Jürgen Kuhlmann

Das anbrechende Geist-Zeitalter

[Eine Kurzfassung dieser Gedanken]

1) Die Prophetie des Abtes Joachim

Wie kann es weitergehen mit Menschheit und Kirche? Bis heute meinen die einen (auch Kardinäle), sie hätten die einzige Wahrheit zu verkünden. Und vielen der anderen geht es wie Dante zu Beginn seiner göttlichen Komödie: "Mitten auf dem Weg unsres Lebens fand ich mich in einem finstern Walde vom rechten Wege weg verirrt." Realistischerweise müssen wir damit rechnen, daß es beide Grundgefühle auch in Zukunft geben wird.

Und doch befindet die Menschheit sich gerade mitten in einer tiefen Wandlung. Ich weiß: So etwas ist schnell behauptet und lädt zu mildem Lächeln ein. Neue Zeiten sind gar nicht so selten. Auch um 1913 hatte soeben eine begonnen. "Die Zeit bewegte sich. Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel; und nicht erst heute."[Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I (Reinbek 1987), 13]

Mit derlei modischen Aufschwüngen ist die Mutation, die jetzt an uns geschieht, nicht zu vergleichen. Es handelt sich bei ihr nicht um einen der zahlreichen irdischen Wechselfälle. Sie gehört einer anderen Ordnung an, läßt - auf wiederum neue Weise - dieselbe unendliche Energie auf Erden erscheinen wie - vor viertausend Jahren - Gottes Offenbarung an Abraham und - vor zweitausend Jahren Jesu Leben, Sterben und Auferstehn. Den meisten - Christen wie Nichtchristen - dürfte eine solche Überzeugung als Wahnsinn vorkommen. Es läßt sich aber zeigen, daß sie innerhalb des christlichen Glaubens vernünftig ist, nämlich wenn nicht die, so doch eine Weise, heute als Christ zu denken.

Solche spirituelle Evidenz ist tatsächlich etwas Neues, hat sich erst in unseren Jahrzehnten ergeben, zum ersten Mal, seit die Mutation vor acht Jahrhunderten von einem Großen der Menschheit entdeckt und verkündet worden ist. Damals wurde die Entdeckung, weil der eingeschliffenen Denkweise allzu fremd, erst nicht bemerkt und dann, ein halbes Jahrhundert nach des Entdeckers Tod, politisierend vergröbert und in dieser Form von der Kirche verdammt - endgültig, meinten jene Kardinäle im Jahr 1255 und schien auch Kardinal Ratzinger noch 1989 anzudeuten: "Wir dürfen die Menschen nicht glauben lassen, daß es auf Erden ein besseres Leben geben kann als dieses", soll er in einem Newsweek-Interview gesagt haben, anläßlich der feierlichen Umbettung der Gebeine des Abtes Joachim (+1202) im kalabrischen San Giovanni in Fiore.[Warwick Gould and Marjorie Reeves, Joachim of Fiore and the Myth of the Eternal Evangel in the nineteenth and twenitieth Centuries (Clarendon Press Oxford 2001), 368]

In sich hat dieser Satz seinen vernünftigen Sinn - im Kontext von Joachim ist er einseitig und fordert Ergänzung. Denn er stützt das verbreitete Vorurteil, Joachims Lehre sei nicht rechtgläubig. Davon ging auch der führende Religionswissenschaftler Mircea Eliade aus, als er 1985 schrieb: "Joachims Theorie der drei ‚Zeitalter' oder ‚Zustände' (status) - ‚Zeitalter', die laut ihm nacheinander vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist bestimmt werden - ein solches Verständnis war gewiß kühn, originell und fruchtbar. Entgegen Augustins Meinung nahm der kalabrische Abt an, daß nach etlichen Erschütterungen die Geschichte zu einem Zeitalter spiritueller Glückseligkeit und Freiheit finden werde. Es folgt, daß die christliche Vollkommenheit vor uns liegt, in der geschichtlichen Zukunft (eine Idee, die keine rechtgläubige Theologie hinnehmen könnte). Wie man erwarten mag, war es insbesondere der konkrete und historische Charakter des Dritten Zeitalters, der zugleich amtskirchlichen Widerspruch, mönchischen Enthusiasmus und populäre Begeisterung hervorrief. Joachim wurde in die große Bewegung der Kirchenreform hineingerissen, die seit dem elften Jahrhundert im Gange war: er erwartete eine echte Reform, eine reformatio mundi [der Welt], die er als ein neues Hereinbrechen der Gottheit in die Geschichte auffaßte - und nicht als eine Rückkehr zum Vergangenen. Er verwarf nicht die traditionellen Institutionen Papsttum, Sakramente und Priestertum, wohl aber wies er ihnen nur eine relativ bescheidene Rolle zu."[Vorwort zu: Bernard McGinn, The Calabrian Abbot. Joachim of Fiore in the History of Western Thought (New York/London 1985), XIV]

Inzwischen hat man im zuständigen Erzbistum Cosenza mit Joachims Heiligsprechungsprozeß begonnen. Wird Benedikt XVI. ihn hemmen ("Für Ratzinger schien der Joachimismus gefährlich"[Warwick Gould and Marjorie Reeves, Joachim of Fiore, 368])? Oder ist alles ganz anders? Hat er sich gar vor seiner Namenswahl an die Tage erinnert, da er mit 33 Jahren im neuen Lexikon für Theologie und Kirche den Artikel "Joachim von Fiore" veröffentlichte? Schon in der ersten Zeile nennt er ihn "selig". In der knappen Darstellung von Joachims Lehre finden sich zwei jetzt bedeutsame Hinweise, zum einen, daß Joachim das künftige Zeitalter des Heiligen Geistes "ohne jede antihierarchische Spitze" entwarf; es wird "nicht ohne Bischöfe sein", zum andern: "Joachim hat dabei im Rahmen der seit Benedikt laufenden initiatio des 3. Zeitalters den Floriazensern [die er gegründet hatte] eine gewisse Bedeutung zugemessen."

Der Name "Benedikt" in diesem kurzen Lexikonartikel überrascht. In einem Buch, das Ratzinger beim Verfassen seiner damals eben abgeschlossenen Habilitationsschrift über Bonaventura intensiv studiert hat, finden sich folgende Zeilen: "Wie Jakob an dem Ort des Traums einen Markstein - titulus - aufstellt, den er mit Öl übergießt, so stellt der Heilige Geist als Zeichen der beginnenden Erneuerung und der Ausbreitung des geistlichen Lebens den Heiligen Benedikt hin als einen Markstein - titulus - in der Heilsgeschichte und als Zeichen - signum - des Anbruchs der Geistkirche noch in der Zeit der Klerikerkirche. Benedikt ist mit demselben Öl des Geistes gesalbt, mit dem Christus und die Apostel gesalbt wurden. Mit Benedikt setzt also die Entwicklung und Vorbereitung des dritten status noch in dem zweiten status selber ein."[Ernst Benz, ECCLESIA SPIRITVALIS (Stuttgart 1934), 32]

Der Lexikonbeitrag schließt: "Die Geschichtskonstruktionen Hegels u. Schellings wie auch namhafter russ. Denker sind von J. beeinflußt; durch die Idee des ‚Dritten Reichs' u. die säk. Idee des ‚duce' (novus dux de Babylone!) reicht der Einfluß J.s bis in das politische Geschehen der Gegenwart. - Das echte Problem J.s liegt in dem Zurückbleiben der geschichtl. Kirche hinter den Forderungen des NT, letztlich im eschatolog. Problem." Das war nicht nur Joachims Problem, es ist das aller Christen, nicht zuletzt des nunmehr verantwortlichen Oberhirten Benedikt. Wird er die Wahrheit von Joachims Vision anerkennen und mit der Kraft seines Amtes befördern?

Wie läßt sich aber theologisch aufzeigen, daß - anders als zwei Jahrtausende christlichen Denkens annahmen - ein innergeschichtliches Zeitalter des Heiligen Geistes zu erwarten steht? An dieser Frage hängt alles.

In seiner eindrucksvollen Gesamtdarstellung von Joachims geistiger Welt zitiert der Politologe Matthias Riedl aus Ratzingers Habilitationsschrift und stellt fest: "Joseph Ratzinger hat auf eine andere Neuerung in Joachims Geschichtstheologie verwiesen, die vielleicht noch bedeutender ist: Vom ersten bis zum zwölften Jahrhundert wird in Christus zwar der einzige Wendepunkt im Heilsgeschehen erblickt, aber in dem Sinne, daß die Inkarnation das Ende der Geschichte überhaupt einleitet. Joachim dagegen begreift Christi Geburt ... als Mittelpunkt zwischen den zwei Geschichtszeiten des alten und des neuen Gottesvolkes. Mit Christus beginnt nicht das Ende, sondern die Zeit der Kirche: ‚Joachim wurde so gerade in der Kirche selbst zum Wegbereiter eines neuen Geschichtsverständnisses, das uns heute so selbstverständlich als das christliche schlechthin erscheint, daß es uns schwerfällt zu glauben, es sei irgendwann einmal anders gewesen.'"[Matthias Riedl, Joachim von Fiore. Denker der vollendeten Menschheit (Würzburg 2004), 141]

Versuchen wir, uns als heutige Menschen dem Kern von Joachims Idee zu nähern. Jeder Mensch ist immer schon vor das Unendliche gestellt. Das Rätsel des Ganzen bleibt unbegreiflich. Mal beglückt, mal entsetzt es ihn, nie läßt es sich fassen. Wohl kann er es mit symbolischen Projektionen überziehen und wird vielleicht, wie er sich auf Erden vor Höheren neigt, einen himmlischen Hofstaat von Göttern und Göttinnen verehren. Echtes Wissen waren diese Versuche aber nie; spätestens seit Immanuel Kant weiß die Menschheit, daß sie von sich aus die Wahrheit des Ganzen nicht wissen kann.

Einmal jedoch – so glauben Juden und Christen – ist das Unendliche aus seinem Schweigen herausgetreten und hat sich bestimmten Menschen als Person offenbart, als der/die Unendliche: ICH BIN WER ICH BIN. Seither beziehen Menschen sich nicht nur auf selbstgemachte Gottesbilder (»Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde«, steht auf dem Feuerbach-Denkmal in Nürnberg), sondern wahrhaft auf Gott selbst. Nicht weil wir so klug wären, sondern weil DU, Gott, dich uns zeigen willst. Das glaubt der eine, bezweifelt die andere, leugnet ein dritter. Für das Wissen entscheidbar ist die Frage nicht. Doch sollte klar geworden sein, was der Glaube mit dem Ersten Zeitalter des Vaters meint: Das Unendliche tritt von sich aus bestimmten Menschen – Abraham, Moses – als ihr DU gegenüber, zugleich fordernd und bejahend.

An das Zweite Zeitalter des Sohnes glauben die Christen. Eines Tages offenbarst DU dich uns in einem bestimmten menschlichen Ich: Jesus, Gott und Mensch zugleich. Wer sein Jünger sein will, gehört zum Reich des Sohnes, zur Kirche. Die sie stiftende Offenbarung gilt in der offiziellen Kirche als Gottes letzte Große Heilstat innerhalb der Geschichte; wesenhaft Neues wird erst der offene Anbruch des Gottesreiches beim Weltende bringen.

Uns scheint selbstverständlich, daß wir in einer unabsehbaren Geschichts-Zeit leben. Ihr Ende steht noch aus, wer weiß, nach wieviel tausend oder Millionen Jahren. Anders fühlten die ersten Christen. Sie wußten sich am Ende der Zeiten. Es gab für sie in der ganzen Zeit zwischen Sündenfall und Weltende nur zwei wesentliche Einschnitte: a) Abrahams und Moses' Berufung schied die Zeit der Heiden vor dem Gesetz und die Zeit des erwählten Gottesvolkes unter dem Gesetz; b) das Christus-Ereignis trennte die Zeit unter dem Gesetz von der Erfüllung der Zeit und des Gesetzes, beider Ende bringt die Herrschaft der Gnade.

c) Joachim von Fiore widerspricht beiden Selbstverständlichkeiten. In unsere unabsehbare Geschichtszeit seit Christus ahnt er - bald! - vom Himmel her das Feuer des Heiligen Geistes zünden und eine wesenhaft neue Epoche eröffnen. Dadurch wird die Sohn-Zeit der Kirche aus der letzten zur vorletzten: "Joachim, wie viele vor und nach ihm, gliedert die ganze Heilsgeschichte von Beginn der Welt bis zu seiner Gegenwart in die Zeiten vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und nach dem Gesetz unter der Gnade; nur erwartet er dann im Unterschied zu anderen noch eine weitere künftige Zeit auf Erden: kein weiteres, neues, anderes Gesetz oder Testament oder Evangelium, sondern ‚geistiges Verständnis' der beiden Testamente sub ampliori gratia [unter vollerer Gnade]."[Herbert Grundmann, Ausgewählte Aufsätze. Teil 2. Joachim von Fiore (Stuttgart 1977), 410]

Das Zeitalter des Gottesvolkes vor Christus war eine echte Geschichtszeit, das entscheidende Ereignis stand noch aus, gespannt warteten die Menschen, wann und wie ihre Sehnsucht und Gottes Verheißung sich erfüllen würde. Der Zeit nach Christus fehlte, sobald die Epoche der Urkirche (als man Christi Wiederkunft für bald erwartete) vorbei war, scheinbar solche Spannung. Über den bedeutendsten lateinischen Geschichtstheologen schreibt ein Fachmann: Augustinus betonte, "daß seit dem Kommen Christi bis zum Ende der Welt alle Geschichte gleichartig ist, nicht nach heilsgeschichtlichen Mustern gegliedert werden kann, daß sie keine entscheidenden Wendepunkte voll heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit enthalten kann".[R.A. Markus, zitiert bei McGinn, 64]

Dieser herrschenden Lehre widerspricht Joachim, gestützt auf innere Erlebnisse und angestrengtes Bibelstudium. Er ist überzeugt: Bis jetzt leben wir Christen noch nicht in der letzten Offenbarungszeit. Die erste war (zwischen Abraham und Christus) die des Vaters, die zweite ist (zwischen Christus und jetzt) die des Sohnes, die dritte, letzte Offenbarungszeit wird (sehr bald) die des Heiligen Geistes sein.

