Jürgen Kuhlmann: Kat-holische Gedanken

Kampf oder Versöhnung der Heilsbilder?

Ökumenische Gedanken beim Gang durch die Luther-Ausstellung in Nürnberg


"Martin Luther und die Reformation in Deutschland", so heißt die Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg (25. Juni bis 25. September 1983); denselben Titel trägt der prächtige Katalog. 22 Fachleute haben daran mitgearbeitet. Der folgende Beitrag ist keine Gesamtrezension. Vielmehr bin ich in diesen schönen Räumen mit ihren ehrwürdigen Sinnentwürfen auf einige - ineinander verschränkte - geistliche Spannungen gestoßen. Sie seien unser Thema; die Zahlen verweisen auf die Nummern der Ausstellungsstücke sowie die Texte zu ihnen im Katalog.

I. Die gegensätzlichen Bilder

In der Volksfrömmigkeit des katholischen Mittelalters gab es ein System gestufter Gnadenvermittlung. Die sog. "Heilstreppe" wird anschaulich auf einem Ulmer Bild von 1520. (42) Unten umfängt Maria mit ihrem Schutzmantel die Stände der Menschheit, angeführt von Papst und Kaiser, während sie zugleich auf ihre Brust weist. Ihr Sohn, dem diese Geste gilt, zeigt oben dem Vater seine Wunden, daraufhin werden die von Gottes Zorn ausgesandten Pestpfeile geknickt. Auf einem Grabbild von 1370 verdeutlichen Spruchbänder diese doppelte Vermittlung. Dieter Koepplin (Basel) erläutert im Katalog: "Als Hauptfiguren stehen Maria und Christus vor uns. Ihre Fürbitte verspricht nicht nur dem verstorbenen Arzt Mengot, sondern ideell allen andächtigen Betrachtern des Bildes Begnadigung. Friedrich Mengot, gewesener Arzt des Burggrafen Friedrich V. von Nürnberg und der Heilsbronner Mönche, stellt sich zunächst in den Schutz der Maria. Er betet kniend und sagt auf einem Schriftband: ‚Ich bitte dich, barmherzige Jungfrau Maria, verteidige mich jetzt' (der Begriff des ‚defendere', des Verteidigens, scheint bewußt der Gerichtssprache entnommen zu sein und bezieht sich auf das Gericht nach dem Tod). Maria zeigt ihre entblößte Brust und spricht zu Christus: ‚Weil du an dieser Brust gesogen hast, mein Sohn, erbitte ich Gnade für jenen' (in meinen Schutz sich Stellenden). In formaler Analogie zur Geste der Maria weist Christus auf seine Seitenwunde und wendet sich an Gottvater, dessen Kopf und Hände aus Wolken herausragen: ‚Anerkenne, mein Vater, dies (meine Sühneleistung) und gewähre, um was meine Mutter bittet'. Gottvater erklärt: ‚Was du auch verlangst, ich werde es dir zugeben und dir nichts verweigern'." (446)

Drastischer und um die kirchliche Vermittlungsinstanz erweitert, findet dasselbe Motiv sich auf dem Titelholzschnitt des Buches "Der Seelen Trost" von 1509: Der Meßkelch, den ein priesterlicher Engel hält, um ihn ins Fegfeuer zu gießen, wird von links her mit einem Milchstrahl aus Mariens Brust gefüllt, von rechts mit einem Blutstrahl aus Christi Seitenwunde. Dazu heißt es im Katalog: "Vor allem entsetzte sich Luther darüber, daß die spätmittelalterliche Theologie und Kunst auf die Idee kommen konnten, die aus der Brust der Maria fließende Milch mit Christi Blut zu parallelisieren und in denselben kirchlichen Kelch einfließen zu lassen, damit in den Seelenmessen durch Blut und Milch, Christi und Marias Verdienste, den Seelen ihre Qual im Fegfeuer verkürzt und der Zorn Gottvaters über die Sünder besänftigt würden ... Luther: Aber ich mag Mariens Brüste noch Milch nicht; denn sie hat mich nicht erlöset, noch selig gemacht!" (452)

