Jürgen Kuhlmann:
"Wo ist der Karton?" - "Draußen." - Was! Hast du ihn weggeworfen?" - "Ja." - "Ach je. Die alten Zeitungen solltest du fort bringen, den Karton brauchen wir noch, als Sammelgefäß, oder willst du jeden Fetzen eigens zum Container bringen?" Statt zu argumentieren, eilt die Mutter selbst hinaus und holt die stabile Schachtel zurück, vor Jahren war sie voller Bodensee-Äpfel. Vergnügt lachen Eltern, Geschwister und Ehefrau des Wegwerfers, erst spät gegen Morgen der Heiligen Nacht geht mir auf, welch tiefsinniges Kirchen-Gleichnis dem Zusammenspiel von Sohn und Mutter gelungen ist. So lässt es sich entfalten:
a) Kirche des Glaubens. Jene Äpfel haben uns damals genährt. Ihre belebende Kraft ist zwar weltlich vergangen, nicht aber das von ihr bedeutete "innere Lebensmittel": die göttliche Energie, die jeden Menschen von innen her lebendig macht. Deshalb stelle ich mir den Karton jetzt gefüllt mit stets neuen Paradies-Äpfeln vor, so steht er für das Heilsgeheimnis Kirche, an die wir Christen glauben. Es erschließt sich allein dem Blick von innen her, wie die bunte Rosette der Kathedrale nur innen sonnenhell leuchtet. Von außen scheint sie grau. Damit sind wir bei der nächsten Karton-Wahrheit.
b) Kirche in der Kritik. Auch der Karton ist Altpapier. Ihn weg zu werfen war insofern nicht falsch, erst recht, wenn er verschimmelt gewesen wäre. Auch so würde der Karton leider die Kirche bedeuten, nämlich die von vielen erfahrene Nichtswürdigkeit jener arroganten Realität, die derzeit von Zehntausenden auf den Müll ihrer Lebensgeschichte geschmissen wird. Glaube (a) und Kritik (b) haben je ihren Sinn, beide seien aber jetzt nicht weiter unser Thema.
c) Kirche als Aufräumgerät. Vielmehr ist der Karton auch ein nützliches Mittel gegen Verwahrlosung des Lebensraums. Dies ist eine auch ohne Glauben wahrnehmbare und trotz manch berechtigter Kritik notwendige Funktion der Kirche. So verdient sie weder Hingabe noch Abscheu, aber öffentliche Pflege, hilft sie doch, den Seelenhaushalt der Menschen immer wieder aufzuräumen: nach dem Selbstmord eines Torwarts, dem Tod des Prager Staatsmannes, den der Bischof vom Gefängnis her kennt, oder eben auch an Weihnachten, wenn nicht nur in der Christenheit, sondern sogar im fernen Japan die Menschen sich von der Botschaft anrühren lassen, dass der Welt Innerstes ein Menschenkind geworden und deshalb jedes Menschenkind von unverlierbar göttlicher Würde ist. Wer solches vernimmt und in sich wirken lässt, wird davon – auch wenn er es (vielleicht wegen der kirchlichen Untaten) nicht als buchstäblich wahr glauben kann – doch bei der Aufgabe unterstützt, unseren gemeinsamen Lebensraum immer wieder von Störendem zu säubern, so dass er zum Ort von Liebe und Hoffnung wird.
Ähnlich wie der wegwerf-lustige Sohn, als die Mutter den Karton zurück brachte, ins Lachen der Familie zuletzt herzlich einstimmte, wird ein vernünftiger Heide sich gegen die Weihnachtsstimmung nicht wehren, sie lieber dazu nutzen, auf seine andere Weise gleichfalls an den menschlichen Sinn des Ganzen zu glauben.
So tue denn unser gewohnter Karton weiter seinen Dienst, erinnere meinen Glauben an belebende Äpfel, zeige sich dem kritischen Sinn als auch bloß Altpapier und helfe dem Gemeinwesen zu heller Ordnung.
Weihnachten 2011
[Die drei Sichten a/b/c verbinden zu einem Gefüge die je zwei Spannungspole
Glaubenskirche/Volkskirche von 1968 (a/c) und
Glaube/Kritik von 1990 und 2000. (a/b; die Polarität katholisch/evangelisch ist in beiden Richtungen zu lesen, je nach dem persönlichen Glauben des Nachdenkenden! Jeder Glaube kritisiert die Fehler der Gegen-Meinung und warnt vor deren Gefahren.)]
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Siehe auch des Verfassers alten Predigtkorb von 1996 an
und seine kat-holische Theorie-Baustelle
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