2) Revolutionäres Missverständnis der Prophetie

Bei der genaueren Datierung hat Joachim sich vertan. Aus komplizierten Gründen hatte er das Einbrechen des Heiligen Geistes in die Weltgeschichte schon für das Jahr 1260 vorhergesagt. Diese Theorie griffen die feurigsten Gemüter im jungen Franziskanerorden ab 1241 begeistert auf,["Ein Abt des Fioreordens, dessen Kloster zwischen Lukka und Pisa an der Straße nach Luni lag, flieht im Jahr 1241 nach Pisa, wie er hört, daß sich der Kaiser Friedrich II. nähert, bringt alle Schriften Joachims in das Pisaner Minoritenkloster und läßt sie dort sorgfältig aufbewahren. Er fürchtet nämlich, daß Friedrich II. [den er für den Antichristen hält] sein Kloster vernichten werde ... Die Schriften Joachims machten auf die Pisaner Minoriten einen gewaltigen Eindruck, denn sie fanden, zunächst wohl unter der Anleitung des zu ihnen geflüchteten Abts, auf jeder Seite sich se1bst und ihre eigene Zeit. Sie stürzten sich auf das Studium der Schriften und versuchten immer eifriger und genauer die Grundfrage zu lösen, wie weit die Prophezeiungen in ihrer Zeit sich bereits erfüllt haben und wie weit sie sich noch erfüllen müssen. Der Lektor des Minoritenkonvents von Pisa, Rudo1f von Sachsen, ‚ein großer Logiker und großer Theologe und großer Disputierer', läßt sein ganzes theologisches Studium fahren und widmet sich völlig der Interpretation der neuen Schriften. So wurde Pisa der Herd des franziskanischen Joachitismus." (Ernst Benz, ECCLESIA SPIRITVALIS, 175 f.] verteidigten die Strenge der ursprünglichen Armutsregel des Heiligen Franz gegen deren - wie sie urteilten - kuriale Verwässerung und sahen sich selbst als die von Joachim angekündigte Vorhut geistlicher Mönche, derer der Heilige Geist sich zur Umgestaltung von Kirche und Welt bedienen würde. Bald zündete der Funke auch in der Studentenschaft der Hauptuniversität der Christenheit. Gegen solch revolutionäre Umtriebe setzte die wohlbestallte Pariser Professorenschaft sich verständlicherweise zur Wehr und verklagte die Heißsporne der beiden neuen Bettelorden Franziskaner und Dominikaner wegen Irrglaubens beim Papst.

Über die unselige Hauptfigur des Unternehmens [Dessen schließliches Scheitern später ist auch in Ecos Roman "Der Name der Rose" ein Thema.] teilt Ratzinger im Lexikon mit: "Gerhard v. Borgo San Donnino (jetzt Fidenza b. Parma), OFM, + um 1276; veröff. 1254 zu Paris den Liber introductorius in evangelium aeternum (Inhalt rekonstruierbar aus dem Protokoll v. Anagni, s. u.). Als Ev. aeternum bezeichnete er die 3 Haupt-Schr. Joachims v. Fiore (Concordia, Apocalypsis, Psalterium), während dieser selbst das für das 3. Zeitalter zu erwartende geistliche Verständnis der Schrift so benannt hatte. Mit dem Liber intr. erschien eine v. G. glossierte Ausg. der Concordia. Die mendikantenfeindlichen Pariser Professoren exzerpierten alsbald 31 Irrtümer aus G.s u. Joachims Schriften. Eine päpstl. Komm. zu Anagni untersuchte 1255 beider WW, worauf Alexander IV den Liber intr. (nicht aber Joachims Bücher) am 23.10.1255 verurteilte. G. wurde v. seinem Orden zu lebenslänglichem Kerker in seiner sizilischen Heimatprov. verurteilt."[LThK IV (1960), 719]

Mitten hinein in jenen erbitterten Streit führt uns eine Abhandlung im Hauptwerk des heiligen Thomas von Aquin. Als junger Dominikanerprofessor mußte er nach zwei Seiten kämpfen: gegen die ausgeflippten Joachimiten und gegen die superkonservativen Weltkleriker, die mit jenen zusammen am liebsten die neuen Orden ganz und gar am Ende gesehen hätten. Vor diesem Hintergrund verstehen wir den Artikel in der "Summa" des Thomas, wo er Joachim - ohne ihn zu nennen - gründlich widerlegen will [I-II q 106 a 4, c. und ad 3]. Deshalb fragt er: "Wird das Neue Gesetz bis zum Ende der Welt dauern?" Er kommt zum Ergebnis: Ja. Zwar wird die Gnade des Heiligen Geistes nach Ort, Zeit und Person verschieden vollkommen gehabt. "Dennoch ist nicht zu erwarten, daß es einen künftigen Zustand geben wird, in welchem die Gnade des Heiligen Geistes vollkommener gehabt wird, als sie bisher gehabt worden ist."

Eine der joachitischen Begründungen stellt Thomas so dar: "Wie der Vater ein anderer ist als der Sohn und der Sohn als der Vater, so der Heilige Geist als Vater und Sohn. Nun war aber ein Zustand zur Person des Vaters passend: nämlich der Zustand des Alten Gesetzes, in welchem die Menschen auf Zeugung aus waren. Ebenso gibt es einen anderen Status, der zur Person des Sohnes paßt: nämlich der Zustand des Neuen Gesetzes, in welchem die Kleriker das Sagen haben, die auf Weisheit aus sind, die dem Sohn zugeeignet wird. Also wird es einen dritten Zustand des Heiligen Geistes geben, in welchem geistliche Männer das Sagen haben." Dies ist, fast wörtlich, Joachims echte Lehre. Thomas argumentiert so dagegen: "Das Alte Gesetz war nicht nur des Vaters sondern auch des Sohnes; denn Christus wurde im Alten Gesetz vorgebildet ... Ebenso ist auch das Neue Gesetz nicht nur Christi sondern auch des Heiligen Geistes ... Also ist kein anderes Gesetz, das des Heiligen Geistes wäre, zu erwarten."

Thomas geht geschickt vor. Seine Sätze stimmen, nur nicht als Widerlegung Joachims. Mit einem anderen qqGesetz hat der auch nicht gerechnet. "Der fundamentale Gegensatz zwischen Thomas und Joachim" besteht laut Herbert Grundmann (409) darin: "Für Joachim gibt es nicht ein altes und ein neues Gesetz oder gar noch künftig ein anderes evangelium Spiritus Sancti quasi alia lex (so Thomas). Joachim kennt in der dreistufigen Heilsgeschichte nur eine, nur die "lex", das Gesetz sozusagen als Singularetantum; das ist für ihn das mosaische Gesetz des Alten Testaments, das Christus zwar nicht auflösen wollte, sondern erfüllen (Mt 5,17). Mit Christus aber beginnt nicht ein ‚neues Gesetz', sondern die Zeit der Gnade nach der Zeit des Gesetzes. Und nach dieser Zeit der Gnade, des Gottes-Sohnes, des Neues Testamentes erwartet Joachim noch vor dem Weltende den Anbruch einer dritten Zeit des Heiligen Geistes, die er ... nicht anders zu charakterisieren weiß als die Zeit sub ampliori gratia, reicherer Gnadenfülle, nicht aber eines noch anderen Gesetzes oder Testamentes, auch nicht eines geschriebenen ‚Evangelium aeternum', wie ihn später seine franziskanischen Adepten mißverstanden und umgedeutet haben."

Die Wahrheit, daß es kein anderes Gesetz des Heiligen Geistes geben wird, ist jedoch scharf zu unterscheiden von der irrigen Meinung des Thomas, man dürfe "nicht erwarten, daß es einen künftigen Zustand geben wird, in welchem die Gnade des Heiligen Geistes vollkommener gehabt wird, als sie bisher gehabt worden ist." Ihn wird es geben, ja er fängt schon an.

Die kirchlich-offizielle Resignation (ach, es bleibt ja eh' alles, wie es immer war ...) im Widerspruch zu Joachims Hoffnungsschwung ist nicht christlich. Vor achthundert Jahren mag sie für die besonnenen Geister in der Zwickmühle zwischen revolutionärem Aufbegehren und behäbigem Pfaffentum unvermeidbar gewesen sein, heute ist sie aufs deutlichste widerlegt. Augustins Konzeption einer gleichförmig, ohne denkbare Wendepunkte auf die Ewigkeit zu gleitenden Kirchengeschichte ist von dieser selbst auf erschreckendste Weise als falsch erwiesen worden. Eine solche Wendung gibt es, uns heute wälzt sie um und um. Joachim hatte recht. Auf die Zeit des in der Geschichte wirkenden göttlichen WORTes folgt tatsächlich eine andere Epoche, in welcher der göttliche GEIST des Friedens und der Einheit die Kirche bestimmt und durch sie in der Welt wirkt. [Bewegend schließt Ernst Benz seine Einleitung: "An einem Punkt reißt freilich die Analogie zu der christlichen Urgeschichte ab: der Geschichtsanspruch der Franziskanerkirche hat sich nicht durchgesetzt, sondern ist an dem Widerstand der römischen Papstkirche gescheitert. Nur in einer vielfachen politischen, humanistischen, literarischen und verweltlichten Umwandlung hat er auf das Geschichtsbewußtsein der Renaissance eingewirkt. Aber die franziskanische Spiritualenkirche hat sich dieses Schicksal selbst vorgezeichnet. Sie sah in ihrer eigenen Geschichte die Erfüllung des Leidens- und Todesschicksals ihres Herrn Christus. Sie konnte diesen Weg gehen, weil sie wußte, daß er durch das Leiden und den Tod zur Auferstehung und zur Herrlichkeit führt. Der Stand ihrer Auferstehung und ihrer Herrlichkeit sollte die kommende ecclesia spiritualis sein. Wann wird sie auferstehen?"]

3) Heute erfüllt sich die Prophetie

Den akuten Wendepunkt vom Zweiten zum Dritten Zeitalter haben unsere Älteren unbewußt selbst miterlebt. Er hat einen schauerlichen Namen: Auschwitz. Seit Jahrzehnten beschwört der katholische Theologe Johann Baptist Metz seine Mitchristen, daß die Theologie nach Auschwitz nicht dieselbe sein darf wie zuvor. Die Forderung ist weithin erfüllt. Nur haben die Gläubigen den Tiefgang des Wandels noch nicht bemerkt. Ihnen die Augen zu öffnen, bedarf es der Erinnerung an Joachims geistliche Einsicht. Keiner außer ihm hat die unendliche Dimension des Umschwungs bemerkt. Nur wenn die Kirche anerkennt, daß viele Jahrhunderte nach dem Christus-Ereignis ein absolut neuer Heilseinbruch ihr Selbstverständnis grundstürzend vertieft, nur dann sind wir einzusehen imstande, was der Judenmord mitten in der Christenheit wirklich war und wie anders diese sich selbst und alles künftig verstehen muß.

Wer eine steile Felswand erklettern will, greift nach dem winzigsten Halt. Ein solcher findet sich bei unserem Vorhaben in drei Zeilen von Ernst Benz. Es geht um das Protokoll der Kardinalskommission von 1255: "Auch die Übertragung des Verhältnisses ... von Synagoge und Urkirche auf die Geschichtsbeziehung der Klerikerkirche und Johanneskirche findet hier ihre Widerlegung" [ECCLESIA SPIRITVALIS, 255]. Diese Parallele ist, in der Sprache der Bibeltheologie, Joachims Hauptthese. Wenn wir uns erinnern, daß die Kirche Gottes Bund mit Israel bis in unsere Tage als am Karfreitag erst von den Juden und dann von Gott gekündigt ansah und daß es ohne zweitausend Jahre christlicher Überzeugung von jener göttlichen Verwerfung der Juden nie ein KZ Auschwitz gegeben hätte, dann springt im Licht der jetzigen Umkehrung kirchlicher Israel-Theologie die Sprengkraft ins Auge, die in den knappen Worten von Anagni 1255 steckt.

Am Anfang ihres zweiten Kritikpunktes (der neue Orden) zitieren die Kardinäle Joachim [Concordia II,2,9; ed. R.Daniel 182] und stellen seine Erwartung jenem neutestamentlichen Satz gegenüber, der am schärfsten die altkirchliche Ablösungstheologie ausspricht, die inzwischen selber relativiert, in ihrer einseitigen Schroffheit als unchristlich erkannt worden ist: »‚Wie von Johannes dem Täufer an das Alte verbraucht war und Neues erschien, so ist auch jetzt das Alte einzuschätzen, das bis jetzt vergangen ist, im Hinblick auf das Neue, das der Herr tun wird auf Erden.’ Wenn man mit diesem Worte das verbindet, womit das achte Kapitel des Hebräerbriefs schließt, dann sieht es so aus, als müsse das aufhören, was bisher im Neuen Testament gehabt worden ist.« [Lateinkundigen sei der bedeutsame Text vom Juli 1255, der jetzt also genau drei Viertel eines Jahrtausends alt ist, nicht vorenthalten: »‚Sicut a Johanne Baptista consumatis veteribus apparuerunt nova, ita et nunc vetera estimanda sunt que transiverunt usque modo respectu novorum, que faciet Dominus super terram.' Igitur si jungatur huic verbo istud, quod dicitur in fine viii. capituli ad Hebreos in textu et in glosa, videtur quod cessare debeant ea, que hactenus habita sunt in novo testamento.«]

Damals schwoll das alte Geschwür kirchlicher Judenfeindschaft immer noch an, erst im abgelaufenen Jahrhundert ist es zum ungeheuersten Verbrechen der Menschheitsgeschichte aufgeplatzt. Weil die Urkirche die Synagoge tatsächlich nicht abgelöst sondern erweitert und ergänzt hat, deshalb gilt von der Geistkirche im Verhältnis zur Sohnkirche dasselbe, so daß diese keinen Grund mehr hat, Joachims Offenbarung zu verwerfen. Damals mußte sie es scheinbar tun, wegen desselben blinden Flecks, der ihr das Weitergelten des Ersten Bundes (auch neben dem Zweiten, nicht nur in ihm!) verbarg. Mit schrecklichen Folgen: Ohne zweitausend Jahre christlicher Überzeugung, daß Gott die Juden verworfen, seinen Bund mit ihnen gekündigt habe, hätte es nie ein KZ Auschwitz gegeben.

