|
»Sie meinen also, daß der Weg das Ziel ist?« fragt die junge Frau.Ich stocke. Meine ich das wirklich? Freue ich mich
nicht auf das strahlende Ziel nach allen Wegen, daheim, in patria, nicht bloß in via? Diese Grundunterscheidung der mittelalterlichen Glaubensdenker wische ich nicht weg. Und doch - was bin ich? Nichts als dieser
zeitliche Mensch, unterwegs vom Mutterschoß zur Bahre. Deshalb gehört der Weg wesentlich zu mir, somit auch, wenn es eines gibt, zu meinem Ziel. Was soll ich erwidern? Statt zu Worten greife ich zum
Stift und zeichne eine verworrene Linie aufs Papier, die sich vielfach überkreuzt. Schauen Sie, das ist der Weg. In jedem Moment überblicken wir nur eine winzige Strecke. Er formt sich aber allmählich zu einer Figur.
Und die, als ganze, ist zuletzt das Ziel. So ist der Weg das Ziel und trotzdem ist das Ziel mehr als der Weg, weil es auf einmal und wunderbar zugleich alles in sich faßt, was während des Weges
auseinanderlag. Das hoffen wir für jedes Einzelleben, und für uns insgesamt. Alle so verschiedenen Wege ergeben schließlich das unendlich bunte Ziel. Ähnlich, wie im Orchester alle Instrumente zuerst je einzeln üben und
sich beim Konzert zu einer
Sinfonie zusammenfinden. Das Ziel ist mehr als der Weg, denn kein Musiker, während er in seiner Kammer übt, ahnt die Pracht der Sinfonie. Und doch ist der Weg das Ziel, denn nichts anderes als das neue Ineinander aller je geübten Teilmelodien ist zuletzt das Konzert.
Um so schöner wird es, je aufmerksamer wir jetzt schon auf den Willen des
Dirigenten
achten, der uns geheimnisvoll nahe ist und mitteilt, wie (Er)[,] das Ganze[,] sich denkt. Denn - hier versagt das Konzert-Gleichnis, aber die Linien-Figur stimmt - nichts anderes ist DANN die Figur als die lebendige Summe aller Jetzt-Etappen des Weges. Scheinbar übst du erst für dich - in Wahrheit sind wir schon mitten bei der Aufführung, deren Gesamtklang uns freilich erst DANN erreicht. Und nie mehr verklingt.
Juli 1997 Nachschrift im Mai 2001, wieder von einem Gespräch angeregt:Innerhalb dieses
Gleichnisses ist es mathematisch-wörtlich wahr, daß wir »das Obere im Sinn haben« sollen (Kol 3,2): hier: die höhere Dimension. Der Weg ist eine Linie mit der Dimension eins, das banal mißverstandene Ziel wäre ihr
End-Punkt (Dimension null), das wahre Ziel ist die höhere, »himmlische« Gestalt
(Dimension zwei), zu welcher die Gesamtheit aller Weg-Etappen allmählich wird.Man stelle sich vor: a) ich wäre eine Art Dürer, dann ergäbe mein Gekritzel ein wunderschönes Gesicht, b) ich wäre ein Meister der Programmierkunst, dann entstünde dieses Gesicht jetzt langsam vor Ihren Augen auf dem Bildschirm, ähnlich wie Tag um Tag unsere wirkliche Gestalt. Zum Glück haben Sie Phantasie
genug, beide Mängel selbst auszugleichen. |