Jürgen Kuhlmann

Zweimal katholische Marienverehrung

Ein lehrreicher Gegensatz zwischen Päpsten

»Päpste« - das ist eine seltsame Mehrzahl, wo es doch je nur einen geben kann. Durch die Zeit wird solche Einzigkeit relativiert, kann aus dem Mittelpunkt der eine Pol einer Sinn-Ellipse werden. So entsteht eine bedenkenswerte Spannung zwischen unserem jetzigen deutschen Papst und seinem polnischen Vorgänger, was die katholische Marienverehrung angeht.

Papst Johannes Paul II. schreibt in seiner Selbstbiographie [Geschenk und Geheimnis (Graz Wien Köln 1997),37 f)] über seine Jugend: Daß Maria uns zu Christus führt, davon war ich bereits überzeugt, doch damals begann ich zu begreifen, daß auch Christus uns zu seiner Mutter führt. Es gab einen Augenblick, wo ich meine Verehrung für Maria irgendwie in Frage stellte, weil ich glaubte, durch ihre zu große Verbreitung würde schließlich der Vorrang der Verehrung, die Christus zukommt, gefährdet. Da. kam mir das Buch des hl. Ludwig Maria Grignion de Montfort zu Hilfe: "Traktat über die wahre Verehrung der seligen Jungfrau Maria". In diesem Buch fand ich die Antwort auf meine Ratlosigkeit. Ja, Maria bringt uns Christus näher, sie führt uns zu ihm, vorausgesetzt, daß ihr Geheimnis in Christus gelebt wird. An dem Traktat des hl. Ludwig Maria Grignion de Montfort mag sein etwas schwülstiger, barocker Stil stören, aber das Wesentliche der darin enthaltenen theologischen Wahrheiten ist unanfechtbar. Der Verfasser ist ein Theologe von Klasse. Sein mariologisches Denken wurzelt im trinitarischen Geheimnis und in der Wahrheit von der Menschwerdung des Wortes Gottes ... Damit ist die Herkunft des "Totus Tuus" erklärt. Der Ausdruck stammt vom hl. Ludwig Maria Grignion de Montfort. Es ist die Kurzformel für die vollkommenste Form der Hingabe an die Muttergottes, die so lautet: "Totus Tuus ego sum et omnia mea Tua sunt. Accipio Te in mea omnia. Praebe mihi cor Tuum, Maria."

[Im Internet findet sich, anscheinend aus seiner Feder, auch dieser ausführlichere Bericht:]

Die Lektüre dieses Buches hat in meinem Leben eine entscheidende Wende markiert. Ich sage Wende, obwohl es sich um einen langen, inneren Weg handelt, der mit meiner heimlichen Vorbereitung auf das Priestertum zusammengefallen ist. Damals fiel mir diese einzigartige Schrift in die Hände. Ich erinnere mich, daß ich es lange Zeit mit mir umhergetragen habe, selbst in der Sodafabrik, so daß sein schöner Umschlag mit Kalk beschmiert worden ist. Ich kam immer wieder auf bestimmte Stellen zurück. Ich habe sehr bald gemerkt, daß hinter der barocken Form des Buches etwas Grundlegendes verborgen war. Es hat die Frömmigkeit meiner Kindheit und auch meiner Jugendzeit gegenüber der Mutter Christi verdrängt und ihr eine neue Einstellung gegeben, eine Verehrung, die aus der Tiefe meines Glaubens kam, wie aus dem Herzen der dreifaltigen und christologischen Wirklichkeit selbst.

Wenn ich früher befürchtete, daß die Marienverehrung den Zugang zu Christus versperrt, statt den Weg zu ebnen, verstand ich durch diese Schrift von Grignion de Montfort, daß es sich in Wahrheit ganz anders verhielt! Unsere innere Beziehung zur Mutter Gottes kommt organisch aus unserer Beziehung zum Geheimnis Christi. Es stimmt also NICHT, daß das eine uns hindert, das andere zu sehen. Ganz im Gegenteil: Die wahre Verehrung der Jungfrau Maria entfaltet sich mehr und mehr hin zum Geheimnis Christi, dem inkarnierten Logos, zum Heilsgeheimnis der Dreifaltigkeit, in welchem dieses Geheimnis den Mittelpunkt darstellt. Man kann sogar sagen, daß Christus demjenigen, der sich bemüht, ihn kennen und lieben zu lernen, seine Mutter anvertraut, wie er es auf dem Kalvarienberg für seinen Jünger Johannes getan hat.

Die "vollkommene Marienverehrung" - so drückt sich Grignion de Montfort aus -, das heißt die wahre Erkenntnis Marias und die vertrauensvolle Hinwendung an sie wachsen mit unserer Kenntnis und unserer vertrauensvollen Hingabe an Christus. Je mehr sich mein inneres Leben auf die Wirklichkeit der Erlösung ausgerichtet hat, um so mehr ist mir die Hingabe an Maria - im Geist des heiligen Ludwig M. Grignion de Montfort - als der beste Weg erschienen, um wirksam und mit Gewinn an dieser Wirklichkeit teilzunehmen, um daraus zu schöpfen und mit anderen die unaussprechlichen Reichtümer zu teilen.