Alle Zwischeninstanzen zwischen dem Menschen und seinem Gott sind Luther ein Greuel. Christus hat unserem Herzen durch seinen Tod einen unmittelbaren Zugang zur göttlichen Liebe erschlossen, seither braucht es weder verdinglichte Gnadenmittel der Kirche noch das Eintreten Mariens. Beides gehörte damals zusammen, die alte Kirche schlachtete des Volkes Andacht zu Maria weidlich aus. Seit 1519 gab es in Regensburg, nach einer Judenaustreibung, die Wallfahrt zur "Schönen Maria". Sie war ein großer Erfolg; 1520 wurden 109198 bleierne und 9763 silberne Abzeichen an die Pilger verkauft (83). 1523 äußerte Luther sich in einem Brief an den Rat von Regensburg überaus kritisch: "Das Evangelium kann nicht schön werden, die schöne Maria werde denn häßlich." (85)

Luthers eigene Sicht wird auf evangelischen Bildern deutlich. Unmittelbar dringt der Blutstrahl aus Christi Herz in Adams Herz; Maria ist nicht Mittlerin, sondern gleich uns Empfängerin der Gnade, während die evangelisch gewordene Kirche sich um 1535 nicht mehr als vermittelnder Priester, sondern (in der Figur des Täufers Johannes) allein als hinweisender Prediger versteht: Seht das Lamm Gottes (474).

Auch die katholischen Heiligen wußten jederzeit, daß kein äußerlicher Betrieb uns rechtfertigt, sondern allein der herzliche Glaube. Die Ausstellung zeigt jedoch, wie wenig diese - dogmatisch nie zweifelhafte - kirchliche Wahrheit dem heilsdurstigen gemeinen Volk damals nahegebracht wurde. Vor Augen stellt man ihm die Wichtigkeit der frommen Werke bis hin zu den finanziellen. Die Ablaßtafel der Wiener Deutschordenskirche von 1513 z.B. "erweist sich als eine Art Werbemedium im neueren Sinne auch darin, daß sie vergröbert. Im Wiener Archiv des Deutschen Ordens hat sich ein Ablaß-Katalog in Urkundenform erhalten, welcher die Vorlage der ausgestellten Tafel ist. Im Gegensatz zu dieser enthält er den im Sinne der damaligen Ablaßlehre korrekten Zusatz, daß der Ablaß nur dem zugute komme, der seine Sünden bereut und gebeichtet habe." (51)

Verglichen mit solch irreführender Werbung hat die Reformation eine höhere, wahrere Volksfrömmigkeit angezielt. Wie ergreifend wirkt auf den Betrachter das Altarbild von 1584, wo die Kreuzigung in all ihrer Furchtbarkeit - auf einem herzförmigen Bild erscheint: "Der Altar, der die Menschwerdung und Opferung Christi in das gläubige Herz der Gottesliebe ‚einbildet', verkörpert im Sinne Luthers die allgemeinste Form des Gottesdienstes: den herzlichen Glauben, der wichtiger sei als Opferzeremonien. Am Altar empfängt nur derjenige wirklich das Sakrament des Leibes und des Blutes Christi, der gläubigen Herzens ist: daran erinnert dieses Altarbild." (496) Ja, ereignet sich das Dargestellte nicht in deinem Herzen, dann nützen alle Bilder und Werke dir nichts.

II. Das Lilienschwert

Wie hat Luthers Heilserleuchtung sich vorbereitet? Eines der packendsten Ausstellungsstücke ist der Abguß eines Sandsteinreliefs, das schon hundert Jahre vor Luther den Friedhof an der Wittenberger Stadtkirche schmückte. Luther muß es unzählige Male gesehen haben. Zwei Meter hoch, "wird Christus in einer Mandorla, auf dem Regenbogen sitzend, dargestellt. In seinen Händen trägt er ein Schwert, das zugleich von seinem Mund berührt wird; zur einen Seite geht dies Schwert in einen Knauf, zur anderen in eine Lilie aus." So der Katalog (146).

