mehr in meiner Seele, als daß meine Seele in meinem Leibe sei. Mein Leib und meine Seele sind mehr in Gott, als daß sie in sich selbst seien; ... wie Sankt Augustinus sagt: Gott ist der Seele näher, als sie sich selbst ist. Die Nähe zwischen Gott und der Seele kennt keinen Unterschied (zwischen beiden), fürwahr. Dasselbe Erkennen, in dem sich Gott selbst erkennt, das ist eines jeden losgelösten Geistes Erkennen und kein anderes. Die Seele nimmt ihr Sein unmittelbar von Gott; darum ist Gott der Seele näher, als sie sich selbst ist; darum ist Gott im Grunde der Seele mit seiner ganzen Gottheit. ... Aber der Mensch, der von inwendigen Dingen nichts gewöhnt ist, der weiß nicht, was Gott ist. Wie ein Mann, der Wein in seinem Keller hat, aber nichts davon getrunken noch versucht hätte, der weiß nicht, daß er gut ist. So auch steht es mit den Leuten, die in Unwissenheit leben: die wissen nicht, was Gott ist, und doch glauben und wähnen sie zu leben. [201 f.]

Hier findet sich reiche Hintergrundinformation über Meister Eckhart und seine Zeit.

Seine tiefen Einsichten, mit anderen und eigenen verwoben, in den heutigen Kontext zu stellen habe ich in Büchern und Liedern unternommen. Sie sind (bitte direkt; ein Buchhandelsrabatt ist nicht drin) bestellbar.

Gott Du unser Ich

Ein Gespräch über Christentum und Atheismus (Patmos [Düsseldorf] 1977, 184 Seiten 19x12, ISBN 3-923733-06-2, 18 DM). Briefwechsel zwischen Edith, einer fortschrittlichen Atheistin, ihrem frommen Verlobten Günter sowie Klaus, der den Dialog beider Positionen bereits in sich selbst vollzogen hat und dem Brautpaar nun hilft, ihre Mißverständnisse auszuräumen, bis ihr Streit sich am Hochzeitstag in einen spannungsreichen Frieden verwandelt hat. In der FAZ als »Goldkorn« gelobt, in einer Besprechung für Publik-Forum hieß es: »Die konträren Standpunkte provozieren sich zur wechselseitigen Vertiefung.«

Innen statt droben

Für ein geistlicheres Gottesverständnis (Patmos 1986, 125 Seiten 20,5x13, ISBN 3-923733-08-9, 22 DM). Herrschaftslosigkeit ist das Gegenteil von Herrschaft, doch auf beide Weisen haben wir uns Gott zu denken. Ein ausführlicher Anhang enthält heilende christliche »Innen-Texte«.

Im Februar 1997 erschien

CD mit 30 Liedern

samt Beiheft RE (ISBN 3-923733-22-4, 20 DM). Nicht in erster Linie Ohrenschmaus für Genießer wollen die Lieder sein, sie erzählen einfach ein paar Geschichten. »Redet zueinander mit Geist-erfüllten Liedern« (Eph 5,19)! Mal ist der Text neu, mal die Melodie, einmal nur deren Com-position, zuweilen beides.
22. Lied der Ich-Stufen (M: Donizetti). 3:51
23. Alle sagen »ich«. 2:35
24. Gott Du unser Ich. 3:25


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