Rabbi Teitelbaum hat nicht übertrieben, als er den Besuch von Papst Benedikt in der Kölner Synagoge »ein aktives Zeichen gegen den früheren christlichen Antisemitismus« nannte. Der hat Jahrhunderte hindurch furchtbar gewütet. Gleichfalls zu Recht berief der Papst sich bei dieser Gelegenheit – mit Worten des letzten Konzils – auf den Ursprung der Kirche: »Mit dem Apostel Paulus sind die Christen überzeugt, daß ‚Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich sind’ (Röm 11,29).« War demnach in der Kirche immer schon alles klar? Keineswegs. Den judenfreundlichen Sätzen standen im selben Neuen Testament von Anfang an judenfeindliche gegenüber. »Das Reich Gottes wird euch weggenommen werden«, hatte Jesus selbst den Juden gedroht (Mt 21,44), und im Hebräerbrief (8,13) wird der Alte Bund als veraltet und dem Untergang nahe hingestellt. Entscheidend ist, welcher dieser zueinander widersprüchlichen Grundsätze die gelebte Beziehung der Christen zu den wirklichen Juden in ihrer Mitte bestimmt. Bis zum letzten Konzil war dies der judenfeindliche, deshalb trifft des Rabbi Wort vom »christlichen Antisemitismus« ins Schwarze. Daß der Papst (wie seine Vorgänger seit Johannes XXIII.) jetzt den judenfreundlichen Akzent für maßgeblich erklärt, diese Revolution im kirchlichen Denken ist bereits Zeichen und Folge des hereingebrochenen Zeitalters des Heiligen Geistes.

Dank seiner weiß die Kirche heute: Gottes Bund mit Israel ist am Karfreitag nicht gekündigt worden. Er gilt weiter. Nicht beerbt wurde Israel von der Kirche, sondern Gottes Neues Volk ist dem Alten an die Seite getreten. Beide Etappen der Gott-menschlichen Liebesgeschichte haben bis zum Ende der Zeit je ihre Wahrheit. Deshalb hat die Kirche jetzt, anders als 1255, keinen Grund mehr, die Entsprechung zwischen beiden Übergängen und ein bewußtes Sich-Einschwingen ins anbrechende Zeitalter des Heiligen Geistes für unkatholisch zu erklären. Joachims Glaube an einen gewaltigen drei-einigen Geschichts-Rhythmus darf wieder, wie vor 800 Jahren, die wachen Christen begeistern.

Der Schritt vom ersten zum zweiten Status hat nicht den Sinn der Ablösung, muß mithin einen anderen haben. Ob es in diesem anderen Sinn einen weiteren Schritt hin zu einem dritten Status geben und worin er bestehen kann: diese aufregende Frage wurde vom kirchlichen Lehramt nie entschieden. Wohl von der Wirklichkeit! In unseren Jahren ereignet sich eben dieser Schritt, und zwar mit überirdischer, wahrhaft göttlicher Energie. Eine geistliche WELLE hat die Gläubigen ergriffen und wirbelt sie herum, daß ihnen Hören und Sehen und Denken vergeht, nicht zum Tod jedoch sondern zu Neuem Leben. Nur wenn die Kirche dieses absolute Ereignis so anerkennt, wie Joachim es vor achthundert Jahren angekündigt hat, nur wenn sie der Heiligen GISCHT vertraut und, statt sie zu bekämpfen, sich IHR einschmiegt, findet sie neuen Stand.

4) Der WIR-Funke zündet im ICH

Worin besteht aber dieser Umschwung? Packende Bilder genügen nicht. Glaube will sich verstehen. Was, genau, ereignet sich gerade mit der Christenheit?

Im Großen dieselbe Erfüllung des Ich im Wir, die vor 23 Jahren einem fragenden Kind im Kleinen geschah. Erst heute merke ich, daß die alte Überschrift "Pfingstglaube in fünf Silben" nicht nur überzeitlich zutrifft sondern aktuell-dramatisch. Hier ist die wahre Geschichte:

Draußen herrscht schmuddelige Dämmerung, gern kommen Vater und Söhnlein nach Hause. Nachdem Gilbert sein Mäntelchen aufgehängt hat, strahlt er mich an und sagt triumphierend: "Gell ich ghör zu uns."

Etliche Jahre ist das jetzt her. Doch statt zu verblassen, gewinnt die kleine Szene an Leuchtkraft. Die Tür fällt ins Schloß. Draußen bleiben Matsch, Nieselregen, Kälte und zunehmende Dunkelheit. Eine feindliche Welt, in der man sich verirren kann, riesig, undurchschaubar. Da gibt es böse Menschen und wer weiß was für bedrohliche Mächte, vor denen man Angst haben muß. Von überall her schreit, zischt oder schweigt es dir da entgegen: Du gehörst nicht dazu. Du bist fremd, du störst, oder wenn du geliebt bist, dann wie von der Spinne die Fliege ... Zum Glück ist die Tür jetzt zu und wir sind herinnen. Hier ist es warm und hell, bestimmt wartet in der Küche etwas zu essen. Und Mami. "Gell ich ghör zu uns."

Was hat das Erlebnis dieses Kindes mit dem Heiligen Geist zu tun? Nun: Je reifer ein Mensch wird, um so weiter reicht sein Wir-Horizont. Familie, Freundeskreis, Stadt, Stamm, Nation, Kirche, Menschheit, Biosphäre - keiner dieser Kreise schenkt aber aus eigener Kraft das Glück, nach dem unser Herz sich sehnt. Sogar im kleinsten, der Familie, fühlt ein Mensch sich oft unverstanden und fremd. Nur von ganz innen kann Geborgenheit kommen.

Dem Theologen H. Mühlen verdanken wir die Einsicht, daß im dreifaltigen göttlichen Leben der Heilige Geist das WIR in Person ist. Zu seiner allumspannenden, lebenspendenden Gemeinschaft gehört jeder Mensch, der sich nicht, durch gewollte Lieblosigkeit, selber ausschließt. Darum nehme ich Gilberts wunderschönen Satz als Gebet. Der Geist weht, wo Er will. Wenn ich mich bei irgendeinem herzlosen Apparat einmal wieder fremd und verloren fühle, öffne ich das Fenster, lasse mir vom frischen Hauch das Gesicht streicheln und sage zu IHR, dem all-bergenden göttlichen ATEM, voller Vertrauen: Gell ich ghör zu UNS!

Im Leben der Kirche nimmt der Satz einen doppelten Sinn an je nachdem, ob (a) ich, die Kirche, mich zusammen mit euch anderen auf uns, die Menschheit, beziehe, oder ob (b) ich, diese(r) Einzelne, zu uns der ganzen Kirche gehöre, ohne daß meine unverwechselbare Besonderheit in einförmiger Allgemeinheit untergeht.

a) Weite nach außen

Die Heilsgemeinschaft Kirche, mit deren Beginn dank Christi Auferstehung die neue Epoche des Sohnes begann, hat sich innerhalb der Menschheitsgeschichte seither zu einem kräftigen Ich entwickelt, des eigenen Wertes deutlich bewußt. Die Fernsehspektakel beim jüngsten Papstwechsel haben diesem Selbstbewußtsein eine weltweite Bühne geboten. Inzwischen ist es an den Reifungspunkt gelangt, daß es gleichfalls die Wir-Frage stellt: Ghör ich zu uns? Mit der bejahenden Antwort des göttlichen WIR in Person setzt das Zeitalter des Heiligen Geistes ein. Wie beim früheren Übergang das neutestamentliche Ich, das die Christen sein dürfen ("Ihr seid Einer in Christus" [Gal 3,28]), die alttestamentliche Du-Richtung nicht abschafft ("Dein Wille geschehe!" beten auch die Christen), ebenso wird die jetzt aufstrahlende Wir-Klarheit den anderen trinitarischen Sinn-Dimensionen Du und Ich nicht abträglich sein sondern sie vollenden.

Sobald es um die Gestalt solcher Vollendung geht, hört die Parallele mit Gilberts Erlebnis auf. Das Kind fragte nach Uns als der es bergenden Schutzmacht. Das ist die Menschheit für den Christen zwar auch, diese Erkenntnis ist aber nichts Neues. Daß jeder auf alle angewiesen ist, haben wir immer gewußt. Für die Kirche so dramatisch neu, daß man es als absolute Epochenwende verstehen muß, ist vielmehr ihr aufrüttelndes Begreifen: Ich (Christ) gehöre zu uns (Menschen) und weiß, daß jedes (anders überzeugte) Nicht-Ich gleichfalls zu uns schon gehört und darum nicht erst wie ich werden muß, um, gleich mir, in MIR Gottes ewigem KIND zu DIR GOTT unterwegs und von UNS dem Heiligen ATEM belebt zu sein.

Diese Einsicht ist der Christenheit neu. Das weiß, wer die Dogmengeschichte kennt. 1442 bestätigte das Konzil von Florenz mit seiner Autorität die extremen Sätze des hl. (?) Bischofs Fulgentius (+532): "Die hochheilige römische Kirche, von der Stimme unseres Herrn und Heilands gegründet ... glaubt fest, bekennt und verkündet, daß niemand, der nicht innerhalb der katholischen Kirche existiert, nicht bloß Heiden, sondern auch Juden oder Häretiker oder Schismatiker nicht, des ewigen Lebens teilhaft werden kann, sondern sie werden ins ewige Feuer gehen, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist, wenn sie nicht vor dem Lebensende ihr eingegliedert worden sind ..." Und noch 1832 nannte Papst Gregor XVI. die Idee allgemeiner Gewissensfreiheit ein "deliramentum", einen Wahnsinn.

Beide skandalösen Bescheide der höchsten Autorität werden von tüchtigen Theologen locker weggesteckt: als sozusagen interne Dienstanweisungen. Wer echt zum Katholiken berufen ist, kommt auf fremden Wegen nicht zum Ziel; nur an solche Gläubige, heißt es, richten sich kirchliche Glaubensaussagen, ihnen sind sie wahr, anderen sagen sie nichts. - Diese Erklärung trifft zu, ist freilich selbst schon ein Ausdruck des Neuen, früher so nicht möglichen Geistes. Denn wer die Unterscheidung trifft zwischen mir (dem Christen) und euch (den anderen), die aber gleichfalls zu uns (der von Gott geliebten Menschheit) gehören, der denkt bereits nach den Regeln des Dritten Zeitalters. Zeitgenossen Gregors XVI. (innerhalb der Papstkirche wie draußen) dachten meist nicht so, konnten sein strenges Urteil (Gewissensfreiheit ist Wahnsinn) fast nur entweder fundamentalistisch mitvollziehen oder relativistisch verdammen. Erst seit der von Joachim als Neue Dreieinigkeitsoffenbarung gedeutete spirituelle Funke nicht mehr nur (wie immer schon) einzelne mystische Seelen sondern jetzt die Öffentlichkeit der Jesusjünger in die innergöttliche ICH-WIR-Spannung hineinreißt, ist meine (des Christen) Beziehung zu euch (den anderen) in UNS (der göttlichen Huld) entkrampft.

b) Würde innen

Christen des Dritten Zeitalters sind aufgeklärte Menschen im Sinn von Immanuel Kant, sie haben ihre für die Obrigkeit so bequeme Unmündigkeit hinter sich gelassen und denken selbst. Engherziges Fragen nach dem einen Weg für alle paßt nicht zum Heiligen Geist. Bei Joachim findet sich ein packendes Bild [Apolalypse-Kommentar, ohne nähere Angabe auf Italienisch zitiert in: Gioacchino Abate die Fiore, hgg. v. Centro Internazionale di Studi Gioachimiti (San Giovanni in Fiore 1998), 39]: »Es ist äußerst schwierig, Wort für Wort die Verläufe der göttlichen Wege zu besprechen ... Wie die Schrift bezeugt: ‚Im Meer sind deine Wege, zwischen vielen Wassern deine Pfade, und deine Spuren sind nicht sichtbar’ (Ps 77,20). Die Meerwege sind in der Tat nicht wie die auf der Land-Oberfläche; gelangt man da an eine enge Stelle, kommt man unmöglich anderswo vorbei, sondern wenn sich ein Weg für alle auftut, folgen die einen den anderen. Von Seefahrern hingegen wählt jeder seinen Weg, wie ihn der Winde Wehen leitet, und wenn sich beim Lesen der Himmelszeichen keiner irrt, werden ... alle zum einzigen Hafen gelangen.«

Im folgenden Weltjugendtags-Kommentar [Publik-Forum (Internet-Seite August 2005)] mißfällt mir nur ein Wort. »’Wir sind Papst!’ Eine Schlagzeile ist zum Slogan geworden und enthält mehr Wahrheit, als viele auf den ersten Blick vermuten. Mit dem ‚Wir sind Papst!’-Button an der Kleidung demonstrierten Hunderttausende junge Menschen in Köln beim Weltjugendtag, dass sie gewillt sind, die Ressourcen der Religionen und Kirchen zu nutzen, um sich daraus ihre eigene, ganz persönliche Religiosität zu basteln. Was der Papst für sich in Anspruch nimmt, nämlich im Umgang mit Bibel, Tradition, Vernunft und modernen Herausforderungen seinen eigenen Glauben zu gestalten, das nimmt nunmehr auch die überwiegende Mehrheit junger Menschen gerade auch der katholischen Kirche für sich in Anspruch.« Die Bastel-Metapher macht aus persönlichem Glauben etwas Dingliches, Apparathaftes, eine Art Kapellen-Baracke neben der Kathedrale. Das wollen die meisten jungen Christen aber gerade nicht, vielmehr wache Beweglichkeit im Meer der Zeit und Wind des Geistes. Nichts anderes hat der Prophet Jeremias bereits Jahrhunderte vor Christus angekündigt, derzeit erfüllt es sich auf breiter Front: »Dies wird der Bund sein, den ich mit dem Volk Israel nach diesen Tagen schließe, Spruch des Herrn. Ich lege mein Gesetz in ihr Inneres, ich schreibe es in ihr Herz, ich werde ihr Gott sein und sie mein Volk. Sie werden einander nicht mehr belehren und sagen: Erkennt den Herrn! Denn alle werden mich erkennen, vom Kleinsten bis zum Größten, Spruch des Herrn« (Jer 31,33 f).