Die Herkunft des Symbols wird klar auf einem Grabteppich von 1450. Hier gehen Schwert und Lilie nicht in einer Linie ineinander über, sondern jeweils von Christi Mund aus leicht nach oben, das Schwert auf der Linken des Weltenrichters, wo die Bösen verdammt werden, die Lilie zu seiner Rechten, wo die Guten Gnade finden. Dies ist die undialektische, anschaulich-eindeutige Form des Symbols. Nicht um ein Lilienschwert geht es, sondern um den Gegensatz von Schwert und Lilie, die allerdings beide von Christus ausgehen. (55)

Wir werden nie wissen, was der unbekannte Bildhauer sich gedacht und wie sein Werk auf den geängstigten Mönch gewirkt hat. Dem heutigen Beobachter hilft es aber zu einer faszinierenden Einsicht. Sind das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit und die Lilie seines Erbarmens wirklich Gegensätze? Oder sind sie, wie das Kunstwerk es zu zeigen scheint (denn die Deutung des Katalogs bietet sich tatsächlich an), geheimnisvoll eins und dasselbe? Ist das Schwert gar dort, wo es am schärfsten und tödlichsten schneidet, in Wahrheit die Lilie?

Eben das ist der Inhalt von Luthers Heilserleuchtung gewesen. Gottes richtende Gerechtigkeit ist zugleich sein richtendes Erbarmen. Unser Wort "Richten" drückt beide Pole aus. Der Henker richtet den Verurteilten; der Mechaniker richtet das Fahrrad. Gott, wenn er richtet, gleicht beiden. Von mir aus bin ich dem Egoismus "verhaftet"; Gottes Richtschwert reißt diesen Kerker (der ich selber bin!) unerbittlich nieder und befreit, erlöst so mein gottgewolltes eigentliches Ich, den neuen Menschen. Nicht darauf kommt es an, was für äußere Bußwerke ich verrichte, sondern allein darauf, ob ich das radikale Gericht (über mich als Sünder) zugleich als herrliches Rechtwerden (meiner selbst in Gottes Augen) glaube. Ja, Schwert und Lilie sind nicht zweierlei, keine Widersprüche. Sondern vor dem letzten Gericht, solange wir noch in diesem Leben unterwegs sind, ist Gottes Schwert, indem es ganz innen den Panzer meiner Selbstsucht zerschneidet, eben deshalb in seiner Spitze auch die köstliche Lilie, die dem Verhafteten das Glück der Befreiung bringt.

III. Milch und Blut

Weil wir uns jetzt auf ein vielfach umstrittenes Ideenfeld begeben, ist eine Vorbemerkung angebracht. "Symbolica theologia non est argumentativa", so verkürzt Thomas von Aquin eine Lehre des Pseudo-Dionysius Areopagita : "Man muß wissen, daß die Überlieferung der Theologen eine doppelte ist: die eine unsagbar und mystisch, die andere deutlich und bekannter; die eine symbolisch und einweihend, die andere philosophisch und beweisend." [Brief 9; PG 3, 1105 D; Nachweis des Thomaszitates: J. Kuhlmann, Die Taten des einfachen Gottes, Würzburg 1968, 23] Tatsächlich läßt sich mit Bildern alles - und eben deshalb nichts - beweisen.

Der Geist des alttestamentlichen Bilderverbots verpflichtet uns mindestens insofern, als wir kein einzelnes Gottesbild derart für die Wahrheit nehmen dürfen, daß wir über ihm Gottes Unbegreiflichkeit vergäßen und zu wissen meinten, wie Gott ist. Dieses Prinzip gilt allerdings nicht nur für gemalte und gemeißelte Bilder, sondern auch für all die Vorstellungen, welche in den Wörtern, die wir von Gott aussagen, heimlich aber kräftig am Wirken sind. Wie das persische Beispiel zeigt, ist die bildlose Religion des Islam vor einem mörderischen Götzenbild keineswegs geschützt. Innere Bildlosigkeit halten höchstens einige Mystiker aus, nicht aber ganze Völker; versucht man sie doch, so wird wahrscheinlich irgendein einseitiges Bild unerkannt die Seelen beherrschen.