Meine marianische Frömmigkeit - ich gebe Ihnen heute nur einen kurzen Einblick - wurde so geprägt und ist seit damals in mir lebendig. Sie gehört fest zu meinem inneren Leben und meiner geistlichen Theologie. Ich muß hinzufügen, daß meine persönliche und innere geistliche Beziehung zur Mutter Christi seit meiner Jugendzeit auf die große Strömung der Marienverehrung zurückgeht, die ihre Geschichte und ihre zahlreichen Nebenströmungen in Polen hat. - Soweit Johannes Paul II.

Anderthalb Jahre vor seinem Tod zitiert er in einem Brief an die Ordensgemeinschaft, die aus dem zunächst scheinbar vergessenen Impuls des Verfassers Grignion de Montfort erwachsen ist, fast dreihundert Jahre nach dessen Tod und 160 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches aus diesem auch die folgenden zentralen Sätze: »Maria ist ganz auf Gott bezogen und ich möchte sie treffend die Beziehung Gottes nennen, die nur durch Bezug auf Gott ist, oder Gottes Echo, das nur Gott sagt und wiedergibt. Wenn Sie Maria sagen, sagt sie Gott. Die heilige Elisabeth pries Maria und nannte sie selig, weil sie geglaubt hatte; Maria, Gottes treues Echo, stimmte an: Magnificat anima mea Dominum: Hoch erhebt meine Seele den Herrn. Was Maria bei dieser Gelegenheit getan hat, das tut sie alle Tage. Wenn man sie lobt, sie liebt, sie ehrt oder ihr gibt, wird Gott gelobt, Gott geliebt, Gott geehrt, gibt man Gott durch Maria und in Maria.« [http://www.montfort.org/French/Lettre160.htm - Original: "Vous ne pensez jamais à Marie, que Marie, en votre place, ne pense à Dieu ; vous ne louez ni n'honorez jamais Marie, que Marie avec vous ne loue et n'honore Dieu. Marie est toute relative à Dieu, et je l'appellerais fort bien la relation de Dieu, qui n'est que par rapport à Dieu, ou l'écho de Dieu, qui ne dit et ne répète que Dieu. Si vous dites Marie, elle dit Dieu. Sainte Élisabeth loua Marie et l'appela bienheureuse de ce qu'elle avait cru ; Marie, l'écho fidèle de Dieu, entonna: Magnificat anima mea Dominum : Mon âme glorifie le Seigneur. Ce que Marie a fait en cette occasion, elle le fait tous les jours ; quand on la loue, on l'aime, on l'honore ou on lui donne, Dieu est loué, Dieu est aimé, Dieu est honoré, on donne à Dieu par Marie et en Marie" (Traité de la vraie dévotion, 225)].

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Deutlich anders klingt, wie Joseph Ratzinger [Ergebnisse und Probleme der dritten Konzilsperiode, Köln 1965, 28-31] das Konzil lobt: "Es war intentional ohne jeden Zweifel ein ökumenisches Votum, als das Konzil sich im vorigen Herbst entschloß, das Marien-Schema als Kapitel in die Lehre von der Kirche einzubauen. Damit sollte nicht nur die Proportion unter den Texten gewahrt werden, in der Mariologie als Teil, nicht als selbständiges Ganzes neben andern selbständigen Einheiten erscheinen sollte. Damit war vielmehr auch eine gewisse inhaltliche Tendenz gegeben: Maria als Glied der Kirche zu sehen, die nicht wie Christus uns gegenüber steht, sondern mit uns gemeinsam auf unserer Seite vor dem Herrn ihren Platz hat als Darstellung der gläubigen Existenz des Christen in der Welt.

In dem Text, der daraufhin verfaßt wurde und an die Stelle des alten Entwurfs getreten ist, ist die deduktiv-aprioristische Mariologie weitgehend - wenn auch nicht vollständig - durch eine positiv-biblische abgelöst. Es wird nicht mehr spekuliert, sondern den Gegebenheiten der Heilsgeschichte nachgefragt und diese in das Verstehen des Glaubens erhoben. Der Begriff 'Miterlöserin’ fehlt, ebenso der Begriff 'Mittlerin aller Gnaden’, von dem nur noch ein Rudiment vorhanden ist, wenn gesagt wird, es habe sich in der Kirche die Gewohnheit herausgebildet, Maria neben anderen Titeln auch unter demjenigen einer Mittlerin anzurufen, was ohne Zweifel etwas anderes bedeutet, als zu sagen, sie sei die Mittlerin aller Gnaden.