5) Drei Zeitalter

Natürlich hat Thomas von Aquin recht: Schon im Alten Bund wirkt der Vater nicht getrennt von Sohn und Geist, sondern eins mit ihnen. Ebenso hat, in der bisherigen Kirche, Gottes Wort nicht gegen den Vater und nicht ohne den Heiligen Geist gegolten. Ebenso darf in der anbrechenden GEISTkirche die Klarheit des WORTes und die Verehrung des einen GOTTes nicht fehlen. Dennoch wird Alles neu. Wie?

Israel erfuhr und erfährt sich als Gottes auserwähltes Sondereigentum, ähnlich dem geliebten Hausgärtla der Kolchosbäuerin. Auch die Völker sind vom Schöpfer gewollt, wohl auch zu ihrer Weise von Glück vorgesehen, das ist aber mit der Auserwähltheit des eigentlichen Gottesvolkes nicht zu vergleichen. Anders als den Völkern, hat der Einzige sich Abraham, Moses und den Ihren persönlich vorgestellt. Gemäß Joachims Sprache lebt allein das Volk des Alten Bundes im Reich des Vaters, während die es umgebenden Völker Gott nur als das Unerforschliche vernehmen, nicht seine persönliche Stimme: ICH bin, WER ich bin, auch für euch. Dies war das Erste Reich. Anders als die Christen lange meinten, hörte es durch das Jesus-Ereignis nicht auf, sondern gilt den gläubigen Juden mit Recht weiter, ob sie dazu auch an Christus glauben oder nicht.

Doch geschah dank Jesu Leben, Sterben und Auferstehn etwas umwerfend Neues: Das offenbarte Heil weitet sich auf die Nicht-Juden aus. Wenn Gott ein Mensch wird, einer von uns, dann ist jedes seiner Menschgeschwister mitauserwählt. "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid Einer in Christus Jesus" (Gal 3,28). Diese Weite des Heils wird im Pfingstbericht symbolisch geschildert. Menschen aller Völker und Sprachen sind in Jerusalem versammelt und werden von Gottes Geist angerührt. Der hebt ihre Gegensätze nicht auf, nicht eine Sprache verdrängt die vielen, sondern "jeder hörte sie in seiner Sprache reden" (Apg 2,6). Einheitlich wäre ein Kaninchen nur als Hackfleisch, Gottes Neues Volk aber lebt, in Vielfalt eins und geeint vielfältig.

Einerseits war diese Offenbarung endgültig. Näher denn als Mensch in unserer Mitte kann Gott uns nicht werden; hat ein Mensch durch seine Auferstehung den Tod besiegt, dann ist dieses Ereignis durch kein späteres überbietbar, kann nur allen Menschen verkündet werden: als ein für allemal geschehen. Diese Lehre christlicher Rechtgläubigkeit ist wahr. Wieso wird der Status des Sohnes trotzdem durch den jetzt hereinbrechenden Status des Heiligen Geistes wesentlich geklärt? Weil die Offenbarung das eine ist, die öffentliche Ankunft des von ihr Gemeinten bei uns Menschen das andere. Indem die Erlösung an Jesu Namen gebunden wurde, verbreitete sich bei den Christen die Meinung, alle jene vielen, die an diesen Namen - aus den oder jenen Gründen - nicht glaubten, seien dem Heil fern. Statt wirklich die ganze Menschheit ins Heil einbezogen zu glauben, hielt die Kirche sich für "das Neue Israel" in doppelt falschem Sinn: einmal als vermeintliche Ablöserin (statt heidenchristliche Schwester) des jüdischen Israel, sodann als gegen die Nicht-Christen allein auserwähltes Gottesvolk. Aber "Gott ist größer als unser Herz" (1 Joh 3,20). Sein Geist lehrt die Kirche jetzt, sich selbst (wie es Jesu Botschaft entspricht) schlicht als besonderes Zeichen der Auserwähltheit aller Menschen zu Gottes Heil zu begreifen, auch derer, die aus - für sie - guten Gründen den Glauben an Jesus nicht mitvollziehen.

6) Stereo-Gleichnisse des Ewigen Evangeliums

Wenn die Lehrerin »alle Buchstaben« an die Schultafel schreibt, sehen die Schüler nur wenige. Wer die anderen (die zwar zum Gemeinten, nicht aber zum Zeichen gehören) mit hineinmischt, zerstört das Zeichen, qawlrlzeioBpufcghjsktlaxbyeznQ ist Unsinn, nicht Allsinn. Wer aber von q, w und x deshalb, weil sie nicht zu »alle Buchstaben« gehören, behaupten wollte, daß sie nicht zu allen Buchstaben gehören, hätte nicht verstanden, was doch der Zweck von Zeichen ist: den Gehalt.

Zwar heißt die kirchliche Lehre schon des Zweiten Zustands korrekt "ALLE BUCHSTABEN", doch verstehen die Gläubigen in dieser Heilsphase die Information noch allzu buchstäblich, lassen das Zeichen nicht seinen Sinn bedeuten, nämlich eben alle Buchstaben, sondern bloß sich selbst, den begrenzten Schriftzug aus den zehn Lettern A B C E H L N S T U. Ernst Benz zitiert Joachim, wie er "das Wunder von Kana, die Verwandlung von Wasser zu Wein als das Urbild der Verwandlung des Buchstabens der Schrift in den intellectus spiritualis gedeutet [hat]. ‚Jener Zeit, welche die Zeit der Gnade heißt, ging der Buchstabe des früheren Testamentes voran, und jener - kommenden Zeit - welche die Zeit einer noch größeren Gnade sein wird, ... ging der Buchstabe des Neuen Testamentes voran. So ist einst der Buchstabe des Gesetzes in Wein verwandelt worden, und viel stärker wird beim Eintreffen jener Zeit das Wasser der Worte des Evangeliums in Wein verwandelt werden nach dem Wort des Apostels: Wenn aber kommen wird das Vollendete, wird das Stückwerk zunichte werden.' ... Der in diesem Zusammenhang sich findende Begriff der Veränderung des Evangeliums - commutatio evangelii - meint nicht, wie Joachim später von den Spiritualen unterschoben wurde, die Abfassung und Veröffentlichung eines neuen Evangeliums der dritten Zeit in Buchform, sondern die Verwandlung der begrenzten Einsicht der zweiten Zeit in das volle Wissen der dritten Zeit, das der Geist den Erwählten schenken wird. ,Unter allen Zeichen des Heiligen Geistes erscheinen die beiden folgenden als die hauptsächlichsten zur Festigung des Glaubens: das ist die Verwandlung des Buchstabens in die geistige Erkenntnis und die Kräftigung des schwindenden lebendigen Geistes im inneren Menschen durch einen deutlichen Hinweis, der durch ein Zeichen der Gnade bestätigt wird.'" [ECCLESIA SPIRITVALIS, 25]

Dies also ist das von Joachim erhoffte und für bald angekündigte "Ewige Evangelium": nicht ein weiterer Text, kein neuer Buchstabe, sondern jener vernünftige Zustand, da Gottes Neues Volk, die geistliche Kirche, wirklich den SINN der biblischen Worte erfaßt ("Alles Fleisch wird schauen Gottes Heil"), statt das göttliche Wohlwollen auf jene Gruppe zu beschränken, die des Erlösers historischen Auftritt als Jesus Christus bekennt. Er wird von Joachim nicht geleugnet, so wenig das klügste Schulkind bestreiten wird, daß nur zehn oder vierzehn Buchstaben an der Tafel stehen, keineswegs alle. Trotzdem gibt die Lehrerin der aufgeweckten Simone recht, wenn die ihren stumpferen Mitschülern gegenüber darauf besteht, daß die zehn Buchstaben mehr als sich selbst bedeuten, eben: alle. [Im Mai 1942 schrieb Simone Weil an Pater Perrin: "Sie haben mir auch sehr weh getan, als Sie eines Tages das Wort 'falsch' gebrauchten, als Sie 'nicht-orthodox' sagen wollten ... Es ist unmöglich, daß dies Christus gefällt, der die Wahrheit ist. Es scheint mir sicher, daß dies bei Ihnen eine ernstliche Unvollkommenheit darstellt. Und warum sollte es Unvollkommenheit in Ihnen geben? Es paßt sich durchaus nicht für Sie, daß Sie unvollkommen sind. Das ist wie eine falsche Note in einem schönen Gesang."]

Beides wird an diesem Vergleich deutlich: die Wichtigkeit der Buchstaben und ihr Ungenügen. Wichtig sind sie; denn solange der Schriftzug nicht ganz an der Tafel steht, hat er keinen Sinn. Sollte Simone schon während des Schreibens ahnen, was herauskommen soll, und vorschnell protestieren: Das kann ja nie stimmen, immer werden die meisten Buchstaben fehlen - so erhielte sie von der Lehrerin den Verweis: Wart doch ab, bis es richtig dasteht, dann reden wir über den Sinn. Das Gleichnis trifft genau das, was an Joachims Einsicht heute fruchtbar wird. Die endgültige Offenbarung in Jesu menschlichem Bewußtsein entspricht dem Begriff "alle Buchstaben" im Geist der Lehrerin und ihrem Entschluß, ihn den Schülern mitzuteilen. Die Verwirklichung, "Re-alisierung" (= Versachlichung von lat. res = Sache) ["Eine ganz andere Sache war es, als das Reich Gottes noch bloß innerlich war, und eine andere, als es nun auch äußerlich da sein sollte ... Die geschichtliche Kirche fängt erst mit dem Augenblick an, wo sie selbst Weltreligion wird, eine Existenz in der Welt einnimmt ... Zuerst der Körper und dann der Geist, dies ist die natürliche Ordnung, der sich nichts entziehen kann, was in die Außenwelt zu treten bestimmt ist ... Der Herr wird wissen, warum und wozu es in dieser Zeit und unter den gegenwärtigen Weltumständen notwendig ist, daß Christus noch so umschlossen, so umschleiert, mit so vielem Fremdartigem und sogar ihn Verbergenden umgeben ist, als ob die Welt den unmittelbaren Verkehr mit ihm, dem nackten, bloßen Christus nicht würde vertragen können" (F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung (1859), Neudruck Darmstadt 1959, 297f. 309).] des Entschlusses, das Anschreiben der ausgewählten Buchstaben an die Tafel, braucht Zeit, entspricht der Kirchengeschichte zwischen Jesus und heute, da die Botschaft sich so geklärt hat, daß die Christenheit mit sich und allen endlich über deren SINN sprechen kann. Dieses Gespräch wird den zweiten großen Teil der Kirchengeschichte bestimmen, zwischen der Offenbarung des Heiligen Geistes und dem Ende der Welt. Gesprächsthema wird die Einbezogenheit auch der anderen Buchstaben, die zum Schriftzug nicht gehören, in dessen Sinn sein.

Darf denn aber die Offenbarung der Heiligen Gischt zeitlich derart festgelegt werden? Hat SIE sich nicht schon an Pfingsten den Aposteln geschenkt, hat sie seither nicht immer wieder die Enge des Buchstabens gesprengt, sooft ein Mensch aus vorgegebenen Schablonen ausbrach: einen Fremden achtete. Einem Übeltäter verzieh, sich von göttlichen ATEM die Brust weiten ließ? Selbstverständlich, und nicht erst seit Benedikt. Schon Origenes (+ um 254) hat überhaupt nicht eng-konfessionell gedacht. ["Er vertritt vor seinen Hörern, von denen er keineswegs die Mitgliedschaft in der Kirche verlangte, die ‚kirchliche Lehre', die höchste Form der Gnosis, die die göttliche Selbstoffenbarung zuläßt. Der kirchliche Amtsträger dagegen dient dazu, für Ordnung zu sorgen, wie es nun einmal für jedes Volk der gefallenen Menschheit nötig ist, auch für das christliche. Wie hier der grundsätzliche Unterschied zwischen Kirche und Welt aufgehoben ist, so unterscheidet sich der Bischof hinsichtlich seiner Ordnungsfunktion nicht wesentlich von einem weltlichen Regenten" (Matthias Riedl, Joachim von Fiore, 73).]