Darum tut die Kirche gut daran, vielerlei Glaubensbilder zu fördern: Gerade durch ihre Gegensätzlichkeit werden sie dem Sinn des Bilderverbots gerecht. Vor ihrer Vielfalt wird dem Gläubigen anschaulich bewußt, daß Gott alle unsere Bilder übersteigt. Weil die symbolische Theologie nicht argumentiert, darum suche man in den folgenden Gedanken kein strenges System. In unserer hochreflexen Kultur geht es nicht an, irgendein - überkommenes oder neu zu wagendes - Glaubensbild als die Wahrheit festzulegen. Nur wenn die verschiedensten Ausdrucksweisen einander ausbalancieren, bleibt Gottes Geheimnis bewahrt und der Glaube unideologisch frei.

Wir wenden uns wieder dem Grabbild (446) des Nürnberger Arztes zu. Muß man es durchaus als Heilstreppe verstehen: durch Maria und Christus zum Vater? Nein. Sobald wir von den Schriftbändern absehen und statt ihrer die gleiche Größe beider Figuren beachten, zwingt uns nichts, hier an eine gestufte Vermittlung zu denken. Ein tieferes Verständnis bietet sich an. Als Geschöpf, auf unserer Seite stehend, vermittelt Maria. Sie ist aber nicht nur Geschöpf, so wenig das, was Sie jetzt vor sich sehen, bloß ein Blatt Papier [hier: etwas Glas] ist. Jede Information ist nicht nur das, was sie als Materie ist, sondern weit mehr das, was sie als Zeichen für ihren Empfänger werden soll. So ist Maria nicht nur Geschöpf, sondern auch "ein großes Zeichen", und nicht nur (wie im 12. Kapitel der Apokalypse) für die Gemeinde der Glaubenden. Noch Göttlicheres bedeutet die Mutter Gottes: Sie ist auch die lebendige Ikone für Gott die Mutter. Um nicht in den Verdacht eines modischen Feminismus zu geraten, bringe ich den Schlußsatz eines Artikels von 1961: "Ist Sie wirklich unsere göttliche Mutter, dann wird Sie schon sorgen, daß Ihre Kinder, wie es sich gebührt, mit Ruhm, Preis, Dank und Anbetung zu Ihr kommen, und all dies in jener Grundmelodie in ihren Herzen klinge, die heimatlich auch noch dem Verlorensten tönt: der vertrauenden Liebe zur Mutter."

Dazu eine Anekdote. Trifft ein Yankee den anderen: Heute nacht habe ich einen Albtraum von Gott gehabt. - So, welchen denn? - Stell dir vor: Sie ist schwarz. - Die hübsche Geschichte reißt Abgründe auf. Im Ägyptischen Museum zu Berlin trägt eine etwa handhohe Statuette den Betrachter plötzlich in eine längstvergangene Gefühlswelt zurück. Vor der übergroßen Göttin steht, erwachsen, der Pharao und saugt selig an ihrer Brust. Welch ein mächtiges Symbol des Urvertrauens! Doch es könnte, in seiner vorbiblischen Fremdheit, in keiner christlichen Kirche stehen. Bestimmt können wir nicht zurück zur matriarchalischen Einseitigkeit. Wir dürfen aber auch nicht der patriarchalischen Einseitigkeit verhaftet bleiben und Gott weiterhin nur als Vater uns vorstellen. Was hat ein erstarrter, geist- und muttervergessener Protestantismus einem Tilmann Moser angetan - "Gottesvergiftung", seine Selbstdiagnose stimmt.

In diesem Punkt war das Mittelalter weiser. Neben den männlichen Sohn, der dem Vater seine blutenden Wunden zeigt (und uns zur Identifikation aufruft: so radikal sollt auch ihr lieben!), gehört die Mutter, die ihrem Kind (und in ihm auch uns) liebend die Brust reicht: Hab keine Angst, es ist - trotz allem - alles gut. Beide Figuren sind Symbole der einen göttlichen Gnade, die schenkt und fordert, auch das Geforderte schenkt und das Geschenk anzunehmen fordert.

Jemand könnte sich daran stören, wie hier der Mutter die schenkende und dem Vater die fordernde Liebe zugeordnet wird - mag sein, er hat es in seiner Kindheit eher umgekehrt erlebt. Doch selbst wenn zuweilen real der Vater mütterlich und die Mutter väterlich sich verhält, so sind diese symbolischen Kategorien doch nicht sinnlos; sowohl biologisch wie gesellschaftlich ist jener Gegensatz hinreichend begründet, der seit Erich Fromms "Kunst des Liebens" dem Zeitbewußtsein zunehmend selbstverständlicher wird.