Alles dies muß man meines Erachtens bedenken, wenn man die Diskussion richtig würdigen will, die vom 16. bis 18. September über dieses Thema im Konzil stattgefunden hat. Es ist wahr, daß diese Diskussion häufig sich auf sehr mäßigem Niveau bewegte und streckenweise kaum die Ebene eines mittelmäßigen Erbauungsbuches erreichte. Der heilige Joseph und der Rosenkranz, die Marienweihe und die Herz-Mariä-Frömmigkeit, der Titel 'Mutter der Kirche’ und das Suchen nach anderen neuen Titeln bildeten beliebte Gegenstände von Reden, die zwar für die Frömmigkeit der betreffenden Bischöfe, nicht aber für ihre theologische Erleuchtung sprachen.

Aber darüber darf man doch nicht übersehen, daß Stimmen zu Worte kamen, auf die man jahrzehntelang vergeblich gewartet hatte. Ich erinnere an die bedeutsame Rede von Kardinal Léger, der gegen die marianischen Hyperbeln zu Felde zog und sich gegen den Titel 'Mittlerin’ auch in seiner verdünnten Form wandte. Selbst wenn er richtig gedeutet werden könne, im täglichen Gebrauch und von seinem christologischen Kontext abgesondert, müsse er zu Mißverständnissen führen. Weiter verlangte er, daß der Text klare Hilfen gegen die Mißbräuche der Marienverehrung bieten müsse. Ich erinnere ferner an die Rede von Kardinal Bea, der sich gleichfalls mit großer Eindringlichkeit, obgleich selbst marianischer Frömmigkeit stark verbunden, gegen den Titel Mittlerin wandte, und einige bisher unangefochtene, von höchster Seite zur Begründung der Mariologie unkritisch verwendete Schriftstellen in ihrer exegetischen Fragwürdigkeit aufdeckte. Ich erinnere vor allem an die wichtige Rede von Kardinal Alfrink, der die innere Unangemessenheit aufdeckte, die in der üblichen Gegenüberstellung von Maximalisten und Minimalisten liegt, und das theologisch Schiefe herausstellte, das in diesen bislang unangefochtenen Kategorien steckt. Damit ergab sich zugleich die Herausarbeitung des Unterschieds der Ebenen, der zwischen Devotion und Doktrin besteht und von da aus wiederum eine entschiedene Kritik des Titels Mittlerin.

Geben wir uns keinem Mißverständnis hin: Sinn der konziliaren Bemühung konnte es selbstverständlich nicht sein, langsam aber sicher die Marienfrömmigkeit als solche zu demontieren und auf diese Weise gleichsam sich dem Protestantismus allmählich zu assimilieren. Wohl aber mußte das Ziel sein, sich einer schriftvergessenen Spekulationstheologie unter dem Anruf des Fragens der getrennten Brüder zu entziehen und sich nüchtern und entschlossen auf den Boden des biblischen Zeugnisses zu stellen. Nur wer weiß, wie selbstverständlich Titel wie Mittlerin und Miterlöserin unter dem Schutz päpstlicher Lehräußerungen in der Theologie schon geworden waren, wie völlig jeder Widerspruch verstummt war, wird das Gewicht dieser Vorgänge recht einschätzen können. Die Debatte, vor der die ökumenisch denkenden Theologen Angst empfunden hatten, darf rückschauend trotz ihrer Schwächen als heilsam und notwendig bezeichnet werden. Nur so konnten solche Stimmen, zu denen sich übrigens auch diejenige des Kardinals Silva von Santiago de Chile gesellte, laut werden und damit eine Wende in der Mariologie einleiten, die von größter Bedeutung werden kann. Wer um die wirkliche Situation der Theologie vor dem Konzil weiß und um die Schwere der Fragen, die hier stehen, wird nur mit großem Dank auf diese zeitweise öde Debatte zurückblicken können."

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Beide Päpste begrüßen als junge Menschen eine »Wende«, in welch verschiedenem Sinn jedoch! Der Arbeiter-Student im besetzten Krakau findet aus einer kindlichen Vorstellung, wo Christus und Maria nebeneinander stehen, sich gar Konkurrenz machen, mit Grignions Hilfe zur tiefen Einsicht in das innigst eine relationale Zueinander des Schöpfers und seiner reinen Schöpfung, in der ER Mensch wird, damit auch sie in Gott lebe. Der deutsche Konzilstheologe hilft mit, daß die katholische Kirchenversammlung den Kontakt zum unspekulativ-nüchternen Marienverständnis evangelischer Christen wiederfinde. »Das Evangelium kann nicht schön werden, die schöne Maria werde denn häßlich,« hatte Martin Luther 1523 wider eine ausartende Wallfahrt an den Rat zu Regensburg geschrieben, zu Recht auch er.

Alles Große ist einfach: mono agieren - stereo vernehmen. Die Notwendigkeit, sich je einem bestimmten Instrument zu widmen, befreit dich nicht davon, immer auf die ganze Symphonie zu hören. Und umgekehrt!

3. Dezember 2007

Hierzu passen Gedanken zum Fest des 8. Dezember


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