Anderseits steht die Schultafel nicht in einem behüteten Raum, sondern wird in der wirklichen Geschichte chaotisch bespritzt und bekritzelt, immer wieder wird der kirchliche Schriftzug HEIL FÜR ALLE unleserlich, so daß wir ihn mühsam nachziehen müssen. Zum einen geschah die Offenbarung des Geistes somit auch schon früher, zum andern bleibt der Buchstabe weiterhin wichtig. Von beidem war auch Joachim überzeugt. Kurz, in den Worten eines Freundes: "Nicht irgendwann in der Zeit, auf der Strecke, sondern von der Strecke wird der Mensch gefischt. Heraus in die erlösende, befreiende dritte Dimension der Beziehung, der Liebe. Er bleibt in der Zeit und erlebt doch gleichzeitig sein Leben in der dritten Dimension. Wie lange dauert ein Kuss? Wer dies beantworten kann, hat nicht geküsst." [Thomas Primas im Juni 2005]

Die Zeit macht es nicht, keine Zeit macht es: Dies ist die innerste, mystische SINN-Wahrheit jedes Glaubens. Sie auf menschliche Weise lebendig auszudrücken, hat aber nicht nur die suchende Menschheit, sondern der all-liebende Gott selbst auf der Zeitstrecke einige Momente hervorgehoben. So ereignet sich: gemäß dem Glauben der Juden, Christen und Muslime, vor viertausend Jahren die Offenbarung des einzigen Gottes an Abraham; gemäß dem Glauben der Christen vor zweitausend Jahren die Offenbarung des Ewigen Kindes in Jesus; gemäß dem Glauben Joachims und seiner Anhänger jetzt das Aufblühen des pfingstlichen Verständnisses; jeweils dasselbe ganze Heil, doch in zeitlich versetzten Phasen.

Ein Ursymbol kann die Abfolge verdeutlichen. Immer schon geht uns Menschen die Sonne auf – nicht weil sie sich bewegt, aber weil die Erde sich ihr entgegendreht. Dreierlei Sonnenaufgänge habe ich in diesen Sommertagen erlebt. a) Bei wolkenlosem Morgenhimmel erhebt unser Lebensstern sich exakt zur astronomisch bestimmten Minute rotleuchtend aus dem Meer. Dies ist ein klarer Nein/Ja-Gegensatz: Eben war sie noch nicht da, jetzt ist sie da. b) Neulich war es anders. Zur bestimmten Minute geschah nichts, eine dicke schwarze Wolke verhüllte den Horizont. Nach oben war sie scharf abgegrenzt, so daß die Sonne einige Minuten, nachdem sie offiziell aufgegangen war, ebenso strahlend etwas über dem Horizont erschien, wie zuerst an ihm. c) Heute früh schließlich war der ganze Horizont nebelverhangen, bei Sonnenaufgang tat sich gar nichts, nicht der winzigste rote Schimmer gab Hoffnung, erst viel später schimmerte schon ziemlich weit oben eine blaßrote Scheibe durch den Nebel. Wer mag, kann hier die drei Weisen der göttlichen Selbstoffenbarung auf Erden versinnbildet sehen. Die erste ereignete sich in Abrahams Bewußtsein, seither ist die Sonne aufgegangen, geschichtliche Erkenntnis Gottes ist in der Welt. Allerdings hat sie durch ihre Beschränkung auf Israel zugleich jene Wolkenwand aufgetürmt, die beim Weiterdrehen der Geschichtszeit den Angehörigen der Völkerwelt jenen Aufgang verhüllte: ihnen erschien die göttliche Sonne erst später, als sie sich in Jesus auch den Nicht-Juden mitteilte. Dabei haben sich freilich neue, noch dichtere Wolken gebildet: Während Israel die Heiden nie ganz vom Heil ausschloß sondern dank dem Noach-Bund ebenfalls – wenngleich auf minder vollkommene Weise – in Gottes Huld geborgen glaubt, ließ die Christenheit die in ihrem Sinn »Ungläubigen« zur Hölle unterwegs sein. Erst in unsren Tagen wird diese Finsternis von der Sonne des Heiligen Geistes allmählich besiegt. Tags darauf zeigt sich wieder ein anderes Bild. Lange vor Sonnenaufgang schon überzieht flammendes Morgenrot mehr als die Hälfte des Horizonts. Aurora kündet dem ahnenden Herzen Großes an, und ich begreife: Nein, auch vor Abraham war die Menschheit nicht von Gott verlassen. Der Noach-Bund war, ist und bleibt gültig. Alle sind vom Schöpfer geliebt, seit jeher. Nichts anderes bringt jetzt das Zeitalter des Heiligen Geistes als die ausdrückliche Einsicht in dasselbe allumfassende, niemanden ausschließende Heil, das tatsächlich, dank Gottes ewiger Gnadentat, immer gilt. Die Zeiten runden sich, das Ende schwingt in den Anfang zurück, vom Licht der Mitte wird alles erfüllt, Lob sei DIR-IHR-UNS.

Ein britisches Forscherteam faßt Joachims Einsicht zusammen: "Die Autorität des Alten und Neuen Testaments soll im dritten Status nicht abgeschafft sondern eher voll verwirklicht werden, in dem neuen ‚geistlichen Verständnis', das aus Altem und Neuem Testament ‚hervorgehen' würde. Nach Joachims prophetischer Erwartung sollte es kein Drittes Testament geben, keine Ablösung der Kirche, aber ihre Überführung hin zu einer neuen geistlichen Ebene ... Joachim blieb bis zuletzt ein konservativer Revolutionär, in seinem Testament unterwarf er kurz vor dem Tod 1202 alle seine Werke dem Papst." [Warwick Gould and Marjorie Reeves, Joachim of Fiore, 8]

Die Mutation vom Zweiten Zeitalter des Sohnes zum Dritten des Heiligen Geistes, die derzeit geschieht, läßt sich in Joachims trinitarischer Sprache so erklären: Während im Reich des Sohnes die Christen "mono" denken, daß Jesus alle erlöst, die an ihn glauben und in seiner Kirche mitleben - die anderen folglich nicht, trifft der Anbruch des Geist-Reiches das christliche Bewußtsein als "der zündende Funke von oben" [So Walter Nigg in seinem Meisterwerk ("Das Ewige Reich", Zürich 1954) auf S. 117 im Joachim-Kapitel. Ernst Benz erklärt (19): "Johannes der Täufer ist als der Bringer der Wassertaufe der Typus des zweiten status; Elias, auf dessen Geheiß das Feuer vom Himmel fiel, ist der Typus des dritten status, in dem das Feuer des heiligen Geistes vom Himmel fällt und alles Fleischliche und Buchstäbliche verzehrt. Wie Johannes der Eröffner - initiator - der Sakramentenkirche, so ist Elias der Eröffner der Geistkirche. Derselbe Johannes, der die Wassertaufe bringt, weist auf den Kommenden hin, der mit dem Heiligen Geist und mit dem Feuer tauft. Wie also die Wassertaufe des Johannes und die Geist- und Feuertaufe des Elias in dem Verhältnis von Verheißung und Erfüllung stehen, so steht der status der Sakramentskirche zum status der Geistkirche im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung."], als Umschaltblitz von Mono zu Stereo. Jesus erlöst alle, nicht nur solche, die eben dies glauben, sondern alle überhaupt, letztlich sogar solche, die sich durch Bosheit gegen ihr Heil wehren. Das kann freilich nicht mehr der christliche Glaube behaupten, er bezieht sich auf Gott, nicht auf die Abgründe menschlicher Freiheit. Hoffen aber dürfen wir, daß selbst der Böseste vom Strahl der Liebe erreicht wird. Irgendwann war sein Herz offen, ohne Bosheit - von diesem Augenblick her, auch wenn er im schlimmsten Falle nur einen Moment dauerte, möge sich das Tor für ihn öffnen.

In der Begrifflichkeit der uns schon bekannten Vergleiche geschieht diese Umschaltung wie während der Konzertübertragung der Gang weg vom Küchenradio hin zur Stereo-Anlage. Wo mich eben bloß eine spannungslose Information traf, bin ich plötzlich mitten drin in einer vielfach differenziert ausgespannten Sinnwelt.

Oder die Umschaltung geschieht, wie wenn ich meinen Blick von der weißen Wand weg direkt auf den Scheinwerfer richte. Vor die Wand gehalten, sind die Farben meines Glasgemäldes stumpf, von der Lichtquelle durchstrahlt, funkeln sie pfingstlich bunt, jede leuchtet in ihrer besonderen nicht-weißen Pracht. So bleibt "Gottes vielbunte Weisheit" (Eph 3,10), wenn sie sich in fremden Glaubensweisen offenbart, dem Mono-Bewußtsein der Petruskirche verborgen; die erkennt allein das deutliche Weiß des Papsttalars als wahr an, nennt alles Nicht-Weiße finster. An ihr selbst wäre es tatsächlich finster; sie hat recht, alle Farbtupfer auf ihrem weißen Gewand Schmutz zu heißen. Eine vollgekleckste Leinwand eignet sich nicht für den Diavortrag, ein Brautkleid aus vielfarbigen Flecken bedeutet nur unvollkommen IHR hochzeitliches Ja.

Offiziell sein kann die katholische Kirche nur ungefähr so, wie Ratzingers Weltkatechismus sie beschreibt, am buchstäblichen Bestand der Offenbarung ändert der Anbruch des Geist-Reiches nichts. Von ihrer Mono-Realität aus soll die Kirche aber auch in geistlicher Stereo-Spannung leben, d.h. sich von ihrem Malkasten-Weiß immer wieder an dessen wahren SINN erinnern lassen: das strahlende Sonnen-Weiß, dank dem alle bunten Sommerblumen leuchten, nicht nur das kirchliche Gänseblümchen. Dessen bescheidenes Weiß soll die un- und allfarbige Sonne bedeuten, das ist Aufgabe genug, was das eigene Sein betrifft; andere Farben deshalb auch in fremden Blumen schlechtzureden, war die Unvollkommenheit des Zweiten Status, die inzwischen nicht mehr zulässig ist.

7) Gegen-, Mit-, Ineinander der drei Zeiten

Zuletzt gilt es, ein Gestrüpp von Widersprüchen zu klären. Verschiedene Zeitalter lösen einander ab, deshalb hat der christliche Verfasser des Hebräerbriefes den Alten Bund für veraltet erklärt. Auch das steht im Neuen Testament, ist für alle Christen verbindlich. Wie verträgt es sich mit ihrer heutigen Überzeugung, der Alte Bund gelte für die Juden ungekündigt weiter? Eine entsprechende Frage stellt sich beim aktuellen Übergang. Wie sind aus spiritueller Perspektive solche Christen zu beurteilen, die sich dem Übergang zum Geist-Zeitalter verweigern? Jene Juden, die seit zweitausend Jahren nicht Christen werden wollen, sind für die Kirche neuerdings nicht mehr halsstarrig Ungläubige, sondern ihrer bleibenden Berufung treu. Muß die sich bildende »Kirche des Geistes« dasselbe auch solchen Christen zugestehen, die heute »kein anderes Evangelium« wollen, sondern am selben Buchstaben des Heils festhalten wie ihre Väter? Sollen spirituell-ökumenisch Gesinnte, statt die konservativ-Konfessionellen als reaktionär und fundamentalistisch abzutun, auch sie mit ökumenischem Respekt als gleichberechtigte Christen achten, selbst wenn sie uns »unkirchliche Relativisten« heißen und aus der Gemeinschaft der Gläubigen hinausdrängen wollen? Läßt die derzeit einreißende Kirchenspaltung sich im selben Geschichtsmoment, da sie geschieht, auch schon auf neue Weise bewältigen, gar überwinden?

Wie die Verantwortlichen der Buchstabenkirche mit solchen »Spirituellen« umgehen werden, die auf die gemeinsame Tafel neben die amtskirchlich-ausgrenzende auch ihre all-einbeziehende Botschaft schreiben, das wird sich zeigen. Immerhin ist Benedikt XVI. einer der kundigsten Joachim-Spezialisten und hat sein Papstamt von Beginn an ausdrücklich unter das Zeichen der Ökumene gestellt. Umgekehrt sollten die heutigen Spirituellen aus den Fehlern ihrer mittelalterlichen Brüder lernen und die Buchstabenkirche nicht ablehnen, sondern ihr dienen.

Wenn der Kölner Bischof Joachim M. bei den ihm Anvertrauten des seligen Joachim »geistliches Verständnis« hindern will, indem er seinem Kollegen Gaillot verbietet, den anstößigen Sinn von »Heil für alle« den Menschen klar zu machen, so hat er im Hinblick auf das Dritte Zeitalter für sich eine ähnliche Entscheidung getroffen wie vor zweitausend Jahren im Hinblick auf das Zweite jene jüdischen Hohenpriester und Schriftgelehrten, die um ihres Buchstabens willen Jesu Botschaft zurückwiesen. »Wir haben ein Gesetz ...« Sie zu verurteilen, als von Gott verworfen abzutun, war damals ein schlimmer Fehlgriff der jungen Christenheit, ihn dürfen die Gläubigen des Dritten Zeitalters heute keinesfalls kopieren. Bischof G. tat recht daran, sich an das Verbot seines Mitbruders M. zu halten. Verdammen wir nicht solche Hierarchen und Laien, die subjektiv gutgläubig im Zweiten Zeitalter verbleiben. Auch sie werden gebraucht. Um der Lesbarkeit der buchstäblichen Botschaft willen sollen X und Y sich nicht in die Inschrift ALLE BUCHSTABEN drängen. Kämpfen wir jedoch für unser Recht, daneben ebenso öffentlich auch die geistliche Wahrheit auszudrücken: X und Y sind gültige Buchstaben. Ähnlich ist die Kirche auf tüchtige Religionskritiker und Einheitsmystiker angewiesen, obwohl deren Wahrheit sich von einer Kanzel aus nur abgeschwächt sagen läßt.