Jene extreme Eskalation der Schrecken freilich, wo der allmächtige Richter noch fürchterlicher erscheint als die Hölle, ist zwar psychologisch durchaus verständlich, hat aber mit dem Evangelium nichts zu tun. Bis 1969 fand sich im Bamberger Diözesan- Gesangbuch (S. 601) das "Gebet zur Mutter Gottes von der immerwährenden Hilfe". Darin heißt es, und so haben Katholiken Jahrhunderte hindurch gebetet (auch wegen der 500 Tage Ablaß): "Denn wenn du mir beistehst, fürchte ich nichts; es erschrecken mich nicht meine Sünden, weil du mir Verzeihung derselben erlangen wirst; ich fürchte nicht die höllischen Geister, weil du mächtiger bist als die ganze Hölle; ja ich fürchte selbst meinen Richter Jesus Christus nicht, weil eine einzige Fürbitte, welche du für mich einlegst, ihn versöhnen wird." - Daß andererseits das evangelische Motiv des Schutzmantel-Christus (477) "trotz seiner Evidenz keine Nachfolge gefunden" hat, erstaunt nicht. Kein uralter Antrieb drängt jemanden, sich in einen männlichen Schoß zurückzuflüchten.

Die Spannung von Blut und Milch entspricht der von Schwert und Lilie. Das Weiß steht für das Heil als Geschenk, das Rot für das Heil als unsere willig mitmachende Leidenstat. Weil das Nein zum Egoismus zugleich das Ja des wahren Lebens ist, deshalb sind beide Heilsaspekte an sich eins. Für uns aber fallen sie auseinander. Milch/Lilie allein liefe auf die Illusion der "billigen Gnade" hinaus; das blutige Schwert allein wird irgendwann nicht mehr als Liebe verstanden, sondern verkehrt sich zum Zeichen eines teuflisch-sadistischen Mördergötzen. Nur zusammen bedeuten die liebequellende Mutter und der bis aufs Blut meine Gegenliebe fordernde Vater die Wahrheit unseres Heils. Unmenschliche Bosheit muß der Vater verdammen. Menschliche Schwäche verzeiht die Mutter. Gibt es da etwa gar keine Grenze? Träfe uns am Ende nicht Schwert oder Lilie, sondern nur das eine Lilienschwert? Einkalkulieren dürfen wir das nicht - hoffen schon.

Martin Luther selbst, katholisch aufgewachsen, hat im Ernst des für ihn vergossenen Blutes zugleich die unbedingt schenkende Gnade glauben können. Als sein geschichtliches Werk voller Tränen, Schweiß und blutiger Angst getan ist und er den letzten uns erhaltenen Brief an seine Frau schreibt - wenige Tage darauf ist er gestorben - stellt er ihr nicht Christi Blut vor Augen, sondern Mariens Milch! Viele sterbende Soldaten haben nach ihrer Mutter gerufen. Ijob deutet an, daß die nachgeschichtliche große Einheit der vorgeschichtlichen Geborgenheit entspricht: "Nackt bin ich kommen aus meiner Mutter Leib, und nackt kehr ich dorthin zurück." So identifiziert der todkranke Luther sich mit dem selig saugenden Jesuskind: "Las mich zu frieden mit deiner Sorge, Ich hab einen bessern Sorger, denn du und alle Engel sind, der ligt ynn der krippen und henget an einer Jungfrawen Zitzen, Aber sitzet gleich wol Zur rechten hand Gottes des allmechtigen Vaters, Darumb sey zu frieden, Amen." (601)

Die kommende Zeit der Kirche wird hoffentlich weder matriarchalisch noch patriarchalisch sein, sondern die polare Gleichberechtigung verwirklichen, bis in die Strukturen und bis ins Denken und Fühlen hinein. Maria als von Gott = Göttin selbst uns geschenktes Bild der wahren Göttin Liebe wird im künftigen Erlösungsrahmen nicht fehlen dürfen; ebensowenig jene jüdische Frau Mirjam, die überhaupt nicht "göttlich", dafür aber wunderbar menschlich war - hätte sie sonst dem Gottmenschen sein Urvertrauen prägen können? Die Spannung gegensätzlicher Marienbilder ist dem Rosenkranzbeter längst vertraut.

So also scheint Erich Fromms Unterscheidung von mütterlich-unbedingter und väterlich-bedingter Liebe mir auf die Wirklichkeit Im Ganzen anzuwenden: Die ewige Zartheit ist unbedingt, setzt nichts voraus, sondern schenkt alles. Innergöttlich kennzeichnet sie die Heilige Ruach, die belebend sprühende "Gischt", das Pneuma, das wir Geist Gottes nennen.

[Hinweis für Dogmatiker: Mutterliebe ist ein streng notionales Proprium der dritten Person, die eben nur für unsere Zählung die dritte ist, in Wirklichkeit geht der "Sohn der Liebe" des Vaters (Kol 1,13; meist falsch glättend übersetzt) der notionalen Liebeseinheit nicht nur voraus (sofern sie auch Gegenliebe ist; Wahrheit des Filioque), sondern auch schon aus ihrem Mutterschoß hervor, deshalb kam der Hl. Geist über Maria, auch sie zur Mutter zu machen. Gegen solche "notionale Interdependenz" ist nichts einzuwenden; Zeugung und Hauchung sind nicht spezifische Weisen eines univoken Genus "Hervorgang", sondern total verschieden, zudem darf man in Gott kein Früher oder Später ansetzen (Thomas, S. Th. I q42 a3 ad 3). Filius a Patre Spirituque - diese bisher noch schlummernde Glaubenswahrheit erklärt und rechtfertigt das Zögern der Ostkirche vor dem Filioque. Nur als Gegenliebe des Sohnes geht der Geist von ihm aus, nicht aber, insofern umgekehrt der Sohn von der Liebe des Vaters ausgeht. Beide Lieben als göttlich einfache Lebensfreude: das ist die "dritte" Person der Trinität.] Dieser mütterlichen Gottheit menschliches Bild ist Maria, die Mutter Gottes. Obwohl Geschöpf, bedeutet sie die ungeschaffene, unbedingte Liebe.

Auf der anderen Seite steht, ebenso wahr, die fordernde Liebe Gottes des Vaters. Insofern sie sich an unser Herz richtet, dessen Einverständnis braucht, muß sie in Fromms Sinne bedingt heißen: wenn wir nicht mittun, erreicht sie nicht ihr Ziel. Freilich geht diese Bedingung uns unbedingt an: wenn wir Gottes Willen widerstehen, wird unser Leben sinn- und heillos. Auch dieses Jahrhundert kennt erschütternde Beispiele, wie blutig ernst Gottes Wille einen Menschen scheinbar zerbrechen kann.

Weil wir beide Weisen der Liebe im einen Gott selber finden, deshalb hat Luther recht, der jede geschöpfliche Vermittlung ablehnt. Weil beide aber für unser sinnlich geprägtes Bewußtsein unrückführbar gegensätzlich sind, deshalb tut die katholische Kirche gut daran, sie weiterhin in den beiden Bildern Blut und Milch zu symbolisieren. Wie die Konfessionsgeschichte zeigt, haben beide Vorstellungen ihre Gefahren. Auf protestantischer Seite, wo die Selbigkeit des zwiefach liebenden Gottes herausgestellt wird, geht leicht - je nach der Gefühlslage des Einzelnen - entweder die Strenge oder die Gnade verloren. Bei den Katholiken vergißt man oft die unvermittelte Göttlichkeit der Gnade.

Ein Gang durch die Luther-Ausstellung hilft zu heilsamer Balance. Keine Seite darf isoliert, für sich allein verabsolutiert werden. Den einen Gott in gütige Mutter und strengen Vater auseinanderzureißen wäre ein lächerlicher Rückfall in homerischen Götterzank. Gott deshalb, weil er unendlich einer ist, nur als Vater zu ehren, geht aber auch nicht länger an. Mir scheint: Die meisten Christen sind keineswegs so verbohrt-simpel, daß sie auf einem spannungslosen, im Grunde kitschigen Gottesbild bestünden. Mit Spannungen zu leben, das haben sie gelernt, von der Steckdose bis zum Abenteuer von Freundschaft und Ehe. Könnten die Verantwortlichen sich endlich entschließen, die Glaubensinhalte als göttliches Kunstwerk aus lauter in sich gespannten Stereo-Wahrheiten zu eröffnen - die "einfachen Gläubigen" hätten nichts dagegen, daß Gottes Einfachheit uns stets als lebendige Polarität erscheint. Im Grunde wissen sie es längst.