So wird im Zeitalter des Heiligen Geistes, von Joachim angekündigt und inzwischen hereingebrochen, die voraufgehende Wahrheit des Wortes nicht falsch, aber durch geistliches Verständnis ergänzt. ALLE BUCHSTABEN muß, soll das Zeichen sinnvoll sein, die anderen Lettern auf der Zeichen-Ebene immer ausschließen. Deshalb würde die Lehrerin Simone schimpfen, wollte die den Schriftzug durch Einfügen von X, Y usw. zerstören. Dieselbe Strenge war die Aufgabe von Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation. Wen hat er da nicht alles von der Tafel verscheucht! Wird er jetzt, als Papst, sich mehr auf die andere Pflicht konzentrieren, die ebenso unendlich wichtig ist (gleichrangig sind, wie in Gott selbst, so in der Geschichte das WORT und der GEIST): Simones geistliche Wahrheit zu lehren, daß ALLE BUCHSTABEN nicht nur diese wenigen bedeutet, sondern wirklich alle? Das Kirchenvolk ist vom Sturm des Heiligen Geistes längst gepackt, hat tief begriffen, daß der Sinn des Zeichens »Heil für alle in Christus« gerade nicht ist: Heil nur für alle, die dies glauben, sondern: für alle überhaupt.

Es geht also darum, den wahren Sinn der Evangelien zu erfassen. Weil der jetzt neu erfaßte Sinn aber auch, als solcher, gelehrt und verkündet werden muß, deshalb hatten die Spiritualen des Mittelalters nicht nur unrecht, wenn sie das Ewige Evangelium auch als neuen Buchstaben deuteten und verbreiten wollten. In überlieferter katholischer Glaubenssprache gesagt: Es gilt einzusehen, daß die Abfolge der drei trinitarischen Zeitalter sich als ganze innerhalb der WORT-Dimension ereignet. Nur ES hat sich in die Zeit eingesenkt, nur sofern Vater und Heiliger Lebensatem im WORT sind und sich deshalb in Worten und Buchstaben ausdrücken können, fügen ihre Offenbarungen sich zum dreieinigen Rhythmus der Heilsgeschichte. Gott Vater sprach zu Abraham und Mose; auch was der Heilige Geist der Kirche heute sagt, muß sie verständlich weitersagen. Nicht nur der Schriftzug ALLE BUCHSTABEN gehört an die Tafel, auch der ihn gegen monopolisierendes Mißverständnis schützende Satz »X, Y und Z sind echte Buchstaben.«

Wie bei der biologischen Evolution ist auch bei der spirituellen trotz mancher Stockungen, Sackgassen und Rückschritte im einzelnen doch die Richtung der Gesamtdynamik deutlich und unumkehrbar: hin zu bewußter Einheit ausdrücklich unterschiedener und aufeinander bezogener Teilvollzüge. Diese Einsicht Solowjows[»Wenn, erstens, die einzelnen Elemente einander nicht ausschließen, sondern im Gegenteil sich gegenseitig eines im anderen setzen, solidarisch untereinander sind; wenn sie zweitens das Ganze nicht ausschließen, sondern ihr Einzel-Dasein auf der einen allgemeinen Grundlage behaupten; wenn schließlich drittens diese all-einheitliche Grundlage oder der absolute Urgrund die Einzel-Elemente nicht unterdrückt und nicht absorbiert, sondern, sich in ihnen entfaltend, ihnen vollen Spielraum in sich gibt, dann ist ein solches Sein ideal oder würdig - das was sein soll« (Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew, Band 7 {Freiburg 1953}, 176)], von Teilhard de Chardin meisterhaft entfaltet, geht der Kirche nicht mehr verloren. Weil die Gegensätze nicht verschwinden, sich vielmehr verstärken, deshalb bleiben die Buchstaben des Wort-Zeitalters gültig. Weil ihren vollen Sinn nur alle zusammen ausdrücken, darum darf es hinter die schon erreichte geistliche Offenheit kein Zurück geben. In der Praxis wird es immer zu Konflikten kommen. Wie aus dem deutschen ALLE BUCHSTABEN das D und das L ausgeschlossen sind aber zum spanischen TODAS LAS LETRAS gehören, so schließt die eine »Kirchensprache« Hurerei und Homosexualität aus, erlaubt dagegen persönlichen Reichtum – während zur Basisgemeinde in einer Favela vielleicht Prostituierte und Schwule gehören, keinesfalls hingegen ein Fabrikant, der von seinem Einkommen nichts abgeben will. Welche Gemeinde ist näher bei Jesus? Gegensätzliche Sprachen – hoffentlich ein Sinn, der sie alle übersteigt!

Die Polarität Fleisch=Buchstabe / Geist ist elastisch anzuwenden. Zum Zeitalter des Vaters gehören im buchstäblich engsten Sinn die Juden, während Christen sich als geistliche Kinder Abrahams wissen (Röm 4,11). Gemeinsam ist beiden – wie auch Muslimen und Bahais – daß sie sich ausdrücklich auf DICH, Gott, bezogen glauben, der sich geschichtlich offenbart. Im weiteren Sinn ist dieser Glaube insgesamt ein ausdrücklicher, buchstäblicher, während auf geistliche Weise an ihm solche sogenannte »Gottlose« teilhaben, die existentiell dem Egoismus widersagen und sich vor einer Größeren Wirklichkeit wissen, die ihnen verbietet, Unrecht zu tun.

Zum Zeitalter des Sohnes gehören im buchstäblichen Sinn die Christen, die an Jesus glauben, geistlich alle, die im jeweiligen Nächsten den verbindlichen Sinn ihres Lebens erblicken, z.B. der jüdische Denker Levinas und mancher atheistische Arzt. Zum wahren »Dritten Reich« des Heiligen Atems schließlich gehört dem Geiste nach, wer sich atmend mit jedem Lebewesen ehrfurchtsvoll eins glaubt; buchstäblich, wer dieses Einssein durch Zeichen ausdrückt, solche vor allem, die den trennenden Buchstaben der um ihn her gültigen Ideologien widersprechen. Die Form dieser Zeichen kann sehr unterschiedlich sein. Als der Priester Gotthold Hasenhüttl beim Berliner ökumenischen Kirchentag auch die Evangelischen zur Kommunion einlud, spürten wir die Atmosphäre des Heiligen Geistes geradezu greifbar im Kirchenraum; in gegensätzlicher Symbolik wirkt derselbe Geist in Taizé, dort gibt es keine gemeinsame Kommunion, doch verbindet das gemeinsam bezeugte Leiden an der Spaltung die Glaubensgeschwister nicht weniger tief. Das Zeichen von Taizé widerspricht der entgrenzenden Kirchenvolks-Ideologie, das von Berlin der heilsmonopolisierenden kurialen; kein Zeichen »macht es«, doch bedeutet ihr friedliches Widereinander jene wahre Einheit der Kirche vor, die – weil Person – immer schon wirklicher ist und zusehends auch deutlicher wird als ihre Spaltungen.

8) Die Christenheit denkt um

a) Das Ziel: Die Option für den anderen

Viele hassen die Kirche. [Eine der sonderbarsten Blüten solchen Hasses - zum Glück reifte sie nicht zur Frucht - war der Vorschlag eines britischen Schriftstellers. "1943 erschien von [H.G.] Wells die Schrift ‚Crux Ansata', eine der merkwürdigsten Abrechnungen mit der katholischen Kirche, die je geschrieben wurden. Das Buch stellt die Frage, warum die britischen Luftstreitkräfte eigentlich bisher davon absahen, Rom zu bombardieren. Wells hielt einen Luftschlag gegen Rom für sinnvoll, ja für zwingend. Rom nämlich sei als Zentrum des Katholizismus einer der Brennpunkte des Weltübels: Rom habe das Christentum mit dem Aberglauben der etruskischen Priester gekreuzt, mit den düsteren Praktiken der Eingeweide-Schauer und -Wahrsager; Rom habe die blutigen Riten des Mithras-Kultes in die neue Welt hineingetragen. Und der Papst sei deshalb seit dem Beginn des Krieges der geschworene Verbündete der ‚Nazi-Faschisten-Schinto-Achse' gewesen, der Achse des bösen Aberglaubens ... ‚Ein gründliches Bombardement von Rom (à la Berlin) ist nicht nur wünschenswert, sondern notwendig'" (F.A.Z. 18.06.2005, S. 35).] Andere wollen ihr wohl, wie man eine Nachbarin schätzt, die manches Gute tut, nur leider ist sie durch ihre Lebensgeschichte voller Untaten dermaßen verkorkst, daß ohne tiefgreifende Therapie nichts Rechtes aus ihr werden kann. Dies ist tatsächlich die Situation der christlichen Kirche. Ihre Seele wird von Wunden gequält, die nach Heilung schreien. Die dürfen nicht länger vor den Gläubigen verheimlicht, von ihnen verdrängt werden.

Wie tief die Wunde schwärt, wurde mir kürzlich bitter klar bei der Anklage eines jüdischen Freundes: "Wenn eine mächtige Zivilisation eine Minderheit, die sich nicht wehren kann, Jahrhunderte lang immer wieder wegschiebt, entwürdigt, ermordet: Meinen Sie, das schade nur den Opfern? Glauben Sie nicht, daß es der Seele der Täter Wunden schlägt, die zu heilen auch wieder Jahrhunderte braucht? Ihr seid doch krank, zuinnerst versehrt, und merkt es nicht!"

Doch, wir beginnen es zu merken. Und die Verbrechen an den Juden sind nicht die einzigen. Was haben "Christen" aus dem alten Europa den Indianern der Neuen Welt angetan! Und später den aus Afrika geraubten Schwarzen. All das ist bekannt; nicht umsonst wird das kirchliche Selbstlob "ein Haus voll Glorie schauet" - außer bei Kirchweihjubiläen - kaum mehr gesungen.

Das kirchliche Schuldbekenntnis, mit dem Papst Johannes Paul II. und seine Kardinäle - einige angeblich zähneknirschend - im Frühling 2000 in St. Peter für die offiziell gebilligten oder gar angeordneten Sünden der Vergangenheit um Verzeihung baten, war ein einmaliger Ritus und reicht nicht tief genug. Mit Recht bemängelt Hans Küng [im Oktober 2003 im Internet]: "Nur für die Verfehlungen der ‚Söhne und Töchter der Kirche' bat er um Vergebung, nicht für die der ‚heiligen Väter' und der ‚Kirche selbst'. Folgen: Das halbherzige Bekenntnis hat keine Folgen. Keine Umkehr, nur Worte, keine Taten. Statt nach dem Kompass des Evangeliums, der angesichts der Fehlentwicklungen in Richtung Freiheit, Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit weist, richtet man sich in Rom noch immer nach dem mittelalterlichen Recht, das statt einer Frohbotschaft eine anachronistische Drohbotschaft mit Dekreten, Katechismen und Sanktionen bietet."

Das klingt nach Bürokratiekritik, wie sie allenthalben zu hören ist. Doch in unserem Zusammenhang "liegen die Dinge tiefer", und anders als der von Eugen Roth aufgespießte Weise

[Ein Mensch, den wüst ein Unmensch quälte,
Der lang und breit ihm was erzählte
Und der drauf, zu erfahren, zielte,
Was er, der Mensch, wohl davon hielte,
Sprach, kratzend sich am Unterkiefer:
"Ich glaub, die Dinge liegen tiefer!"

Gestürzt in einen Streit, verworrn,
Der, nutzlos, anhub stets von vorn,
Bat er, sich räuspernd, zu erwägen,
Ob nicht die Dinge tiefer lägen.

Ja, selbst den Redner auf der Bühne
Trieb, zwischenrufend, dieser Kühne
Vor seines Geistes scharfe Klinge:
"Es liegen tiefer wohl die Dinge!"

Der Mensch hat, ohne je den Leuten
Die Tiefen auch nur anzudeuten,
Es nur durch dieses Wortes Macht
Zum Ruhm des Weisen längst gebracht.]

können wir, dank Joachim von Fiore, auch sagen, wo und wie: Im Geschichtsleib der Kirche wütet wegen ihrer Haltung zu Juden und Heidenvölkern von Anfang an ein unchristlicher Parasit, und das nicht nur in äußeren Organen sondern im Gehirn selber, wo er das zentrale Selbstverständnis-Programm fälscht. Es ist so: Allen "anderen", Juden wie "Heiden", hat das Christentum seit jeher ihr Existenzrecht vor Gott abgesprochen, außer jemand bekehrt sich zum Glauben an Gottes Offenbarung in Christus. Beide Urteile wurden im zweiten Vaticanum umgestoßen. Eine Institution aber, die ihren eigenen Ursprung von Beginn an total mißversteht, darf nicht die Radikalität der Bekehrung verkennen, die ihr zugemutet ist. Es geht um alles.

Als Gläubige schreiben wir das besser so: Es geht um ALLES. Kein irdisch-endliches Umdenken ereignet sich, sondern eben der von Joachim vorausgesagte Einbruch des Heiligen Geistes in die Weltgeschichte. Mit jenem "Katholizismus", von dem die Geister des Zweiten Zeitalters so gern sprachen, ist es mehr und mehr vorbei, das Wort hat ausgedient. Die Christenheit ist dabei, ihre Grundsünde gegen die Juden und übrigen Völker zu bereuen, verweigert nicht die spirituelle Therapie und nimmt dankbar die göttliche Verzeihung an, die sie von ganz innen her erneuert.

Von Indiogruppen stammen die folgenden Sätze; blitzartig erleuchten sie die alte Finsternis: "Die Indios heißen die Ärmsten der Armen. Den Armen hat immer die Vorliebe der Kirche gegolten. Der Andere aber, der Andersdenkende oder kulturell Andere wurde von ihr nie angenommen; er war und ist ein Feind der Kirche. So muß zur Option für den Armen heute die Option für den Anderen kommen."

Das ist die treffende Formel. Fast zweitausend Jahre ist das Christentum alt und findet erst jetzt, in Lateinamerika, diesen Begriff, der doch aus seinem Wesen notwendig folgt. Er benennt den Übergang vom Kreisdenken des Zweiten zum Ellipse-Glauben des Dritten Zeitalters. Im Großen wird hoffentlich Papst Benedikt der Menschheit diesen Heilsweg weisen, im Kleinen frage sich jeder selbst, wie die geforderte Vorliebe für den Anderen sich im eigenen Alltag verwirklichen soll. Behandeln Eltern ihr Kind als ein Stück von sich oder als unableitbar Ursprünglich-Neues? Läßt die Vorgesetzte ihren Mitarbeiter spüren, daß seine Sicht eine gleichwertige Blüte ist, auch wenn sie wegen der Enge am Zweig nicht zur Frucht reifen kann? Dein Anderer war ich, und du hast meine Würde geachtet: So vernommen, ist das Evangelium die Prüflampe für den Sinnstrom unserer Tage. Wo jemand wirklich lebt, da leuchtet sie auf.

b) Wider die Tyrannei des Buchstabens

Wie der stolze Pharisäer Paulus beim Rückblick vom Zweiten auf den Ersten Status (Röm 7), so erkennen wir heutigen Christen erst bei der Rückschau vom Dritten auf den Zweiten Status, wie schlimm es um uns stünde, wenn wir (von den anders gläubig Bleibenden ist nicht die Rede!) uns dem Neuen Licht verweigerten, und danken dem Heiligen Geist dafür. Macht nicht die christliche Ego-Verhaftung, die Ablehnung des Menschheits-Wir durch das - den Erlöser monopolisierende - Kirchen-Ich den Kern jenes "Komplotts der Kirche gegen die Menschheit" aus, von dem der Zeitgeist so überzeugt ist, daß ein unsäglicher Schinken wie "Der Da-Vinci-Code" millionenfach auf die Bestsellerlisten vordringt? Da wird der Kirche eben das vorgehalten, daß sie dem organisier- und kontrollierbaren Buchstaben ihrer Christus-Lehre deren geistlichen Sinn, Jesu unbegrenzte Liebesbotschaft, schlau geopfert hat. Christen wissen, daß dies nur die finstere Seite derselben Medaille ist, die anderseits helles Licht in die Welt gestrahlt hat. Sie haben aber jetzt, im begonnenen Zeitalter des Heiligen Geistes, keinen Grund mehr, jene finstere Seite zu verdrängen, die im Thriller der Gral-Forscher Teabing (der zuletzt selbst als Finsterling entlarvt wird) genüßlich ausbreitet:

"Durch die offizielle Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes hatte Konstantin einen Gott geschaffen, der über der Welt der Menschen schwebte und dessen Macht nicht mehr zur Diskussion stand. Damit war nicht nur allen heidnischen Angriffen auf das Christentum ein Riegel vorgeschoben, auch die Christen selbst konnten den Weg des Heils von nun an nur noch innerhalb der römisch-katholischen Kirche beschreiten ... Im Grunde ging es nur um die Macht. Christus weiterhin als Messias gelten zu lassen war für Kirche und Staat zu bedenklich. Viele Kenner dieser Materie sind der A\nsicht, dass die angehende römisch-katholische Staatskirche den Urchristen Jesus gleichsam geraubt hat, indem sie über seine diesseitige Botschaft der Nächstenliebe und Menschlichkeit den undurchdringlichen Mantel einer jenseitigen Göttlichkeit breitete, um auf diese Weise ungestört ihren weltlichen Machenschaften nachgehen zu können." [Dan Brown, Sakrileg (Bergisch Gladbach 2003), 321]

So ungefähr war es. Auch. Aber tief im Buchstaben jener verfaßten und von der Macht mißbrauchten Kirche verborgen, glüht von Anfang an das Feuer des all-heilenden Pfingstgeistes. Joachim nennt den Zweiten Status die Zeit, "in der man zwischen beiden lebte, d.h. zwischen Fleisch und Geist, nämlich bis zu unseren Tagen." [Joachim von Fiore, Das Reich des Heiligen Geistes (hgg. v. Alfons Rosenberg, München-Planegg 1955), 85]

[Als Gegensatz zum Geist verschwimmen Fleisch und Buchstabe für Joachim zu einem: zwar von Gott, doch gefährdet und unheil, solange sie sich nicht vom Geist relativieren lassen: "Wenn die Worte, wie ich schon sagte, geistlich sind, verlangen sie ein geistliches und belebendes Verständnis. Denn geistlich muß verstanden werden, was geistlich gesagt wird. Etliches ist vom Herrn Christus geschrieben, was niemals gesund verstanden werden kann, wenn man es nicht auf seinen Leib, der wir sind, bezieht. Denn nicht seinet- sondern unseretwegen hat der Sohn Gottes sich gewürdigt, Mensch zu werden. Hören wir also, was er selbst über fleischlich verstandene Worte sagt: ‚Der Geist ist es, der lebendig macht, denn das Fleisch nützt nichts.' Und der Apostel: ‚Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.' Achten wir also geistlich auf das, was geistlich gesagt ist, und wie aufbaut, wenn man es geistlich auflöst, was fleischlich aufgefaßt närrisch ist." (Abbot Joachim of Fiore, Liber de Concordia Noui ac Veteris Testamenti (Ausgabe Randolph Daniel, Philadelphia 1983), 234 f)]

Kindisch wäre es, mit einem plötzlichen Ende dieser Zeit zu rechnen. Es gilt, immer "im Auge zu behalten, daß diese drei Zustände nicht voneinander geschieden, sondern miteinander verknüpft sind ... daß die Geschichte nicht sprunghaft, sondern schrittweise, in sich überschneidenden Stufen verläuft." [Robert E. Lerner, Artikel "Joachim von Fiore", TRE 17 (1988), 86] Wer den geistlichen Zustand, statt ihn jeweils senkrecht von der dritten Dimension aus wirken zu lassen, gewaltsam durch waagrechte Strukturveränderung erzwingen will, wird wieder so scheitern wie die revolutionären Franziskanerspiritualen im dreizehnten und die Kommunisten im zwanzigsten Jahrhundert. Beide strebten ursprünglich nach demselben Ideal: "nach der Verteidigung der Großen Lehre, die auf Erden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen sollte. Bevor diese Lehre sich Sozialismus nannte, hatte sie im Mittelalter den Namen ‚Ewiges Evangelium'." So faßte 1859 ein christlicher Sozialist den heißen Atem eines halben Jahrtausends zusammen. [C. Desmoulins, zitiert von Gould & Reeves, 121] Von dem war auch Heinrich Heine ergriffen - vielleicht ohne von Joachims Namen je gehört zu haben. Die Sache war ihm nicht fremd. Im Gedicht "Bergidylle" antwortet er einem fragenden Kind.


Auch bezweifl' ich, daß du glaubest,
Was so rechter Glauben heißt -
Glaubst wohl nicht an Gott den Vater,
An den Sohn und Heil'gen Geist?"

"Ach, mein Kindchen, schon als Knabe,
Als ich saß auf Mutters Schoß,
Glaubte ich an Gott den Vater,
Der da waltet gut und groß;

Der die schöne Erd' erschaffen,
Und die schönen Menschen drauf,
Der den Sonnen, Monden, Sternen
Vorgezeichnet ihren Lauf.

Als ich größer wurde, Kindchen,
Noch viel mehr begriff ich schon,
Ich begriff, und ward vernünftig,
Und ich glaub auch an den Sohn;

An den lieben Sohn, der liebend
Uns die Liebe offenbart,
Und zum Lohne, wie gebräuchlich,
Von dem Volk gekreuzigt ward.

Jetzo, da ich ausgewachsen,
Viel gelesen, viel gereist,
Schwillt mein Herz, und ganz von Herzen
Glaub ich an den Heil'gen Geist.

Dieser tat die größten Wunder,
Und viel größre tut er noch;
Er zerbrach die Zwingherrnburgen,
Und zerbrach des Knechtes Joch.

Alte Todeswunden heilt er,
Und erneut das alte Recht:
Alle Menschen, gleichgeboren,
Sind ein adliges Geschlecht.

Er verscheucht die bösen Nebel
Und das dunkle Hirngespinst,
Das uns Lieb' und Lust verleidet,
Tag und Nacht uns angegrinst.

Tausend Ritter, wohlgewappnet,
Hat der Heil'ge Geist erwählt,
Seinen Willen zu erfüllen,
Und er hat sie mutbeseelt.

Ihre teuern Schwerter blitzen,
Ihre guten Banner wehn!
Ei, du möchtest wohl, mein Kindchen,
Solche stolze Ritter sehn?

Nun, so schau mich an, mein Kindchen,
Küsse mich und schaue dreist;
Denn ich selber bin ein solcher
Ritter von dem Heil'gen Geist."

Den Kampf zwischen bloß fleischlichem Buchstaben und Heiligem Geist müssen wir geduldig weiterkämpfen, mit den Waffen des Geistes aber, andernfalls ergibt sich nur eine weitere Variante des Zweiten Zustands, keine Zunahme des Dritten.

c) Geht der Hirt voran?

Nach der Wahl Benedikts XVI. zum neuen Papst hatte man in Südeuropa Spaß an einem Sprachspiel. »Pastor alemán« heißt auf spanisch, »pastore tedesco« auf italienisch nicht nur »deutscher Hirt« sondern auch »Deutscher Schäferhund«. Der bisher als Präfekt der Glaubenskongregation die schützende Grenze um die Herde herum zu bewachen hatte, ist nun als Brücken bauender Pontifex nicht nur für seine Herde verantwortlich, sondern ebenso für den christlichen Beitrag zum Glauben der unzähligen anderen, und auch für die lernbereite Offenheit seiner Schutzbefohlenen gegenüber fremden Wahrheiten. Übermenschliche Aufgabe! Kann der folgende Sprachvorschlag die Klarheit befördern?

Unterscheiden wir katholische Lehre und kat-holisches Denken. Die katholische Lehre enthält all das, was sich in einem langen Geschichtsprozeß als Glaube der Kirche herausgebildet hat und was, wenn jemand ihm zustimmt und danach zu leben sich müht, ihn zu dem macht, was man einen guten Katholiken nennt. Solche Menschen leben, im Vaterhaus mit den vielen Wohnungen, sozusagen in der katholischen Hauptwohnung. Die in ihr geltende Ordnung enthält zwar reiche Differenzierungen, jedoch keine direkten Widersprüche; solche würden ein offizielles Regelwerk innerlich zerstören und einverständliches Zusammenleben unmöglich machen. Die katholische Lehre ist ein für das Wohl der Menschheit notwendiges Wahrheits-Organ, es umfaßt das, was Kardinal Ratzinger den »Glauben der Kirche« nannte, den er im Weltkatechismus darstellen wollte.

Zu diesem Glauben gehört z.B. auch das Menschwerdungsdogma von Chalkedon. Weil die Theologen Tamayo [Juan José Tamayo, Jesús y Dios (editorial Trotta, Madrid 2002)], 176)] in Madrid und Haight [Roger Haight, JESUS Symbol of God (Orbis Books, Maryknoll NY 1999)] in den USA es neu hinterfragen, wurden sie von der Glaubenskongregation gemaßregelt. Haight macht auf die Gegensätze schon der urkirchlichen Christologien aufmerksam: »Dieser Pluralismus liegt an der Oberfläche der neutestamentlichen Schriften. Die verschiedenen Verfasser und Gemeinschaften sagen nicht alle dasselbe über Jesus. Man wundert sich heute, warum die bemerkenswerten Deutungsunterschiede in der klassischen Christologie nicht beachtet oder beleuchtet wurden, wo sie heute doch so offenkundig sind. Geschichtsbewußtheit hat unsere Aufmerksamkeit für Unterschiede zwischen den Verfassern des Neuen Testaments geschärft [153] ... An gewissen Punkten widersprechen diese Christologien einander. Tatsächlich kann man hingegen alle neutestamentlichen Christologien zusammen halten. Dies ist genau deshalb so, weil sie symbolische Behauptungen sind, über transzendente Aspekte Jesu Christi, erfaßt aus verschiedenen Perspektiven, ohne daß sie ihren Gegenstand adäquat ‚enthielten'.« [181]

Auch Hans Küng, der das Unfehlbarkeitsdogma in Frage stellt, »hat sich weiter vom Glauben der Kirche entfernt« [Ratzinger, Salz der Erde, S. 102]. Dessen Verständnis ist allerdings nicht immer gleich. Daß es wachse, darum hat das I. Vatikanische Konzil gebetet (D 1800). Kann es wachsen, dann war manches an ihm früher noch nicht entfaltet, zum Beispiel in den Vierziger Jahren die großartige kosmische Glaubenssicht des Jesuiten Teilhard de Chardin, den bis zu seinem Tode 1955 ein römisches Veröffentlichungsverbot plagte, 1967 hat Ratzinger ihn in seiner Tübinger Vorlesung hoch gelobt [(E 191-194). Berühmt ist Teilhards Gespräch mit einem Freund. »Aber Pater, Ihre Oberen, das sind doch Deppen! [des imbéciles]« - »Bien sûr, aber diese Deppen sind meine Oberen.«].

Hätte es in der Kirche immer nur die jeweils gültige katholische Lehre gegeben, so wäre die Catholica längst zur Sekte geschrumpft und aus der Geschichte verschwunden. Es gab jedoch stets auch eine Unsumme grenzüberschreitender Charismen, die miteinander das kat-holische Denken bildeten und bilden. Im Begriff »kat-holisch« steckt das griechische »holon« = »ganz«, welches auch dem Hologramm früherer Scheckkarten die Tiefenschärfe ermöglichte. Ein reicher Kranz kat-holischer Nebenwohnungen umgibt die katholische Hauptwohnung und strahlt immer wieder neue Glaubwürdigkeit in sie, ohne jene wäre diese ein sektiererisch enges Gelaß.