IV. Kelch und Herz

Zum Schluß greifen wir nochmals die Frage der kirchlichen Heilsvermittlung auf. Weltlich verstanden - als bräuchte man, wie überall, halt auch im Gottesreich gute Beziehungen - hat Luther sie mit Recht verneint. Der Weg zu Gott führt durch kein Vorzimmer. Doch kann sie auch geistlich gemeint sein. Strömt das erlösende Blut (und die stillende Milch) in den kirchlichen Kelch oder ins menschliche Herz? Auch hier sind nur beide Botschaften ineinander die Wahrheit.

Heilender Glaube vollzieht sich allein dort, wo die objektiven Heilstatsachen in einem Menschenherzen aufgenommen, subjektiv angeeignet werden. Bloß äußerliches Geschehen - sei der kirchliche Prunk noch so aufwendig, die Beachtung des Ritus noch so korrekt - macht es nicht. Was an sich ist, hat seinen Sinn einzig darin, für und in uns zu werden. Ein Kelch, der das Herz nicht füllte, wäre für dieses Herz nicht besser als Blech.

Umgekehrt unterscheidet christlicher Glaube sich von mystischem oder existentialistischem dadurch, daß er stets auf ein geschichtlich Vorgegebenes verwiesen bleibt. Jesus ist gekreuzigt worden und auferstanden - egal, wie viele daran glauben oder nicht. "Nicht ausgeklügelten Fabeln sind wir nachgelaufen" (2 Petr 1,16). Wie immer künstlerische oder abergläubische Phantasie die Hauptereignisse von Weihnachten bis Pfingsten mit Beiwerk überladen mag: der Kern des Christentums besteht aus geschichtlichem Granit. Er wird durch die objektive, greifbare Solidität der vorgegebenen Kirche gut symbolisiert. Was für unser Herz ist, verflöge uns leicht zu haltlosem Schaum, hielte der Kelch es nicht beisammen.

Um als Kirche lebensfähig zu sein, muß jede Konfession an beiden Polen dieser Spannung objektiv/subjektiv festhalten. Luther selbst war beileibe kein Subjektivist, das zeigt sein Standpunkt in der Abendmahlsfrage ebenso wie sein Poltern gegen Täufer und Spiritualisten. Anderseits sind auch die härtesten kurialen Verfechter der sichtbaren Kirche nicht bloß "Objektivisten" in dem Sinne, daß sie den subjektiven Faktor ganz leugnen, den einzelnen Gläubigen total zum Rädchen des kirchlichen Apparats entwürdigen. Um jedes Mißverständnis abzuwehren, sei zudem (umgekehrt) betont: Auch bei Katholiken gibt es die subjektivistische Versuchung, auch unter Protestanten kennt man das Stöhnen über Zwänge der Bürokratie. Hier wie dort gehören Herz und Kelch zusammen. Weder Schwärmer noch Apparatschik darf ein Christ sein; die Irrlehre der überirdischen Seelen ist ebenso unchristlich wie die Häresie des seelenlos funktionierenden Apparats.

Wo sind die Maler, die aus solchen Erinnerungen und Friedenshoffnungen neue christliche Heilsbilder schaffen?

[Veröffentlicht (redaktionell leicht verändert) in GEIST UND LEBEN 1983, S. 366-372. Ich hatte die Ehre, als Ausstellungsführer sogar protestantische Pfarrergruppen durch die Säle zu begleiten. "Wundern Sie sich nicht," sagte ich einmal zu ihnen, "daß ein katholischer Theologe Sie durch die Luther-Ausstellung führt. Sie haben ihn bloß studiert, ich ein bißchen nachgelebt ..."]


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