Aus einer der blühenden »Neuen geistlichen Bewegungen«, die der verstorbene Papst so gefördert hat, stammt sein spanisches Lieblingslied »Menschenfischer« (polnisch: »Barka«), auch ich weiß es ergriffen zu singen. »Herr, du hast mir in die Augen geschaut, lächelnd hast du meinen Namen gesagt. Im Sand hab’ ich mein Boot gelassen, zusammen mit dir such’ ich ein andres Meer.« Das scheint manchen kitschig, mir wahr, schön und christlich. Doch ist jenes andre Meer weit, viel weiter, als der Normalkatholik sich vorstellen kann, es gibt da fremde Inseln, wo auch von Gott geliebte Menschen wohnen: Homosexuelle (sind sie nicht geschaffen?); Geschiedene, die dem ihnen vom Himmel bestimmten Partner erst nach Umwegen begegnet sind; Brückenmenschen hin zu anderen Glaubensformen, wenn sie um des Friedens willen bestimmte katholische Lehren bewußt im Hintergrund lassen.

Im offenbarten Sinn wahr ist das Katholische nur, wenn und weil es sich kat-holisch stets auch auf anderes bezieht. Täte es das nicht, würde die Rede von einer Milliarde Katholiken aus einer statistischen zur glatten Lüge. Wird Papst Benedikt beiden Aufgaben gerecht werden können: den guten Katholiken ihren Glauben zu stärken und die gut kat-holisch Fühlenden spürbar als wichtige Mitarbeiter zu schätzen? Daran liegt viel.

Denn so, wie die Kirche vor der Öffentlichkeit dasteht, darf sie nicht bleiben. Dieses Allein-recht-haben-Wollen ist den Menschen unerträglich. Wer alle anderen Glaubensweisen und Lebensformen schlechtredet, nur das Eigene als vollwertig gelten läßt – obwohl jeder weiß, welche Scheußlichkeiten in den vergangenen anderthalb Jahrtausenden mit kirchlicher Billigung verübt worden sind: wer sich dermaßen lächerlich aufspreizt, den nimmt man nicht mehr ernst. Dauernd von »Gott«, »Liebe«, »Wahrheit« reden und zugleich den allermeisten Mitmenschen heillosen Irrtum vorwerfen, all denen nämlich, die nicht zu den »guten Katholiken« gehören – das ist ein so schreiender Widerspruch, daß er die ganze angeblich frohe Botschaft der Kirche entwertet. Man hört nicht mehr hin.

Dürfen unkatholische Lehren auch innerhalb der Kirche gelehrt werden, gar mit kirchlichem Sold? Warum nicht? Ohne ihre anders gläubigen Katholiken wäre die Kirche arm dran, spirituell wie finanziell. Jene »einfachen Gläubigen«, deren Schutz Kardinal Ratzinger als seinen Auftrag wußte, finden sich nicht nur im katholischen Pferch. Als Pontifex darf er auch die da draußen nicht vernachlässigen. Auch sie haben Anspruch auf eine durchreflektierte Gestalt ihres Glaubens. Gewiß sollen Dogmenhüter ihren katholischen Kommentar dazu geben, nicht administrativ jedoch sondern argumentativ. Nur so wächst neuer, reiferer Konsens und dadurch das Glaubensverständnis der ganzen Kirche.

Fassen wir das Erreichte zusammen. Der Schritt vom Ersten Zeitalter zum Zweiten war - anders als bislang in der Kirche gelehrt und gemeint - keine Ablösung, sondern Erfüllung und Wachstum eines neuen Zweiges neben dem alten. So macht auch der aktuelle Schritt vom Zweiten Zeitalter zum Dritten keineswegs Schluß mit der Buchstabenkirche, sondern öffnet - öffentlich! - ihr (und durch sie möglichst aller) Verständnis für den wahren SINN dieser Buchstaben: HEIL FÜR ALLE IN CHRISTUS. Neben der organisierten Kirche, die für die Reinheit dieser Botschaft verantwortlich ist, wächst ein neuer geistlicher Zweig: die Gemeinschaft all derer, welche die grenzenlose Wahrheit der Bedeutung dieser Botschaft glauben oder wenigstens hoffen: Heil für alle, auch solche, die inhaltlich nicht glauben können, daß sie es gerade in Jesus Christus finden.

Gemäß dem Sinn, den (in meiner Deutung) Joachims Einsicht für die Kirche von heute hat, heißt es drei ineinandergreifende Phasen der göttlichen Offenbarung unterscheiden: 1) Offenbarung des Vaters: Berufung Israels in Abraham und Mose. Das Unendliche zeigt sich einem Volk als der/die Unendliche. 2) Offenbarung des Sohnes: Das erwählte Israel konkretisiert sich in Jesus Christus und den an ihn Glaubenden aus allen Völkern, uns Christen. 3) Offenbarung des Heiligen Geistes: Neues Pfingsten, von Papst Johannes XXIII. bei der Ankündigung des Konzils erhofft und in dessen Verlauf von uns erlebt, auch vom Mitakteur Joseph Ratzinger. Öffentlich anerkannt wird die Ausweitung des jüdisch-christlichen Heils auf alle Menschen, die es existentiell annehmen, unabhängig davon, wie sie ihren Glauben inhaltlich ausdrücken. Nicht wenige haben aufgrund ihrer geistigen Herkunft oder negativer Erfahrungen subjektiv gute Gründe, nicht an den vom Klerus verkündeten Christus zu glauben.

Wie wir gesehen haben, schrieb der neue Papst Benedikt XVI. 1960 drei inzwischen aufschlußreiche Einzelheiten über Joachim:
a) Er nannte ihn "selig".
b) Seine Werke enthalten keine "antihierarchische Spitze": Die Neue Zeit "wird nicht ohne Bischöfe sein".
c) Schon seit dem heiligen Benedikt läuft die Initiation, der Auftakt des Dritten Zeitalters.

In seiner Habilitationsarbeit [Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura (St. Ottilien 1992), 15] hatte Ratzinger über das Denken des heiligen Franziskaneroberen Bonaventura (+1274) festgestellt: "Hier wird eine neue innerweltliche, innergeschichtliche messianische Hoffnung erhoben, hier wird bestritten, daß mit Christus das Höchstmaß innergeschichtlicher Erfüllung schon gegeben sei und nur noch die eschatologische Hoffnung auf das bleibe, was nach aller Geschichte liegt. Bonaventura glaubt an ein neues Heil in der Geschichte, innerhalb der Grenzen dieser Weltzeit." Das Wesen der Botschaft aus San Giovanni di Fiore erschien dem Professor 1959 mithin rechtgläubig. Dreißig Jahre danach sagte der Kardinal im schon zitierten Interview: "We must not allow people to believe there can be a better life on earth than this one." Da schien Joachims Stimme ihm eher verdächtig.

Ausgewogen urteilt Kardinal Ratzinger 1992 im neuen Vorwort zum Bonaventura-Buch: "Die Frage, ob man als Christ an eine Art von innerweltlicher Vollendung denken könne, ob so etwas wie eine christliche Utopie, eine Synthese von Utopie und Eschatologie möglich sei, kann man vielleicht geradezu als den theologischen Kern der Debatte um die Befreiungstheologie bezeichnen. Nicht zufällig verbindet sich damit wieder ein Disput, wie weit den Orden (besonders den Bettelorden) als Trägern der pneumatologischen Komponente christlicher Existenz im Zugehen auf eine solche neue Geschichtsstunde eine besondere Bedeutung eigne; auch die Frage nach dem Verhältnis von Christus und Geist, nach einem trinitarischen Rhythmus der Geschichte und nach einer pneumatologisch bestimmten Kirchengestalt ist damit verknüpft. So können wir den Streit, in dem Bonaventura stand, in mancher Hinsicht wieder besser verstehen. Heute wie damals ist dies kein rein akademischer Disput, sondern ein Ringen darum, wie Geschichte recht gestaltet werden kann und wie sie verdorben wird. Bonaventura hat dabei, wie dies Buch zu zeigen versucht, eine sehr differenzierte Position eingenommen und das Denken Joachims keineswegs global verdammt. Er war freilich unerbittlich in der Ablehnung von Bestrebungen, die Christus und Geist, christologisch-sakramental geordnete Kirche und pneumatologisch-prophetische Kirche der neuen Armen zu teilen versuchten und dabei in Anspruch nahmen, Utopie durch ihre Lebensform selbst vergegenwärtigen zu können."

Das entscheidende Wort scheint mir hier "teilen". In Buchstaben- und Geistkirche zerteilen darf man das Neue Volk Gottes nicht, so wenig in der Schulklasse die schön an die Tafel malende Gudrun und die den Sinn erfassende Simone zwei streitenden Parteien angehören. Beide brauchen einander; sinnloser Buchstabe wäre tot und tötend, buchstabenloser Sinn hätte in der Welt keinen Ort. Wofern unser Verständnis an der untrennbaren Einheit aller Offenbarungsphasen des einen Gottes festhält, darf "die Frage nach dem Verhältnis von Christus und Geist, nach einem trinitarischen Rhythmus der Geschichte" offenbleiben und - so glaube ich - auch in Joachims Sinn beantwortet werden.

»Gläubige schauen weiterhin nach Zeichen aus; sie versuchen, die Geschehnisse ihrer Zeit in einen weiteren Rahmen zu stellen; sie bestehen darauf, sich von umfassenden Visionen der Geschichte bewegen zu lassen. Die Hoffnung auf beständigeren Frieden sowohl innerhalb als auch jenseits dieser Welt bleibt nach wie vor ein Teil des christlichen Erbes. Das Fortbestehen dieser Anliegen, die Ähnlichkeit der gegebenen Antworten ist zumindest eine Schnittstelle zwischen unserer aktuellen Situation und der apokalyptischen Geschichtstheologie, die wir bei Joachim und Bonaventura finden« [Bernard McGinn, The Calabrian Abbot. Joachim of Fiore in the History of Western Thought (New York/London 1985), 224].

Wie wird der Papst sich verhalten? Wird der Oberhirt der Buchstabenkirche des Zweiten Zeitalters, verantwortlich für die treue Weitergabe der Inschrift HEIL FÜR ALLE IN CHRISTUS, öffentlich spürbar zusammenarbeiten mit allen lebendigen Gliedern des Dritten göttlichen Reiches der HEILIGEN GISCHT?

Nürnberg, Oktober 2005

Eine italienische Kurzfassung dieser Gedanken wurde veröffentlicht in der Zeitschrift "Abate Gioacchino" (Cosenza) Anno II - Numero 4 Giugno 2005, p. 57-59, mit entaktualisiertem Titel und Schlußsatz.

8. Januar 2006

[Nachtrag im Mai 2006]

Als Papst hat Benedikt XVI. ein ebenso verschlüsseltes wie erstaunliches »joachimitisches« Zeichen gesetzt, und zwar in seiner Rede an die Kurie am 22. Dezember 2005. Beim Thema Konzil wandte er sich gegen eine "Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches", die habe "sich nicht selten das Wohlwollen der Massenmedien und auch eines Teiles der modernen Theologie zunutze machen können. Auf der anderen Seite gibt es die ‚Hermeneutik der Reform’, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität; die Kirche ist ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf seinem Weg ... Genau in diesem Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen liegt die Natur der wahren Reform."

Der Satz verbirgt ein Zitat, das es in sich hat. Am 20. Oktober 1953 hielt der evangelische Exeget E.Käsemann eine Rede, die berühmt wurde. Ihr Kernsatz hieß: "Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten" [zitiert von Balthasar, Theodramatik II/2,71]. Daß der Papst - unauffällig aber deutlich - das Verhältnis des jüdischen Rabbi Jeschua zum Christus unseres Glaubens mit dem der vorkonziliaren zur nachkonziliaren Kirche parallelisiert, läßt mich hoffen, er werde zur später verblaßten Einsicht seiner Jugend zurückfinden, als er Joachim von Fiore selig nannte und den heiligen Bonaventura an ein neues Heil in der Geschichte, innerhalb der Grenzen dieser Weltzeit, glauben ließ. Wir leben seit Jahrzehnten in einer ausgesprochen pfingstlichen Epoche, das Gebet von Papst Johannes dem Guten um ein Neues Pfingsten erfüllt sich. Gottes WORT ist stets dasselbe, und doch geschah vor zweitausend Jahren seine Neue Offenbarung. Gottes Heilige GISCHT ist stets dieselbe, und doch ereignet sich in unserer Lebenszeit ihr neues Aufquellen zur Heilung der Welt. VENI SANCTE SPIRITUS FLECTE QUOD EST RIGIDUM !

[Nachtrag im Juni 2011]

Seit achthundert Jahren bemüht das Erzbistum Cosenza sich um die Heiligsprechung des Pneuma-Propheten. Jetzt ist dort eine prachtvolle Festschrift erschienen. Auf den Seiten 64 & 65 unten [Seitenzahlen oben] findet sich mein Essay über Ratzinger = Joachimit; am 30. März 2011 hat man dem Papst das Heft geschenkt. Deutsche Fassung.


Aus diesen Gedanken sollte ein spannendes Buch werden. Verlage, meldet euch!
Hier ist ein Angebot für Freunde meiner Internet-Gedanken: Auf einer CD habe ich unter dem Titel "Christliches Stereo-Denken" alles, was auf verschiedenen Servern veröffentlicht ist, zusammengestellt und intern verknüpft sowie mit Bildern und Liedern angereichert. Außerdem sind sechs Bücher im WORD-Format dort zu lesen (die elektronischen Bücher Nr. 2,5,6,7,10 der Liste). Im Ganzen meldet der Rechner fast tausend Dateien. Ein Teil der Ernte von über vierzig Jahren Theologie steht zur Verfügung und kostet nur 8,50 Euro + Porto, insgesamt unter zehn Euro. Für Religionslehrer, Pfarrer und andere Profis eine Fundgrube, für deren Freunde eine sinnige Geschenk-Idee. Bestellungen bitte direkt an mich, um Verwechslung mit dem Müll zu vermeiden bitte mit klarem Betreff: CD-Bestellung. Seit Anfang Dezember 2004 ist die neue Auflage mit allem bisher im Netz Veröffentlichten verfügbar, jetzt samt Nachtrag Mai 2006.


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/joachim.htm

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